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Kapitalismus und Marxismus

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Anfang September dieses Jahres erscheint im Verlag Herold, Wien-München, das neueste Werk des Chefs des Hauses Habsburg „Soziale Ordnung von morgen”. Der Autor legt in dem Werk sein politisches, wirtschaftliches und soziologisches Grundkonzept dar, wobei nicht nur die ungemein vielseitigen Kenntnisse, sondern auch die Vielfalt neuer und konstruktiver Gedanken überraschen. Wir veröffentlichen aus dem Buch nachstehendes Kapitel.

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Anfang September dieses Jahres erscheint im Verlag Herold, Wien-München, das neueste Werk des Chefs des Hauses Habsburg „Soziale Ordnung von morgen”. Der Autor legt in dem Werk sein politisches, wirtschaftliches und soziologisches Grundkonzept dar, wobei nicht nur die ungemein vielseitigen Kenntnisse, sondern auch die Vielfalt neuer und konstruktiver Gedanken überraschen. Wir veröffentlichen aus dem Buch nachstehendes Kapitel.

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„Die Furche”

Das wirtschaftliche Leben der Welt steht an einer entscheidenden Wende. Eine solche ist natürlich für den Zeitgenossen weniger leicht erkennbar, als es dereinst in der historischen Perspektive möglich sein wird. Denn naturgemäß sind die Formen der Vergangenheit und der Zukunft noch ineinander verflochten. Es gibt zwischen ihnen keine reinliche Trennung. Die Symbiose kann lange dauern und erstreckt sich über die Lebensspanne einer Generation hinaus. Der Wandel ist aber nicht nur am langsamen Absterben des Alten erkennbar; auch die Erscheinung des Neuen wird fortschreitend deutlicher.

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges hat gerade in Europa eine wesentliche Klärung stattgefunden. Denn wir sind Zeugen davon, wie die zwei großen Wirtschaftssysteme der Vergangenheit, Kapitalismus und Marxismus, ihr Wesen verlieren und unter Zurücklassung gewisser Aeußerlichkeiten verschwinden.

Man verwechselt nur zu leicht Kapitalismus mit Privateigentum. Eine solche Begriffsverwirrung ist gefährlich. Denn während dieses ein dauerndes Prinzip menschlichen Lebens ist, kann solches von jenem nicht behauptet werden. Er ist ja erst mit dem Verfall der mittelalterlichen Strukturen entstanden und hat seine Hochblüte seit der Französischen Revolution, insbesondere in der Zeit des wirtschaftlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, erlebt.

Wesen dieses Kapitalismus als Wirtschafts-, Philosophie — man könnte beinahe das Wort Staatslehre gebrauchen — ist es, das ökonomische Geschehen, die Produktion, in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Das Eigentumsrecht wird als erstes Grundrecht der Gemeinschaft betrachtet, auch wenn dies meist nicht ohne weiteres ausgesprochen wird. Von seiner ungehemmten Entwicklung wird dauernder Fortschritt erhofft, der nur durch das freie Spiel der Kräfte gewährleistet werden könne. Grundsätzlich ist daher der Kapitalismus eine wirtschaftlich ausgerichtete Gesellschaftsordnung, mit Primat des Materiellen und nur subsidiärer Bedeutung anderer Werte.

Gewiß ist diese Begriffsbestimmung bewußt scharf geprägt und wird in dieser Form von den meisten Verteidigern des Kapitalismus nicht unterschrieben werden. Fast alle werden verschiedene Einschränkungen machen. Nichtsdestoweniger ist dies unseres Erachtens die klarste Definition, die das wahre Wesen der Lehre umschreibt. Solche Gedankengänge haben die Politik der Staaten des 19. Jahrhunderts gelenkt. Gewiß sind vielfach auch soziale Auffassungen damit verbunden worden. In Gründerund Pionierperioden, in Ländern mit großen neuerschlossenen Räumen und wenig Einwohnern, wie etwa den Vereinigten Staaten, Kanada oder Südafrika, hat sich die kapitalistische Form mit ihrer unbeschränkten Freiheit der Initiative zeitweilig segensreich für die Gesamtheit ausgewirkt und damit das soziale Wohlbefinden aller Klassen erhöht. Das gleiche kann jedoch von jenen Ländern nicht gesagt werden, in denen eine große Bevölkerungsdichte notwendigerweise den vorhandenen Spielraum begrenzt.

Heute befindet sich der Kapitalismus in einer schweren Krise, um nicht von Verfall zu reden. Denn der private Eigentumsbegriff, sein Grundstein, ist allenthalben tiefgreifenden Wandlungen unterworfen und hat bereits seine bisher bedeutende Position verloren. Er ist in zunehmendem Maße ausgehöhlt, ja zu einem der am meisten mißachteten Prinzipien geworden.

Das ist keineswegs eine nur unserem Zeitalter eigentümliche Entwicklung. Denn schon im Mittelalter, von noch früheren Perioden ganz zu schweigen, gab es immer wieder Zeiten, in denen wohl das Privateigentum bis zu einem gewissen Grad bestand, das Nutzungsrecht aber weitestgehend beschränkt war. Unter dem Eindruck der nahen Vergangenheit hat man allzuoft diese Tatsache übersehen. Es sei aber daran erinnert, daß gerade die Feudalordnung weitestgehend ein Obereigentum der Krone, das heißt des Staates, kannte. Erst in neuerer Zeit, mit der Renaissance, ist an Stelle dieser Formen der unbeschränkte Besitz, das „jus utendi et abutendi” der alten Römer, wiedererstanden.

Heute ist die Freiheit des Eigentümers schärf- stens beschnitten. Durch das moderne Steuersystem ist der Staat risikoloser Mitbesitzer geworden. Und in vielen Ländern Europas ist die öffentliche Uebernahme weiter Sektoren des wirtschaftlichen Lebens durch Gesetz oder durch staatliche Lenkung zur Tatsache geworden. Viele dieser Schritte sind ohne den geringsten Widerstand der Betroffenen erfolgt. Eingriffe, die noch vor zwei Generationen als schwerstes Unrecht empfunden worden wären, sind heute alltägliche Ereignisse. Die Verteidiger des Eigentums sind meist in die Defensive gedrängt worden. Sogar in den sogenannten kapitalistischen Ländern kann von einem „klassischen Kapitalismus” kaum mehr die Rede sein. Wenn auch stellenweise seine äußeren Wahrzeichen noch bestehen, ist doch sein Wesen im Bewußtsein der Bevölkerung und der Regierungen bereits so weit geschwunden, daß er tatsächlich der Vergangenheit angehört — solange man ihn nicht mit dem Privatbesitz als solchem verwechselt. Denn dieser, wenn auch oft in neuen Formen, überlebt’ den Verfall des Kapitalismus und setzt sich auch dort wieder durch, wo er zeitweilig abgeschafft wurde. Ein gutes Beispiel hierfür ist die UdSSR, wo die Machthaber gezwungen sind, trotz der marxistisch-leninistischen Lehre, langsam und schrittweise vor dem Willen und dem Beharrungsvermögen der Bevölkerung zurückzuweichen und Privatbesitz stellenweise wieder zuzulassen oder stillschweigend zu dulden. Ganz abgesehen von dieser spontanen Entwicklung, versucht darüber hinaus die heutige Führungsschichte Rußlands, zu ihren eigenen Gunsten ein privilegiertes Besitzrecht zu-schaffen. Sie hofft, auf diese Weise ihrer einflußreichen Stellung als neuer Adel des Bolschewismus Erblichkeit und Dauer zu sichern.

Diese Beobachtung aus Rußland zeigt uns, daß gleichzeitig mit dem Kapitalismus auch sein angeblicher Feind, der Marxismus, tödlich getroffen ist.

Es geschieht bewußt, daß wir hier das Wort „angeblicher” verwenden. Denn wenn auch ständig von einem Gegensatz von Kapitalismus und Marxismus die Rede ist, so überschattet das große Gemeinsame doch das Unterschiedliche. Vertrauen sie auch in Ausübung des Besitzrechtes verschiedenen Händen an, so ist doch die grundlegende Philosophie dieselbe. Bei beiden Systemen steht nämlich die Wirtschaft, die Produktion, im Mittelpunkt. Beide sind letztlich materialistisch und stellen ökonomische Gesetze anderen voran. Im Innersten sind beide nicht sozial — wenn auch der Marxismus oft das Wort Sozialismus zu seinen Gunsten mißbraucht hat. Denn „sozial” — die Analyse des Wortes allein sollte es zeigen — gibt dem Menschen den Vorrang. Marxismus und Kapitalismus aber sind vorwiegend durch materielle Erwägungen beeinflußt. Im Enderfolg macht es wenig Unterschied für die Arbeiterschaft, ob Einzelindividuen oder der Staat die Unternehmer und die Besitzer der Produktionsmittel sind. Denn für das Geschick des Lohnempfängers ist die Haltung ausschlaggebend. Der Staat kann ebenso unsozial sein wie der Private. Die Gefahr ist bei einer Bürokratie sogar entschieden größer als bei einer greifbaren Person. Ist allerdings der Einzelunternehmer durch Bankkonzerne oder anonyme Gesellschaften ersetzt, so ist die Aehnlichkeit mit dem öffentlichen Betrieb groß.

Wenn auch der Unterschied zwischen Marxismus und Kapitalismus sehr gering ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß jener den Fehlern des letzteren seinen Triumphzug verdankt. Es ist den Schülern von Karl Marx gelungen, die Ge- m-insamkeit zu verbergen und eine Alternative vorzutäuschen. So konnten sie aus den Schwächen des älteren Systems politische Waffen schmieden. Mit dem Verfall des Kapitalismus aber mußten diese Klischees des 19. Jahrhunderts ihre Zugkraft verlieren. Sie begannen in Ermangelung des Objektes ihrer Kritik hohl zu klingen. In dieser Entwicklung zeigt sich die große Gefahr, Politik hauptsächlich aus Negation zu machen. Von den Fehlern des Widersachers zu leben, ist leicht. Besseres zu schaffen ist sehr schwer. Aber auf lange Sicht hat das Positive einen tiefgreifenden Vorteil: es kann auch den wirklichen oder vermeintlichen Gegner überleben.

Gewiß hat die politische Bewegung, deren sich der Marxismus bemächtigte, viel Gutes geleistet. Die Reaktion auf die Fehler des Kapitalismus mußte kommen. Das Unrecht mußte aus der Welt geschafft werden; dies ist in den fortgeschrittenen Ländern auch weitestgehend geschehen. Mit dem Ende der schweren Mißstände — in der entscheidenden Stunde, da der Marxismus aus seiner Opposition heraustreten und aufbauen sollte — mußte aber auch die Schwäche seines Gedankengutes — seine Identität im Grundsätzlichen mit dem überwundenen Uebel — zutage treten. Es ist demnach kein Wunder, daß der Marxismus im Positiven meist Schiffbruch erleiden mußte. Denn Wirtschaft aus dem rein Materiellen heraus kann nicht zufriedenstellen, da sie das weitaus Bedeutendste — das Menschliche — zu sehr außer acht läßt- Sobald daher der Marxismus aus dem Stadium eines Wechsels auf die Zukunft in dasjenige der Verwirklichung treten sollte, war er bereits hoffnungslos von den Ereignissen überholt. Der wirtschaftliche Materialismus hat schon den Tod des Kapitalismus verursacht. Sein Bruder, der Marxismus, konnte daher nichts mehr erben. Die schmerzliche Ernüchterung, die den Versuchen praktischer Anwendung folgen mußte, hat zu dem Mangel an Schwung geführt, der heute jene sozialistischen Parteien Europas schwächt, die es noch nicht über sich gebracht haben, ihre Zielsetzungen der Gegenwart anzupassen. Die Mißstände, die sie verurteilen könnten, schwinden; und positiv bauen ist schwer, wenn man im 20. Jahrhundert mit einem Programm auftritt, welches unter den besonderen, einmaligen Bedingungen des 19.’ Jahrhunderts niedergelegt wurde.

Wir haben festgestellt, daß die beiden vorherrschenden Wirtschaftsformen der jüngsten Vergangenheit innerlich ausgehöhlt sind. Sie haben weder Zugkraft noch Zukunft. Wenn man ihnen auch immer wieder in Worten Treue verspricht und sich zu ihnen bekennt, so ist doch im Grunde genommen im kapitalistischen wie im marxistischen Lager das Vertrauen geschwunden. Es fehlt auf beiden Seiten — typisches Symptom der Vergreisung — die Fähigkeit und Spannkraft, sich mit den herannahenden Problemen ernstlich und konstruktiv auseinanderzusetzen. Dies ist von besonderer Bedeutung in einer Stunde, da wieder einmal das ökonomische Bild der Welt in einer tiefgreifenden Wandlung begriffen ist.

Denn wir stehen vor einer wirtschaftlichen Revolution, die an Tragweite derjenigen des Maschinismus sicherlich gleichkommt, sie sogar wahrscheinlich in den Schatten stellen wird. Automation und Atomenergie werden schon in naher Zukunft das Angesicht der Erde verändern. Ganze Zweige unserer Industrie und unserer Landwirtschaft werden verschwinden. Bisher unbekannte Gebiete werden erschlossen. Betriebe müssen reorganisiert werden, ihren Standort wechseln und werden unerwartete neue Existenzbedingungen haben. Die soziale Struktur innerhalb der Unternehmungen wird sich ändern. Dasselbe wird auch für die Produktion und die Umstände der Arbeit eintreten. Manche Reichtumsquellen werden ihren Wert verlieren, andere, noch größere, werden sich öffnen.

Ein solches Ereignis erfordert dringend klare Sicht und richtige Planung. Denn sonst werden die gefährlichen Folgen der Revolution des Maschinismus noch verstärkt auftreten. Dies ist keine Spekulation auf weite Sicht. Es ist ein Gebot der Stunde. Um so tragischer ist es daher, daß vor diesen ernsten Ereignissen die beiden herrschenden Wirtschaftssysteme zwangsläufig versagen müssen. Sie sind nun einmal durch ein versunkenes Zeitalter bedingt. Beide haben ihre Wurzel in einer Vergangenheit, die mit der Gegenwart nichts gemein hat. Noch fehlt aber der Gedanke, um sie erfolgreich zu ersetzen und das Programm aufzustellen, welches den neuen Bedingungen entspricht und diesen eine richtige Umrahmung zu geben fähig ist.

Die Lage wird noch dadurch erschwert, daß dieser Mangel eines zukunftsträchtigen wirtschaftlichen Konzepts nur die Folge einer parallelen Entwicklung im staatlichen Leben ist. Denn wenn man an den Primat der Politik glaubt — das heißt, wenn man erkennt, daß die wirtschaftliche Entwicklung wohl ihre Gesetze hat, sich aber nicht autonom und fernab von menschlicher Einwirkung vollzieht —, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß eine gesunde Oekonomie nur bei richtiger Staatsführung erhofft werden kann. Hierin liegt vielleicht die entscheidende Schwäche unserer Zeit, die einem großen Augenblick der Geschichte anscheinend ziel- und planlos gegenübersteht.

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