Realutopie Kollektive Sicherheit

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Eine geistige Erneuerung im Sinne einer ethnische und religiöse Barrieren überwindenden Weltethik könnte Wege zu einer gewaltfreien Politik und Wirtschaft aufzeigen. Das friedensgefährdende Prinzip nationaler Souveränität müßte einem System kollektiver Sicherheit Platz machen.

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Eine geistige Erneuerung im Sinne einer ethnische und religiöse Barrieren überwindenden Weltethik könnte Wege zu einer gewaltfreien Politik und Wirtschaft aufzeigen. Das friedensgefährdende Prinzip nationaler Souveränität müßte einem System kollektiver Sicherheit Platz machen.

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Die beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts - der Erste Weltkrieg mit rund zehn Millionen Toten und der Zweite Weltkrieg mit 55 Millionen Toten - sind seit fünf Jahrzehnten nur mehr Geschichte. Und der "möglich gewesene Dritte Weltkrieg" zwischen Ost und West hat wie durch ein Wunder nicht stattgefunden, obwohl auf beiden Seiten bis 1989 unvorstellbare Vernichtungskapazitäten aufgehäuft worden waren. Wir sind also "noch einmal davongekommen".

Ist aber der gegenwärtige Scheinfriede eine Garantie für ein friedliches 21. Jahrhundert? Gibt es berechtigte Hoffnung, daß der Jahrtausende alte Traum der Menschheit, die Geißel des Krieges für alle Zukunft abschütteln zu können, im nächsten Jahrhundert endlich in Erfüllung geht?

Zu dieser schicksalsschweren Zukunftsfrage hat im Mai 1998 in Osnabrück (aus Anlaß des 350sten Jahrestages des Westfälischen Friedens) eine große Friedenskonferenz mit über 1.000 Teilnehmern stattgefunden. In dem zu dieser Konferenz herausgegebenen Memorandum heißt es: "Triebkräfte und Motive für Kriege sind vielfältig. Das Erkennen von Kriegsursachen und die öffentliche Auseinandersetzung damit ist Voraussetzung für die künftige Verhinderung von Kriegen. Für die gegenwärtigen Kriege und das damit verbundene Elend in anderen Teilen der Welt tragen die reichen und nur scheinbar friedlichen Industriestaaten die Hauptverantwortung. Ihr Macht- und Gewinnstreben reproduziert und verschärft immerfort die ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft, deren Gesetze von einem ungezügelten Kapitalismus bestimmt werden. Die Vertiefung des Gegensatzes zwischen armen und reichen Ländern und Regionen führt zur steigenden Gewaltbereitschaft in einer vom Haben-Wollen und Profitstreben gelenkten Welt."

Nur die wenigsten Menschen wissen, daß der Reichtum der Industriestaaten am Elend in der Dritten Welt ganz wesentlich Schuld trägt. Unsere Medien breiten über die Problematik der Armut in der Welt eine Decke diskreten Schweigens. Die meisten Menschen im "wohlstandsgefährdeten Teil" unserer heutigen Welt haben keine Ahnung davon (und wollen auch gar nichts davon wissen), daß rund zwei Drittel der Menschheit (das sind etwa vier Milliarden Menschen!) mit weniger als zwei Dollar (24 Schilling) pro Tag leben müssen und daß von diesen vier Milliarden 828 Millionen ständig unter der Hungergrenze (mit weniger als einem Dollar pro Tag) leben müssen. Demgegenüber beträgt das Pro-Kopf-Einkommen eines Durchschnittsösterreichers nicht weniger als 880 Schilling pro Tag. Das entspricht dem 37fachen Wert des Pro-Kopf-Einkommens der vorhin erwähnten vier Milliarden Menschen.

Die Gewissensfrage an uns alle müßte lauten: Können wir ernsthaft daran glauben, daß bei einer so ungerechten Verteilung des Wohlstands in der Welt ein dauerhafter Friede möglich ist?

Waren in den Kriegen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts fast nur Söldnerheere im Einsatz, so brachte Napoleon mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht eine gewaltige Änderung zustande. Von nun an wurde mehr oder weniger die ganze Gesellschaft militarisiert, denn (fast) jede Familie mußte für das Vaterland persönliche Opfer bringen: alle tauglichen männlichen Staatsbürger wurden durch ein Wehrgesetz zum Militärdienst gezwungen. Nur in den letzten Jahrzehnten haben einige wenige Länder, wie die USA und Großbritannien, die Allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. Die Begründung dafür lautet: wegen der hochentwickelten Kriegstechnik sind Massenheere nicht mehr erforderlich.

Was liegt aber dem vermeintlichen Zwang zur Militarisierung der Gesellschaft zugrunde? Es ist vor allem die tiefverwurzelte Idealisierung des Nationalstaates. Wir alle leben unter der im Grund genommen verrückten Zwangsvorstellung, daß für dieses "Ideal" Leben und Besitz der Staatsbürger geopfert werden müssen.

Infolge der weitverbreiteten Kriegsparanoia werden in der ganzen Welt riesige finanzielle Mittel zur Aufrechterhaltung ständiger Kriegsbereitschaft eingesetzt. Wie zur Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg werden überall in der Welt durch Waffenhandel die gewinnträchtigsten Geschäfte gemacht. Dabei sind es nicht die großen und teuren Waffensysteme, sondern die billigsten Handfeuerwaffen, die weltweit zum größten Blutvergießen führen. Weltweit hat es 1997 25 größere bewaffnete Konflikte gegeben. Darunter gab es nur einen einzigen "richtigen Krieg" zwischen zwei Ländern - Indien und Pakistan. Die übrigen bewaffneten Konflikte waren Bürgerkriege, vorwiegend mit Handfeuerwaffen geführt!

Die weltweiten Ausgaben für militärische Rüstung sind gigantisch. Aufgrund des neuesten Jahrbuches des angesehenen schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI betrugen die Rüstungsausgaben der ganzen Welt 1997 rund 740 Milliarden US-Dollar. Dabei sind die Militärausgaben der Nachfolgestaaten der Sowjetunion innerhalb der letzten zehn Jahre um mehr als 90 Prozent zurückgegangen. Gab die Sowjetunion noch 1987 - am Höhepunkt des Kalten Krieges und des gegenseitigen "Sich-Tot-Rüstens" - 257 Milliarden Dollar für militärische Zwecke aus, so betragen die Militärausgaben des heutigen Rußland nur mehr 24 Milliarden Dollar.

Angesichts der weite Teile der Welt dominierenden Hochrüstung stellt sich die Frage nach geschichtlichen Parallelen. Unbestritten ist, daß eine der ganz wesentlichen Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die hohe militärische Rüstung sämtlicher kriegsführenden Staaten schon lange vor dem Kriegsausbruch war. Die Schüsse von Sarajevo waren letztlich nur der auslösende Funke.

Ziemlich ähnlich ist die Situation der latenten Kriegsbereitschaft in der heutigen Welt: Die beiden Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt waren bis 1989 (dem Ende des Kalten Krieges) mit den modernsten Waffen ihrer Zeit für einen möglichen Dritten Weltkrieg - der wahrscheinlich die ganze zivilisierte Welt fast total vernichtet hätte - bis an die Zähne gerüstet.

Die seinerzeitige Vormachtstellung der Sowjetunion bezüglich konventioneller Waffen ist im heutigen Rußland nicht mehr vorhanden. Dagegen sind aber sämtliche Atomwaffen der Sowjetunion in den Besitz der russischen Föderation übergegangen. Anders verhält es sich mit der hochtechnologisierten konventionellen Bewaffnung der USA und der NATO-Staaten. Deren Bewaffnung wird laufend modernisiert, wenn sich auch der Stand der atomaren Bewaffnung seit 1989 wahrscheinlich nicht nennenswert verändert hat. Daß sowohl die USA (samt NATO) wie Rußland heute dezidiert an der atomaren Erstschlagdoktrin festhalten, ist für die Zukunft der Menschheit kein gutes Omen.

Schon seit Jahren gibt es einen Vertrag über die Reduktion der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE), dessen Ziel es ist, sogenannte "überschüssige militärische Ausrüstung" (die nur für Überraschungsangriffe und Großoffensiven notwendig ist) zu reduzieren, Von größerer Bedeutung sind aber die Verhandlungen über atomare Abrüstung.

Die Gesamtzahl aller atomaren Sprengköpfe auf der Welt beträgt rund 36.000. Sollten die Abrüstungsverträge für Nuklearwaffen,START I und START II, ohne Verzögerungen erfüllt werden, würde sich die obengenannte Gesamtzahl der Atomsprengköpfe bis zum Jahr 2007 auf 23.000 reduzieren. Noch immer genug, um die ganze Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt der Erde zu vernichten! Leider sind die Chancen zur Realisierung des START II-Vertrages sehr gering, weil sich die russische Duma bis dato weigert, den (von den USA schon 1996 ratifizierten) Vertrag anzuerkennen. Die Gründe dafür sind, daß laut diesem Vertrag zwar sämtliche russischen und amerikanischen landgestützten Interkontinentalraketen von der Reduktion betroffen wären, nicht jedoch die für die USA strategisch entscheidenden U-Boot-gestützten Trident-Raketen. Dazu kommt die Sorge Rußlands wegen der geplanten NATO-Osterweiterung.

Der ehemalige Direktor von SIPRI, Frank Barnaby, warnte beim Friedenskongreß in Osnabrück vor der zunehmenden Gefahr, daß trotz Atomsperrvertrags irgendein Land heimlich Atomwaffen erwirbt. Und für ihn ist "die wichtigste und schwierigste Frage, ob Atomwaffen überhaupt jemals in einer Welt von souveränen Nationalstaaten abgeschafft werden können". Er beendete sein Referat mit der niederschmetternden Feststellung: "Man ist geneigt, den Schluß zu ziehen, daß die Situation heute genauso schlimm ist wie zu Zeiten des Kalten Krieges."

Das heißt, die Alarmglocken müssen überall zu schrillen beginnen, wo es Krisenherde gibt. Nichts dürfte mehr der reinen Machtpolitik überlassen bleiben. Die Ordnungsmacht der Vereinten Nationen muß an die Stelle der "Politik der Stärke" treten.

Eine geistige Erneuerung im Sinne einer ethnische und religiöse Barrieren überwindenden Weltethik könnte Wege zu einer gewaltfreien Politik und Wirtschaft aufzeigen. Und es könnte politischer Druck entstehen, das friedensgefährdende Prinzip nationaler Souveränität zugunsten eines Systems kollektiver Sicherheit abzuschaffen.

Der Autor ist Quäker und Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes (Österreichischer Zweig).

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