6783262-1970_01_07.jpg
Digital In Arbeit

Jahre der Inhumanität...

19451960198020002020

1. Jänner 1970. Eintritt in ein neues Jahrzehnt. Ein ebenso markantes wie im Grunde unwichtiges Datum, falls sich nicht noch im letzten Moment Historisches ereignet. Die runden Jahreszahlen stehen, seit es Jahreszahlen gibt, als abstrakte, nur an sich selbst erinnernde Daten in einem irrationalen Konkurrenzverhältnis zu jenen, die konkrete Ereignisse fixieren.

19451960198020002020

1. Jänner 1970. Eintritt in ein neues Jahrzehnt. Ein ebenso markantes wie im Grunde unwichtiges Datum, falls sich nicht noch im letzten Moment Historisches ereignet. Die runden Jahreszahlen stehen, seit es Jahreszahlen gibt, als abstrakte, nur an sich selbst erinnernde Daten in einem irrationalen Konkurrenzverhältnis zu jenen, die konkrete Ereignisse fixieren.

Werbung
Werbung
Werbung

Ihre eigene, freilich sehr schnell verblassende Magie haben die runden Jahreszahlen mit einer Sieben. Wir reden seit Jahren von den bevorstehenden siebziger Jahren wie von einem politischen Termin. Gibt es überhaupt etwas, außer Null und magischer Sieben, was an der Wende dieses Jahrzehnts zur Vorschau auf eine neue Epoche herausfordern kann? Wir glauben, daß es doch so ist. Aber wenn man die gegenwärtig vorherrschenden Tendenzen in die Zukunft, verlängert, weisen sie nicht auf gemütliche Jahre. Die Nachkriegszeit ist bekanntlich endgültig vorbei. Diese Feststellung ist wie ein alter Hut, der von Jahr zu Jahr besser paßt. Aber warum ist sie wirklich vorbei? Den Beginn der Nachkriegszeit könnte man unter anderem auch mit jenem Herbsttag des Jahres 1945 ansetzen, an dem Jackson, der amerikanische Hauptankläger im großen Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, in seiner Anklagerede erklärte, hiermit werde nach den Sternen eines neuen Völkerrechtes gegriffen, nach neuen Normen für das Zusammenleben der Völker. Diese neuen Normen sind längst wieder außer Kraft. USA wie Sowjetunion setzten Taten, die eine Abkehr vom allzu paradiesischen Modell eines gleichberechtigten Nebeneinander kleiner und großer Mächte bedeuteten. Die Sowjetunion hatte keine internationalen Verwicklungen zu befürchten, als sie in die CSSR einmarschierte. Die USA riskierten nicht einmal besondere Empörungs-stürme, als sie ihre Fallschirmjäger in die Dominikanische Republik schickten, um ein legal an die Macht gekommenes, aber sozialistisches Regime zu entfernen. Kennedy dachte an die Kriegsgefahr, aber nicht an die Souveränität des Staates Kuba, als er mit Chruschtschow um die dort stationierten Raketen pokerte. Möglicherweise vergaß er, die alte Erfahrung, daß böses Beispiel allemal Schule macht, in seine Rechnung einzusetzen.

Atombomben für Drittrangige?

Nach allem, was seither geschehen oder nicht geschehen ist, wissen wir heute freilich außerdem, daß alle Unkenrufe, bewaffnete Angriffe der einen Großmacht gegen das Einfluß-gebiet der anderen betreffend, in erster Linie die Funktion haben, den jeweiligen zum Schutz vor solchen Angriffen geschaffenen Apparaten ungestörte Ausbreitung nach Par-kinsonschen Wachstumsgesetzen zu ermöglichen.

Auch wenn man den Beginn der Nachkriegszeit mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima ansetzt, ist sie, und mit ihr die Angst vor der umfassenden atomaren Konfron-

tation als ein die Politik bestimmendes Element, vorüber. Sowjetunion und USA wissen heute, daß sie sich aufeinander verlassen können. Es wird geteilt und geherrscht, die Menschheit hat gelernt, weiterhin Kriege zu führen und den Atomkrieg zu vermeiden, möglicherweise wird sie es sogar lernen, begrenzte Atomkriege zu führen. Eines Tages werden dann auch drittrangige Mächte Atombomben haben, um ihrer Außenpolitik Nachdruck ( zu. verlei- , hen. Eine solche Dezentralisierung, der Vernichtungspotentiale zählt allerdings hoffentlich noch nicht zu den Problemen der siebziger Jahre.

Auch unter einem dritten Gesichtspunkt, dem des Entsetzens über eine Kulmination menschlicher Bestialität, ist die Nachkriegszeit nunmehr endgültig vergangen. Der Eintritt in die siebziger Jahre fällt zusammen mit dem Abbau der letzten aus dem Schock von 1945 resultierenden Hemmungen. Lidice ist überboten, Ora-dour mehrfach nachvollzogen, von nun an ist wohl alles wieder möglich.

Zweifellos ist der Vietnamkrieg jenes Ereignis, das sich am besten dazu eignet, die Verrohung der Sitten zu erklären. Aber sie wird begünstigt von einem fortschreitenden Prozeß der sozialen Desintegration bei zunehmender internationaler Integration der Machtapparate. Man braucht kein Prophet zu sein, um ein Fortwuchern dieses demokratische und pluralistische Strukturen aushöhlenden Übels vorauszusagen.

Das amerikanische Trauma

Herd sind die USA, diese heute innerlich zerfallene, vom Verlust jeglichen staatsbürgerlichen Konsensus bedrohte Vormacht des Westens. Der Konflikt mit der Opposition im eigenen Land und mit den unterdrückten Schwarzen ist unausweichlicher und unerbittlicher als der Scheinikonflikt mit den äußeren Feinden, China eingeschlossen. Echte wirtschaftliche und soziale Gleichstellung der Neger würde die weiße Nation zu Opfern zwingen, die sie nicht bringen will. Einzige Alternative ist das gewaltsame Niederhalten aller zu Änderungen tendierenden, nach der Führung der schwarzen Bevölkerung greifenden Kräfte. Der Krieg zwischen US-Polizei und Black-panther-Bewe-gung ist zu einem Vernichtungskampf gegen die panthers gediehen, deren Führer abgeknallt oder unter fadenscheinigen Vorwänden eingesperrt werden, wo man sie erwischt. Vietnamkrieg und Rassenkonflikt vertieften die Kluft zwischen Amerikas „liberalen“ und „konservativen“ Kräften so sehr, daß sie mit demokratischen Spiekegeln nicht mehr

überspielt werden kann. Das Ausmaß dessen, was im Rahmen demokratischer Spielregeln bewirkt werden kann, schrumpft. Demokratische Spielregeln sind heute allenthalben von Sprengung oder Sistierung bedroht, wo nicht durch die Überforderung des demokratischen Konsensus, dort durch die Versuchung zur Machtergreifung.

Das vergangene Vierteljahrhundert sah nur ganz wenige Machtergreifungen von unten, hingegen zählt Luttwak, das neueste Wunderkind der politischen Strategie, erfolgreiche Staatsstrelche in mehr als

70 Ländern in 23 Jahren; Professor Finer (Manchester) kommt auf 73 Staatsstreiche in 46 Ländern allein in den letzten zehn Jahren. Luttwak irrt sich freilich, wenn er meint, „fortschrittliche“ und „konservative“ Kräfte hätten die gleiche Chance, durch Staatsstreiche an die Macht zu kommen. Dem steht die erwähnte internationale Integration der Machtapparate entgegen. Was

Amerika heute im eigenen Land nicht kann, das kann es sehr wohl in Griechenland oder in Südamerika. Der Staatsstreich ereignet sich immer seltener im Niemandsland zwischen den Großmächten. Immer häufiger, wenn nicht mittlerweile immer, ist Unterstützung der einen oder der anderen Seite im Spiel. Wobei sich freilich jede Seite hütet, der anderen ins Gehege zu kommen. Die Großmächte pokern kaum noch, das ist zu gefährlich und das haben sie nicht nötig. Sie spielen ein Gesellschaftsspiel mit sehr differenzierten, penibel eingehaltenen Regeln, das mehr Ähnlichkeit mit dem japanischen Go hat als mit dem indischarabischen Schach.

Satellitenpolitik

Innerhalb des jeweiligen Einfluß-gebietes ist Gewalt so unverhüllt wie schon lange nicht mehr die politische ultima ratio der Großmächte. Die Ideologie der offenen oder verhüllten Gewaltanwendung überall dort, wo

man sie für notwendig hält und sich leisten kann, ist die einzige Ideologie, die man den Großmächten noch glaubt. Die Sowjetunion hat ihren Satelliten unmißverständlich klargemacht, was sie dürfen und was nicht.

Der „freie Westen“ hat es aus historischen Gründen besser, aber nur, wenn man die Lage aus dem Blickwinkel der Industriestaaten betrach-

tet. In allen anderen Ländern forciert Amerika mit seiner ungeheuren wirtschaftlichen, politischen und geheimdienstlichen Macht retardierende gesellschaftliche und vor allem politische Prozesse. „Dritte Mächte“ wie England, Frankreich, Deutschland, Japan bewahren Unabhängigkeit in Grenzen, dafür droht ihnen das Schicksal der sozialen Desintegration, die überall dort einsetzt, wo die Interessenkonflikte einer Gesellschaft mit den per Stimmzettel angebotenen Alternativen nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Wo die parteipolitischen Gegensätze noch echte Interessengegensätze spiegeln, wo sich bestohlene, unterdrückte Massen politisch formieren und den Herrschenden per demokratischer Willensentscheidumg oder anders gefährlich zu werden drohen, bietet sich der Staatsstreich als Mittel zur „Sanierung“ an. Und ,es ist schwer zu sagen, ob er sich wirklich anbietet oder ob er von der CIA angeboten wird.

Der Putsch der Obristen wurde im Rahmen einer immer geschickteren Arbeitsteilung von der CIA gefördert und vom offiziellen Amerika mißbilligt. Auch die brasilianischen Militärs werden, sollten sie schon aus eigener Kraft an die Macht gekommen sein, sicher ffilt amerikanischer Unterstützung' in : ihrem Besitze bleiben.

Man könnte einen Vergleich aus der Naturwissenschaft heranziehen und das Gesetz von Mutation und Selektion, ausnahmsweise ohne sozialdarwinistische Verzerrung, auf die Überlebenschancen politischer Bewegungen in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts anwenden. Mutationen sind nicht steuerbar. Mehrheitsentscheidungen, Revolutionen, Staatsstreiche in den Satellitenländern der Großmächte sind nicht vorhersehbar. Die jeweilige Großmacht, die sich nach den Regeln des sowjetisch-amerikanischen Gesellschaftsspiels zur Vormacht aufgeschwungen hat, wird die Rolle der selektierenden Umweltbedingungen spielen und bestimmen, was überlebt. Hoffnung auf baldige Änderung in Griechenland oder Brasilien ist Illusion, Rechnung ohne den amerikanischen Wirt. Ebenso Hoffnung, es könnte bei diesen Ländern bleiben. Niemand hat sein „Bis hierher und nicht weiter!“ gesprochen, keine Macht der Erde kann es sprechen. Italien ist vor einigen Jahren gerade noch davongekommen. Die Obristen sollen ihren italienischen Gesinnungsgenossen Unterstützung angeboten haben. Kräfte, die diese Unterstützung gerne annähmen, sind in Italien zweifellos vorhanden. Nur wenige Demokratien sind heute immun gegen gewaltsame Sistierung. Kaum eine Demokratie ist so stabil wie eine fest im Sattel sitzende Diktatur. Niemand kann prophezeien, welche Länder, wieviele Länder in den nächsten zehn Jahren das Schicksal Griechenlands und Brasiliens, Spaniens und Portugals und so weiter teilen werden.

Aufbegehren gegen Unterdrückung wird, wo sie gewagt wird, Gewalt provozieren.

Wenn wir mit einer Hoffnung in die siebziger Jahre eintreten können, dann ist es die Hoffnung, in der Sowjetunion möge ein Prozeß auf Liberalität hin einsetzen und den USA möge es gelingen, ihre gesellschaftlichen Antagonismen, vor allem zwischen Schwarz und Weiß, im Rahmen ihres demokratischen Konsensus bewältigen. Doch Nixon macht uns ebensowenig Hoffnung wie Breschnew.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung