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Segelfliegereuphorie ?

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Die Positionen im strategischen Kräftefeld sind nur von langer Hand zu ändern. Trotzdem erwartet der Beobachter der militärischen Potentiale stets mit großem Interesse die Bilanz der internationalen Rüstungspolitik. Für ihn endet das jeweilige Rechnungsjahr in den Septembertagen, wenn — seit nunmehr fünfzehn Jahren — das Londoner Institut für Strategische Studien seinen Jahresbericht vorlegt. Wohl in der Absicht, eine gewisse Warnfunktion zu erfüllen, nennen die Londoner Experten ihre Schrift: The Military Balance. Für ihre Arbeit steht das Bemühen im Vordergrund, rechtzeitig einen Gleichgewichtsverlust auf dem Feld der nuklearen und konventionellen Rüstung aufzuzeigen.

In diesem Jahre hatten Meldungen über ein Gleichziehen der Sowjets in der Technik der nuklearen Mehrfachsprengköpfe der Expertenschrift ein gesteigertes Interesse beschert. War doch die Tatsache, daß die MIRV-Fähigkeit amerikanischer Interkontinentalraketen nur noch höchstens zwei Jahre das Gleichgewicht auf dem Gebiet der strategischen Waffen garantieren würde, höchst unterschiedlich interpretiert worden. So hatte US-Verteidigungsminister Schlesinger die sowjetischen Fortschritte als eine Verschlechterung der Chancen, zu einer neuen SALT-Vereinbarung zu kommen, gewertet. Sicherheitsberater Kissinger, zum Zeitpunkt dieser Nachricht noch nicht Ministerkollege Schlesingers, wollte in der Tatsache, daß die Sowjets gleichgezogen hätten, erst die Möglichkeiten für reelle Aussichten der zweiten SALT-Runde in Genf sehen. Läßt man diesen Disput zweier Männer aus unterschiedlichen Denkschulen, Schlesinger der eher konservativen Rand-Corporation entstammend, Kissinger aus der liberalen Harvard-Universität kommend, beiseite, bleibt dennoch die Feststellung, daß der Rüstungswettlauf zwischen Amerika und Rußland keineswegs nachgelassen hat. Er ist, schon durch die rüstungstechnischen Beschränkungen, die sich die beiden Supermächte auferlegt haben, differenzierter geworden. Diese Jahresbilanz läßt jedoch alle Hoffnungen schwinden, daß nach den evidenten atmosphärischen Verbesserungen in der internationalen Politik die direkte Konfrontation der beiden Machtgiganten nachlassen könnte.

Die auf Entspannung programmierte Öffentlichkeit bleibt ob dieser Tatsachen ratlos zurück. Ihr müßte die Diskrepanz zwischen verbalen Abrüstungsbeteuerungen und steigenden Raketenzahlen doch zu denken geben. Aber selbst in den europäischen Staatskanzleien droht das abstrakte Bild des atomaren Schirmes, der die internationale Sicherheit garantieren soll, eher Unsicherheit hervorzurufen. Ein wenig erfreulicher Umstand, angesichts der herbstlichen Konferenzauftakte. Bei

SALT II spielt ja Europa nur die Rolle eines stillen Teilhabers, insofern, als die Sowjetunion neuerlich versuchen wird, das europäische Nuklearpotential den USA anzurechnen. Dies würde allerdings der französischen Atommacht viel von von ihrer Eigenständigkeit als Abschrek-kungsgefahr nehmen. Es könnte der Eindruck entstehen, daß der Kreml nur einen westlichen Atomverbund anerkennt und respektiert. In der Tat ist die französische Nuklearstreitmacht ohne das Frühwarnsystem der NATO als blindes Reptil einzustufen.

Ein weit größeres Gewicht kommt den Zahlen zu, die das Londoner Institut zum konventionellen Rüstungsvergleich in Europa anzubieten hat. Denn selten war die „.Feindlage“ der NATO ' so verworren wie gegenwärtig. Waren doch im heurigen Frühjahr, mitten in die Bestrebungen der politischen wie militärischen Köpfe im Brüsseler Hauptquartier der Allianz, die Mitglieder zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber den rüstungstechnischen Bestrebungen des Ostblocks aufzurufen, Zweifel an der Notwendigkeit dieses Appells aufgetaucht. Hatte damals eine ominöse Pentagon-Studie den Europäern verheißen, sie seien stark genug, um sich dreißig Tage gegen eine Aggression des Warschauer Paktes halten zu können, rückt die

Londoner Schrift das Bedrohungsbild wieder zurecht.

Trotz der bereits mehrfach vorgenommenen und konstant angedrohten Verminderungen der amerikanischen Präsenz bei den Bodentruppen liegen die Gewichte hier noch einigermaßen gut verteilt. Das zahlenmäßige Übergewicht des Warschauer Paktes an Truppenstärke, Panzern und Flugzeugen hat sich, kurzfristig gemessen, kaum verschoben. Über einen längeren Zeitraum jedoch, so stellt das Institut fest, könnte eine Verschiebung der Balance eintreten. So habe im Jahre 1962 die Gesamtzahl der in Europa stationierten amerikanischen Soldaten noch 434.000 betragen, gegenwärtig seien es nur noch etwa 300.000. Im gleichen Zeitraum habe jedoch die Zahl der im osteuropäischen Raum stationierten sowjetischen Streitkräfte um 5 Divisionen, etwa 70.000 Mann, zugenommen. Am krassesten ist nach wie vor die Ungleichheit auf dem Sektor der Panzerfahrzeuge. 6400 Panzern der NATO — 400 Panzer der Franzosen nicht eingeschlossen — stehen 13.800 des Warschauer Paktes gegenüber. Die Verstärkungen der sowjetischen Divisionen in der DDR und in der CSSR, über die seit Monaten spekuliert wurde, beträgt nach Angaben des Instituts rund tausend neue Panzer, ohne daß die „alten“ in die Sowjetunion zurückgezogen worden wären. In diesem Zusammenhang weist man allerdings darauf hin, daß gegenwärtig im Westen in Erprobung stehende Panzerabwehrwaffen die östliche Überlegenheit mindern könnten.

So kommt den Londoner Experten, deren Schätzungen als seriös und vorsichtig bekannt sind, das Verdienst zu, den Eindruck, den die spektakulären Friedens- und Versöhnungsgesten des ersten Halbjahres, gesetzt in Bonn oder Washington, vermittelten, wieder an den nüchternen Zahlen messen zu können.

Ähnlich wie österreichische Sportflieger in vermehrtem Maße mit den Randerscheinungen der Entspannungsstrategie konfrontiert werden, Militärs mit den nüchternen Zahlen eines Rüstungswettlaufes, der von östlicher Seite her immer mehr den Anspruch auf reine Parität der Potentiale überschreitet, kalkulieren müssen, werden auch die westlichen Diplomaten, wie kaum zuvor, auf die Grenzen der „inneren Entspannung“ auf der Gegenseite hingewiesen. So scheint es mehr denn je vordringlich zu sein, den Begriff der Entspannung zu definieren, schon um zu verhindern, daß man die Öffentlichkeit immer mehr mit verbalen Beschwichtigungen immunisiert. Ein Erwachen könnte für alle Seiten unerfreulich sein.

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