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Amerikas neue Politik

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Kennedys erste Botschaft an den Kongreß, „Über die Lage der Nation", und die ihr folgenden Kongreßbotschaften erlauben, einige Richtlinien der neuen Politik der USA zu erkennen. Der neue Präsident stellt sich zunächst an einer Hauptfront seinen vielen Gegnern, an der inneren Front. Dies zu beachten ist nicht zuletzt für Europäer wichtig, die sich seit längerer Zeit angewöhnt hatten, Onkel Sam unter diesen beiden Gesichtspunkten anzuvisieren; als Dollar-Onkel, der ihnen Geld geben soll, und als Patron aller Rechtsreaktionäre in aller Welt (wobei genau entsprechend die Patro- nisierung aller linken Reaktionäre Stalin und seinem Erben zufiel).

Kennedy hat erkannt; daß die Vereinigten Staaten nur dann auf lange Sicht eine äußere Bewegungsfreiheit erlangen werden, wenn die Regierung im Inneren Bewegungsfreiheit erlangt. Den stärksten Feind trägt jeder, sei es nun ein kleiner Mensch oder ein großer Staat, in der eigenen Brust. Das Eisenhower-Regime hatte eine alte, nur zeitweilig durch den zweiten Roosevelt unterbrochene Tradition fortgeführt, der zufolge die inneren Miseren im eigenen Lande nicht in der Öffentlichkeit berührt werden durften. Wer das tat, galt als „rot“, als „unamerikanisch“, später als „kommunistisch". Die wachste und beste Intelligenz dėt USA wurde dergemlt nach links getrieben, da eben eine amerikanische Selbstkritik nur auf dieser SStfe „ankam“. Der erste Roosevelt hatte diese. Männer abfällig „muckraker“ — Schmutzaufwühler — genannt. Da hatte Lincoln Steffens 1904 „Die Schande der Städte“ publiziert. Zwei Jahre später erschienen Upton Sinclairs Enthüllungen über Chikago „Der Sumpf“. 1917 erschien „König Kohle“, 1927 „Petroleum“. An der Aufdeckung der inneren Höllen Amerikas, eines unsagbaren Elends, Verbrechens, der Korruption, der Leiden des Volkes in den USA haben dann neben anderen besonders Theodore Dreiser („Eine amerikaiusche Tragödie“, 1925), James T. Farrell, John Dos Passos, Erskine Caidwell, Ernest Hemingway, John Steinbeck, William Faulkner, Richard Wright gearbeitet. Diese weltbekannt gewordenen Sterne der amerikanischen Literatur beleuchten finsterste Verhältnisse. Kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges brechen Schmerz, Zorn und Trauer mächtig auf in den „Früchten des Zornes“: „Sie verbrennen Kaffee als Feuerung in den Schiffen. Sie verbrennen Korn zur Heizung, denn es gibt ein gutes Feuer. Sie werfen Kartoffeln in die Flüsse und stellen an den Ufern Wachen auf, damit die hungrigen Leute sie nicht herausfischen können. Sie schlachten die Schweine und graben sie ein und lassen sie verfaulen und den Saft in die Erde sickern.“ — „Die Leute kommen mit Netzen, um die Kartoffeln aus dem Fluß zu fischen, aber die Wächter verbieten es ihnen. Sie kommen in ratterndem Wagen, um sich Orangen zu holen, ater die Orangen sind mit Petroleum bespritzt. Und sie stehen still und sehen zu, wie die Kartoffeln vorbeischwimmen, hören die Schweine schreien, die in einem Graben geschlachtet und mit Ätzkalk bedeckt werden, sehen die Orangenberge zu einem Fäulnisbrei zusammensinken, und in den Augen der Hungernden steht ein wachsender Zorn. In den Herzen der Menschen wachsen die Früchte des Zorns und werden schwer, schwer, und reif zur Ernte."

Diese Früchte des Zornes wollte Hitler ernten, dessen Propaganda Steinbecks Werk mitten im Krieg herausstellte. Mehr Erfolg war der kommunistischen Internationale beschieden: es gelang ihr zwischen 1920 und 1940, der Hauptnutznießer dieser großen ame

rikanischen Tragödie, der Spaltung einer Intelligenz von der Nation, zu werden. Eben diese „linke“ Intelligenz war aber bereits lange Jahre, bevor McCarthys Hexenjagd gegen sie losbrach, durch die schwere Schule bitterster Enttäuschungen gegangen: durch eigene Besuche in der Sowjetunion, durch die Teilnahme am Kampf in Spanien, wo sie sehen mußte, wie beste Republikaner in den Kerkern der GPU endeten, durch die Schau- und Schauerprozesse in Moskau 1936. Der schmerzhafte Ablösungsprozeß von dem „Gott, der keiner war“, wurde durch den zunächst rasanten Sieg der Reaktion und der McCarthysten aufgehalten. Am Vorabend der Wahl Kennedys konnten seine Gegner noch mit Recht hoffen, mit Hilfe des alten Tabus, „nur nicht an die inneren, eigenen Miseren rühren“, die Massen bei der Stange zu halten. Kennedy wagte es, dieses Tabu zu brechen. Der neue Präsident der USA weiß, daß eine Weltpolitik und eine Selbstbehauptung der USA in Freiheit eine Versöhnung der Intelligentsia mit der Nation voraussetzt.

In diesem Sinne deckt Kennedy in seiner State-of-Union-Bo.tschaft die innere Lage der USA auf: „Wir Über

nehmen die Regierungsgeschäfte nach sieben Monaten des Rückgangs, nach dreieinhalb Jahren eines Nachlassens der Wirtschaftstätigkeit, nach sieben Jahren des verminderten wirtschaftlichen Wachstums und nach neun Jahren eines sinkenden landwirtschaftlichen Einkommens. Die Konkursanmeldungen haben ihren höchsten Stand seit der großen Depression erreicht. Seit 1951 ist das Farmeinkommen, um 25 Prozent heruntergedrückt worden. Mit Ausnahme einer kurzen P.eriode' im Jahre 195 8 hat die Zahl der versicherten Arbeitslosen den höchsten Stand in unserer Geschichte erreicht. Von etwa fünfeinhalb Millionen arbeitslosen Amerikanern bemühen sich eine Million seit mehr als zwei Monaten um Arbeit.“ Kennedy verweist dann — erinnern wir uns an die „muckraker“ — auf folgende Tatsachen: Unser Staatshaushalt

strotzt nur so von unvollendeten und vernachlässigten Aufgaben, Unsere Städte ersticken im Schmutz. Zwölf Jahre, nachdem der Kongreß verkündet hat, unser Ziel sei ein würdiges Zuhause und eine geeignete Umwelt für jede amerikanische Familie, wohnen noch immer 25 Millionen Amerikaner in unzureichenden Behausungen. Wir müssen noch in diesem Jahr ein neues Wohnungsbauprogramm unter einem neuen Wöhnungs- und Städteplanungsministerium in Angriff nehmen. Unsere Schulen haben zwei Millionen mehr Schüler, als sie eigentlich unterbringen

können, und an ihnen unterrichten 30.000 nicht vollqualifizierte Lehrer. Ein Drittel der begabtesten Absolventen der Oberschulen ist finanziell nicht in der Lage, seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Die Kriegskinder aus den vierziger Jahren, die unsere Schu- en in den fünfziger Jahren überfüll- ten, drängen nunmehr in den sechziger 1ähren nach den Colleges — und unsere Colleges sind schlecht auf diesen Ansturm vorbereitet. Es mangelt uns an Wissenschaftlern, Technikern und Lehrkräften, die unsere weltweiten Verpflichtungen erfordern.“ Kennedy nacht dann noch auf die große Verbreitung des organisierten Verbrechersums und der Jugendkriminalität, auf las ungelöste Rassenproblem, die Ne- ;erfrage, aufmerksam und hält nun est: „So stehen wir, eine im Innern zerwahrloste Nation, riesigen Weltproblemen in Asien, Afrika und La- ei natnerika gegenüber."

Der neue Präsident weiß, daß er den :rsten und gefährlichsten Hauptfeind m Innern findet. Hier können näm- ich in den wichtigsten Schlüsselposi- :ionen gefährliche „Alte“ jede Aktivi- ät der Regierung lahmlegen oder zu- nindest mit Erfolg sabotieren. — Ein deines Beispiel für den Kampf, den Cennedy bis zu seinem letzten Amts- ag zu bestehen haben wird: Nach langem erbittertem Ringen gelang es, die Eahl der Mitglieder des „Rules Com- nittee", der oligarchischen Heršcher- jruppe im Repräsentantenhaus, von :wÖlt auf fünfzehn zu erhöhen und dergestalt die Macht der süddemokratisch- echtsrepublikanischen Koalition zu irechen, die in dieser Kommission seit ähren die Behandlung liberal-fort- ichrittlicher Vorlagen durch das Pietum blockierte. Mit knapp 217 gegen12 Stimmen hat das Repräsentanten- laus diese Erweiterung um 3 Kennedy- Anhänger gebilligt. Die Opposition vird hier Kennedy ebenso schwer zu chaffen machen wie die Greisenherr- ;chaft daselbst, die sich in einem lededuell zwischen dem 79jährigen iam Rayburn und dem 78jährigen Vor- itzenden dieses Rules Committee, doward Smith, zuspitzte. Kennedy und einem „jungen“ Team stehen daher chwerste innenpolitische Auseinander- etzungen bevor. Der Präsident wird ich bei allen wichtigeren Unterneh- nungen auf direkte Appelle an die Wähler stützen müssen. Sein Entschluß, lie Pressekonferenzen öffentlich undor dem Fernsehschirm zu halten, liese Flucht in die Öffentlichkeit, ist ■on hier aus zu verstehen: Jeder Schritt :u einer neuen Politik der USA ist len harten Mächten der Vergangenreit abzuringen.

Auch von hier aus ist ein gewisses lersönliches Verständnis Nikita Chru- chtschows für seinen neuen Partner :u würdigen. Beide stehen mächtigen Sruppen und Interessentenverbänden n ihren Mammutstaaten gegenüber.

Die schwierige innenpolitische Lage erklärt nicht zuletzt die Tatsache, daß ich Kennedy zunächst nur sehr vor- ichtig außenpolitisch bewegt. Es gab lisher keine großen Umbesetzungen im Außendienst, von wenigen Ausnahmen wie Kennan nach Belgrad) abgesehen. Cennedy wird in den nächsten Mona- en die Staatsführer jener „Schwester- epubliken“ und jener europäischen Jtaaten empfangen, die er in seiner rsten Kongreßbotschaft mit keinem Vort erwähnt hat. Wir Europäer tun rut daran, rechtzeitig und sehr sorg- ältig die Europapolitik der neuen Itaatsführung in den USA zu beobach- en. Wobei sich rasch herausstellt, laß wichtiger als Erstreaktionen, die .Enttäuschung“, „freundliche Auf- lahme“, „Reserviertheit“ in Bonn, .enden und Paris reflektieren, das Cennenlernen der Nah- und Fernziele ler amerikanischen Europapolitik ist.

Dafür gibt es recht exakte Anhaltspunkte in der neuen Rüstungspolitik Kennedys. Kennedy hat die Beschleunigung des Raketenprogramms, besonders des Baues von Ätom-U-Booten als Trägern der Polaris-Raketen, und als zweites den Ausbau der Lufttransporterflotte befohlen.

Beide Entscheidungen sind von größter Bedeutung für Europa. Die Verlagerung der strategischen Atomwaffe von den stützpunktgebundenen Bombern auf Polaris-Raketen mit 2000 km Reichweite, die von beweglichen und unverwundbaren Basen unter Wasser abgeschossen werden, wird den Verzicht auf den Ring der Luftstützpunkte um die Sowjetunion möglich machen. Man hat? sich1 hierzulande in Klein

europa über die große Angst, das große Unbehagen der Russen angesichts ihrer Einkreisung durch amerikanische Stützpunkte, die global die Sowjetunion umgeben, lustig gemacht. Kennedy weiß diese große Sorge der Russen ebenso in Rechnung zu stellen wie seine Pflicht, die USA zu verteidigen. Der Aufbau einer neuen „Luftfeuerwehr“, bestehend aus Lang- streckentransDortern. die jederzeit an

jeden Punkt der nichtkommunistischen Welt, wo ein. Brand droht, geworfen werden können, soll diese neue Beweglichkeit unterstützen.

Geben wir hier weiter einem westdeutschen Kommentator das Wort: „Es ist klar, daß ein solches Konzept eine

Besonders tur die europaiscne Verteidigung, das heißt für die NATO- Politik, umwälzende Entwicklung einleiten muß, die völlig neue Perspektiven für die europäische Ost-West- Politik und damit auch für Deutschland eröffnen kann. Wenn die amerikanische Feuerwehr innerhalb von zehn Stunden in Westeuropa landen kann. wäre es nicht mehr nötig, starke amerikanische Truppeneinheiten auf dem Kontinent zu stationieren.“ Kennedy sieht „die in seiner Botschaft eher kritisch erwähnte NATO nicht als überzeitliche Institution oder gar, als Dogma . . ., sondern nur als militärisches Zweckbündnis von unbestimmter Dauer“. „Moskau fordert seit

zwölf Jahren den Abzug qller fremden — sprich: amerikanischen — Truppen aus Europa. Wenn auf die Massierung dieser Truppen künftig verzichtet werden kann, ohne daß die Sowjets den Vorteil der inneren Linie nutzen könnten, so wird es möglich, ihr zu entsprechen: die Amerikaner zurück nach Amerika, die Russen nach Rußland.“

Es ist klar, daß angesichts dieser möglichen neuen Beweglichkeit in Europa nicht nur der bevorstehende Besuch des polnischen Außenministers Rapacki in Wien nicht nur als eine polnisch-österreichische Freundlichkeit Bedeutung gewinnt. Europa gerät in Bewegung, nachdem Asien, Afrika, Latein- und nunmehr auch Nordamerika in Bewegung geraten sind. Das bedeutet für uns, nicht zuletzt in Österreich, erhöhte Verantwortung: die Schwächen der Demokratie, die zuletzt in Belgien, Frankreich, Italien zutage getreten sind, die weitgehende Nichtanteilnahme und faktische Ausschließung breitester Schichten der Bevölkerung von der politischen Verantwortung, die verstärkte Aktivität links- und rechtsradikaler Gruppen, das alles mahnt uns: nicht nur in Amerika sind die Tage des Fortwurstelns, des schönen Scheines, der Phrasen, der Übertünchung der inneren Miseren zu Ende. Die große innere Mobilmachung der Nation, die Kennedy unternommen hat, um die- Leerräume auszufüllen, verweisen uns. nicht nur in der Wirtschaft im engeren Sinne, auf unsere Pflicht, alle wirklich' freiheitlichen und demokratischen Kräfte in unserem Lande zu mobilisieren. Es wäre ein erschreckendes Schauspiel, wenn in einem solchen Moment, in dem. schweratmend, sich eine freiere Welt anschickt, konstruktiv größte Weltprobleme anzufassen, Österreich in falsche Fronten zerfiele, da wir weder mit unserer Vergangenheit noch mit unserer Gegenwart noch mit unserer Zukunft etwas Neues und Positives anzufangen wissen, wie es oft den Anschein hat Die Botschaften Kennedys an das Volk der LISA gehen uns mehr an, als wir sehen wollen.

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