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„Smart Bombs” auch gegen die Entspannung

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Das neue Jahr begann bereits mit Trommelschlägen: Der offensichtliche Machtkampf im Kreml, bislang Spekulationsobjekt der Sensationspresse, nimmt festere Gestalt an. Die zaghaften Schritte der Entspannungspolitik haben die Skeptiker an der Detente zur Aktion schreiten lassen. In Moskau wollen die Falken Ergebnisse einer aus Machtpositionen betriebenen Politik sehen. Aber überall tragen vorsorglich die Haushalte für das Jahr 1975 bereits den Stempel steigender Verteidigungsausgaben.

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Das neue Jahr begann bereits mit Trommelschlägen: Der offensichtliche Machtkampf im Kreml, bislang Spekulationsobjekt der Sensationspresse, nimmt festere Gestalt an. Die zaghaften Schritte der Entspannungspolitik haben die Skeptiker an der Detente zur Aktion schreiten lassen. In Moskau wollen die Falken Ergebnisse einer aus Machtpositionen betriebenen Politik sehen. Aber überall tragen vorsorglich die Haushalte für das Jahr 1975 bereits den Stempel steigender Verteidigungsausgaben.

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Ausgenommen von diesem Trend sind nur einige europäische NATO- Mitglieder. Sie wollen offenbar die verschiedenen Abrüstungsgespräche auf ihre Art beeinflussen. Vor allem Großbritannien, Italien und Dänemark versuchen, wegen Geldmangels ihre Verteidigung zu reduzieren.

Italien konnte etwa im vergangenen Herbst 60.000 Wehrpflichtige nicht mehr einziehen, weil die Staatskassen leer waren. Auch die wirtschaftlich kräftigeren Holländer und Belgier verkünden, daß sie die Rüstungslasten nicht mehr lange tragen können.

Werden die westeuropäischen Waffenarsenale, mit Ausnahme der deutschen Bundeswehr, nur noch mit offensichtlichem Widerwillen gefüllt, so will gerade das inflationsgeschwächte Amerika den Rüstungswettlauf wieder aufnehmen. So hat der erste SALT-Vertrag bereits die gleiche Dynamik freigesetzt wie etwa schon das Washingtoner Flottenabkommen des Jahres 1922: die auisgehandedten Höchst- za’hlen für schwere Schlachtschiffe schufen damals den perversen Anreiz, erst einmal bis zu diesen Plafonds aufzurüsten. Gleiches darf für die neue, in Wladiwostok geschlossene Vereinbarung prophezeit werden. Das in der pazifischen Hafenstadt grob skizzierte SALT-II-Ab- kommen (die Detailverhandhmgen sollen noch in diesem Monat be-: ginnen) trägt bereits den Keim eines neuen Rüstungsrennens.

Hatten sich die USA noch bei SALT I, gestützt auf ihren Vorsprung in der Technologie der Mehrfachsprengköpfe — kurz MIRVs genannt — zu quantitativen Konzessionen an den Kreml hinreißen lassen, vereinbarte man nur ein für beide Seiten verbindliches Limit von 2400 strategischen Waffenträgern. Wohl wurden dte Mehrfachsprengköpfe der Zahl nacW begrenzt (1320), in ihrer Art jedoch nicht fixiert.

Zieht man die Zahlen als Interpretationshilfe zu Rate, heißt dies: die Sowjetunion hat mit 2498 Waffenträgern bereits das Limit von Wladiwostok überschritten, während die Vereinigten Staaten — derzeitiger Stand 2147, ihr Trägerarsenal noch aufstocken können. Anders sieht es bei den Mehrfachsprengköpfen aus. Der sowjetische Verteidigungsminister Gretschko hat selbst zugegeben, daß die Sowjets bei den MIRV’s über das Teststadium noch nicht hinausgekommen sind, während die strategischen US-Streitkräfte bereits über 800 derartige Sprengköpfe verfügen.

Da man sich das technologische Fluchtloch offengehalten hat, arbeiten amerikanische Techniker bereits am jüngsten Produkt waffentechnischen Perfektionsstrebens. Die „dritte Generation” der Mehrfachsprengköpfe ist im Entstehen. Sie ist das atomare Gegenstück zu den sogenannten „Smart Bombs”, die bereits mit vernichtendem Erfolg in Vietnam und im Nahen Osten eingesetzt wurden.

Bei den MARV-Raketen, so heißt der neue Pfeil im atomaren Köcher der US-Strategen, können die verschiedenen Sprengköpfe auch nach der Trennung vom Raketenkopf elektronisch ins Ziel geleitet, werden. Diese Technik erlaubt es, gegnerischen Antiraketen auszuweichen und bringt eine radikal verbesserte Zidgenauigkeit.

Sie gilt als Antwort auf die Entwicklung einer sowjetischen Superrakete vom Typ SS 18, die bis zu fünf Sprengköpfe tragen kann. Ihr wird von Experten des Pentagons eine Treffsicherheit zugeschrieben, die befü|pht^n läßt, daß die in Silos verbunkęjten ““ amerikanischen Minutenmn-Raketen nicht mehr gesichert sind.

Die sowjetische Herausforderung hat eine Änderung der amerikanischen Nukleardoktrin aüsgelöst. Bei einer erhöhten Zielgenauigkeit schlägt Qualität in Quantität um. Eine konstante Zahl von Geschossen kann von nun an eine größere Zahl von Zielen vernichten. Die Abschreckungskraft wird neu gestuft, die politische Führung besitzt mehr Wahlmöglichkeiten als bisher, die die Alternative von Kapitulation oder Katastrophe ausschaltet.

US-Verteidigungsminister Schlesinger hat die atomare Waage mit neuen Gewichten beschwert; so durch den Auftrag für eine neue Atom-U-Boot- und Bombergeneration — die Trident und den B-l — und die Möglichkeit, Atomraketen von Transportflugzeugen zu starten.

Während Kissinger im nuklearen übergewicht und der damit verbundenen Bedrohung einer Seite die größte Gefahr für eine Destabilisierung und den Ausbruch eines Atomkrieges sieht, ist Schlesinger anderer Meinung. Er glaubt, daß die Fähigkeit, die strategischen Waffensysteme der Sowjetunion und Chinas bedrohen zu können, die Grundbedingung für die Stabilität ist.

Sohlesingers Theorie scheint derzeit in Washington viele Anhänger zu besitzen.

Gefahr droht der atomaren Rechnung der Supermächte, egal ob nach Kissingers, Schlesingers oder Moskaus Vorstellungen, jedoch durch die steigende Zahl der (derzeit noch) nuklearen „Habenichtse”. Als erster könnte China den Aufstieg in den Klub der wirklich^ Mägfitigen schaffen. Experten sagen für heuer die ersten Versuche mit einer chinesischen Interkontinentalrakete voraus. Während die USA noch außerhalb der Reichweite einer chinesischen A-Waffe liegen, können die Strategen in Peking bereits jetzt Moskau, den Persischen Golf, die Philippinen und Japan treffen.

Die Stabilität in Asien und im Mittleren Osten ist aber zunehmend nicht nur durch die Rivalität der beiden kommunistischen Großmächte gefährdet. Gefahr droht dem labilen Gleichgewicht dieser Regionen auch durch den unkontrollierten Griff potentieller Atommächte nach der Bombe. Nachdem im vergangenen Jahr die Hungemation Indien mit einem Beitritt in den exklusiven Atomklub überraschte, müssen auch Ägypten, Israel und dem Iran ähnliche Schritte zugetraut werden. Die jüngste Drohung Kissingers, die USA könnten eine militärische Intervention zum Schutz del Erdölversorgung ins Auge fassen, mag derartige Wünsche reifen lassen. Daran kann auch der verbale Verzieht des persischen Monarchen auf eigene strategische Atomwaffen nichts ändern.

Der Schah stützt seine Rolle als neuer Stabilitätsfaktor im Mittleren Osten derzeit stärker auf ein starkes konventionelles Waffenarsenal ab. Und er ist heute der begehrteste Kunde in den amerikanischen W af f enf abriken.

Sein offen bekundeter hemegonialer F ü h ru ngs anspruch s tößt in der arabischen Welt jedoch zunehmend auf Widerstand. Konzessionen gegenüber der PLO und den arabischen Forderungen an Israel, vom Schah in der vergangenen Woche in Kairo deponiert, bringen möglicherweise nur eine kurzfristige Entspannung. Zweifellos betreibt der persische Monarch mdt seinen militärischen Investitionen jedoch eine langfristige Sicherheitspolitik und das Ziel dürfte die Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf die asiatische Sicherheitsordnung sein.

Inzwischen scheint auch Moskau ein Auge auf die Petrodollars im Rüstungsgeschäft geworfen zu haben. Bislang waren die sowjetischen Waffenlieferungen in den Nahen Osten als Verlustgeschäft abzufouchen. Dies vor allem seit dem Zeitpunkt, da in Ägypten der politische Einfluß verloren ging. Obwohl Präsident Sadat vorerst Moskaus Druck widerstanden hat, bleibt der Kreml via Damaskus präsent. Die unberechenbare Haltung der Syrer, die glauben, durch einen neuen Waffengang nur gewinnen zu können, macht den Nahen Osten zu einem Pulverfaß.

Zysätzliche Risken sind von der noch schwer abschätzbaren Machtverschiebung im Kreml zu erwarten. Kissinger kann jedenfalls mit keiner Garantie des Entspannungskurses rechnen. Eine neuerliche Machtdemonstration sowjetischer Luftlandedivisionen, vergleichbar der letzten im Yom-Kippur-Krieg — könnte über den heißen Draht das nächste Mal nicht mehr zu stoppen sein.

Anders als Kissinger scheint wiederum Amerikas Verteidigungsminister Schlesinger die Rolle der konventionellen Streitkräfte als Instrument der Konfliktbeherrschung wiederbeleben zu wollen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die anhaltenden Rüstungsanstrengungen der Sowjets auf diesem Gebiet. Nach westlichen Schätzungen hat Mar- schall Gretschko mehr als 1000 modernster Panzer in den beiden letzten Jahren nach Mitteleuropa vorgeschoben. Nach Schlesingers Urteil haben die Russen auch versucht, mittels der Wiener Verhandlungen über einen Truppenabbau Zeit zu gewinnen, um den ungeduldigen amerikanischen Kongreß zu einseitigen Truppenminderungen in Europa zu bewegen und die westeuropäischen Allianzpartner der. Rüstungskosten überdrüssig werden zu lassen.

Mit Pressionen der gewaltigen Macht der Warschauer-Pakt- Armeen auf die verunsicherte westeuropäische Öffentlichkeit ist in künftigen Krisenzeiten zu rechnen, Schlesingers Augenmerk gilt daher . in erster Linie der deutschen Bundeswehr, der einzigen Bündnisarmee, der das Zeugnis ausgestellt wurde, ihr Kampfwert habe sich auch 1974 durch qualitative Verbesserungen bedeutend erhöht. Gerühmt wird vor allem die Qualität der .Panzer- und Tiefflięgerabwehr. Um vor dem Panzerübergewicht des Ostens bestehen zu können, wollen die Amerikaner ihre deutschen Verbündeten daher wenigstens mit neuesten elektronischen Panzerabwehrwaffen ausrüsten. Mit der Bundeswehr im Schlepptau hofft man, auch die wankelmütigen Verbündeten zu vermehrten Verteddigungslei- stungen anzuspomen.

Das sicherheitspolitische Bild ist somit durch Machtverschiebungen gekennzeichnet, die kaum als Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens bezeichnet werden können. Dabei muß der klassische Begriff der Bedrohung über den militärischen Rahmen hinaus auf den ökonomischen Bereich ausgedehnt werden. Das gibt der globalen Bedrohung einen neuen Akzent, dem der Westen mehr Beachtung schenken muß als bisher.

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