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Zusammenstoß zwischen Idee und Realität

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Als Friedrich Adler 1916 das Attentat auf den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh verübte, kam es übrigens zu einer Auseinandersetzung in der Sozialdemokratischen Partei, die hinsichtlich der Beweggründe viele Ähnlichkeit mit den gegenwärtigen Spannungen in der SPÖ hat: Der Zusammenstoß zwischen dem Sein-Sollen in der Vorstellung des Intellektuellen und dem pragmatischen Verhalten (auch des Vaters Viktor Adlers), der Parteiführung zwischen den Ideen und den Realitäten, die sich nie als eine vollendete Materialisierung von Ideen darstellen (können).

• Der Sozialismus ist heute keine Arbeiterbewegung mehr; daß er je eine Arbeiterbewegung war, ist allerdings geschichtliche Notwendigkeit gewesen. Die Proklamationen der sozialdemokratischen Führung von 1918 waren noch und ausschließlich an die Arbeiter von 1918 gerichtet, an Ausgebeutete, an sozial Deklassierte, die vom Hunger und von Kleidungssorgen in ihrem Denken geradezu programmiert waren. Die Adressaten der sozialistischen Proklamationen waren „Nur-Arbeiter“, keine („besseren“) Angestellten, keine Selbständigen. Die Proklamationen der SPÖ 1964 aber finden nicht mehr die gleiche, relativ einheitliche soziale; Schichte at 'Adressaten für ein Ideenangebot vor. Wttitf cSbet- lės ForrtWfln ‘ eh/' Mit schichtkonform ändern, kommt es zu Fehlaussagen, noch mehr, es kommt soweit, daß sich sogar Arbeiter in der Gegenwart nicht mehr von sozialistischen Forderungen angesprochen fühlen, weil sie in den Forderungen nicht ihre Nöte formuliert sehen.

• Die Reparatur der Verteilungsordnung im Sinn der Gerechtigkeitsvorstellung ist eine permanente Aufgabe — nicht allein der Sozialisten. Die Ungerechtigkeit ist ein Relatives, jeweils an anderen Schichten ausgewiesen. Die Versorgungslage der Arbeiter ist 1964 nicht mehr identisch mit dem Sockel der gesellschaftlichen Versorgungspyramide; es gibt elementare Versorgungslücken auch bei den Kinderreichen der unteren Einkommensstufen oder etwa bei den Berufsanfängern im öffentlichen Dienst. Die Methoden einer Neuordnung der Einkommensverteilung wurden in der sozialistischen Praxis nicht immer den tatsächlichen Versorgungsnoten angepaßt. Die Folge ist, daß viele, deren Not keine zur Schau gestellte, sondern eine evidente ist, sich von Sozialisten nicht ausreichend vertreten fühlen; ob mit Recht oder Unrecht, soll nicht untersucht werden.

• Jede politische Gruppe wird auch vom Gegner bestimmt; sie „lebt“ von ihm. Die Gegner des Sozialismus haben heute nicht mehr die gleiche Qualität wie seine Gegner von 1918. Wenn aber Gegner in der Vorstellung konserviert werden, haben sie den Charakter von Phantomgegnern. Es gibt auch heute eine herrschende Klasse und es wird eine solche in jeder Gesellschaftsordnung geben. Die Angehörigen der führenden Gruppe in unserer Gesellschaft sind aber 1964 nicht mehr jene, die vor 1918 in einer perfekten Verachtung für das „gemeine Volk“ dieses in einer Weise klassifizierten, wie sie uns in der jüngst von Rudolf Neck publizierten Aktensammlung (R. Neck — Arbeiterschaft und Staat im ersten Weltkrieg 1914 bis 1918. Von Rudolf Neck. Europaverlag, Wien, 1964. „Die Furche“ wird das überaus interessante Werk noch ausführlich besprechen.) demonstriert wird. Es gibt nicht mehr den geradezu legitimen Gegensatz von

„niederem Volk“, von „dienender Klasse“ und den „Herren“, den Nur- Herren.

Ein „als-ob“-Gegensatz

Der Widerspruch gegen die gleiche „Klasse“, die ehedem regierte, richtet sich heute oft gegen das Nichts, gegen eine Gruppe, die, weil nicht mehr vorhanden, einfach nicht antworten oder gar sich verteidigen kann. Dagegen ist die „neue Klasse“ der Manager, der Technokraten, der Angehörigen gewisser Vereinigungen und snobistisch-vornehmer Klubs nicht eindeutig Gegenstand sozialistischer Angriffe, obwohl gerade sie es sind, die uns „regieren“.

Sozialisten und Sozialistengegner sind ein Begriffspaar in der Argumentation des Sozialismus, der, wie jede Partei, den Gegner als Provokation und als Rechtfertigung seiner Ideen benötigt. Der Sozialismus und seine Gegner sind inhaltlich aber nicht mehr die Gleichen; sie sind heute nicht mehr vertikal stationiert: die einen oben in der gesellschaftlichen Hierarchie und die an deren unten, die einen vorweg privilegiert und die anderen sozial disqualifiziert. Wenn daher heute die Auseinandersetzungen in der glei chen Weise wie ehedem geführt werden, kommt es zu einem „als-ob“- 45ėgbnsSti5',“W elftem “Köfifilkt sehen' einem Proletariat neuer Ar® ifįbhr'-'als Sozialökono mische, sondern als politische Gruppe begriffen werden muß, und den „Herren“, deren Herrenpositioh Vorstellungen entspricht, die durch die Wirklichkeit einfach nicht mehr gedeckt sind. Im Habsburgkonflikt ist das offenkundig geworden.

Der Marxismus im Sozialismus

Die „Krise“ des Sozialismus in Österreich — und nur in Österreich — ist eine Anpassungskrise, ist Ausdruck einer Auseinandersetzung des Sozialismus mit sich selbst, sie ist

Ausdruck eines zeitweiligen Mißverständnisses zwischen Führern und Geführten, das sich an der Peripherie entlädt, bei Ereignissen, die mit dem Wesen des Konfliktes nichts zu tun haben. Die Krise des Sozialismus und das, was dieses Schlagwort bezeichnet, ist ein Mißverhältnis zwischen einem programmatischen Marxismus soll einerseits und der Wirklichkeit anderseits, die man, da die geschichtliche Bedingtheit der marxistischen Aussagen oft nicht zur Kenntnis genommen werden, noch immer mit jener Wirklichkeit gleichsetzt, die ehedem Marx als Vorlage für seine Interpretationen gedient hatte. Damit ist aber auch das Marxismusproblem im Sozialismus gestellt:

Der Marxismus ist sowohl Methode als auch Aussage. Als eine Methode der Erklärung geschichtlicher Ereignisse durch Rückführung derselben auch auf ihre sozialökono- mischen,. Bestimmungsgründe,hąj; dey Marxismus heute wohl unbestrittene Geltung und, .wird, vielfach Jedqch ohne Hinweis, auch von bürgerlichen Interpreten verwendet. Als Methode der Interpretation ist der Marxismus freilich auch Widerspiegelung einer historischen Not und daher mit seinen Aussagen an diese Not gebunden. Das ursprüngliche und vom De- kalog her bestimmte Ethos des (Früh-)Sozialismus, der im Marxismus (so weit er eben Weltanschauung sein will) kommerzialisiert wurde, kann zum Pathos werden, wenn die Reparatur von Zuständen gefordert wird, die abgestorben sind; ganz abgesehen davon, daß die „Aus beutung“ heute in einzelnen Wirtschaftsregionen des Globus auch oft unter Mißbrauch von Anspruchstiteln des Sozialismus vollzogen wird.

Der Sozialismus ist in Österreich an der Macht und an der Mitmacht. Diesem Tatbestand und dem Sozialenthusiasmus von Christen in der Politik verdanken wir die großartigen sozialen Erfolge, die unser Land in die Spitzengruppe der sozialfortschrittlichen Länder aufrücken ließ, diesem Umstand verdanken , wir eine soziale Stabilisierung unserer Gesellschaft und unserer Politik, die in der europäischen Geschichte geradezu einmalig ist. Gerade deshalb muten uns Ereignisse wie die in Vorarlberg bereits wie eine perfekte „Revolution“ an, während dies noch in der ersten Republik zum normalen politischen Alltag, zur Sonntagsgestaltung des „Volkes“, gehörte. Nun wollen viele Sozialisten, heute an der Mitmacht, nicht zur Kenntnis nehmen, daß es bereits ihr eigenes Werk ist, an dem sie Oft Kritik üben, so daß dann nicht selten die Kritik an sozialen und wirtschaftlichen Zuständen unvermeidbar auf sie zurückfallen muß und provozierte Unzufriedenheit sich sogar gegen die Provokateure richtet.

Eine neue Selbstbesinnung täte not

Der Sozialismus bedarf einer neuen Selbstbesinnung angesichts der Tatsache, daß er eine von jener des Ursprunges seines Aufwuchses völlig veränderte Situation vorgegeben hat, an die er sich anpassen muß. Vollbeschäftigung, Kaufkraftüberhang auch bei vielen Gruppen unter den Arbeitnehmern, Freizeitnot als Folge von Freizeitüberfluß bei so manchen, dies alles sind andere Bedingungen als sie in den Konfliktsituationen des vorigen Jahrhunderts, ja noch in der ersten Republik vorhanden waren und den sozialistischen Protest rechtfertigten.

Der Mensch lebt ab einem bestimmten Versorgungsniveau nicht allein von Einkommensvermehrungen und von der Reduktion seiner Erwerb sarbe itszeit.

Gerade in der Versorgungsfülle, im Zustand gesicherter Sättigung, ist eine moralische Grundlegung des einzelmenschlichen und des gesellschaftlichen Verhaltens erheblich wichtiger als in der Situation dauernden Hungers, da dieser die Lebenschancen verkürzt und auf diese Weise auch die Chancen für das Entstehen einer Amoral. Der Sozialismus ist moralisch begründet und sein Verhalten schon vom Ursprung her moralisch diszipliniert, allerdings nicht von einer „sozialistischen“ Moral! Es gibt keine solche „sozialistische“ Moral im Sinn allgemeiner Gültigkeit, es sei denn, man versteht unter Moral nur Solidarität oder vielleicht gar Parteidisziplin. Moral ist auch dann nicht praktiziert, wenn man sich völlig an die Gesetze der Wissenschaft anpaßt, ganz abgesehen davon, daß ein Leben nach wissenschaftlich erkannten Wirklichkeiten nur eine Leerformel ist. Von der Wissenschaft her kann weder Glaube noch Moral konstituiert werden. Die Wirkung wissenschaftlicher Gesetze und die aus ihrer Erkenntnis zu ziehenden Folgerungen liegen auf völlig anderer Ebene. Die Moral ist Forderung nach einem Gesamtverhalten, das in jeder Lebenssituation und auf jeder gesellschaftlichen Ebene vollzogen werden muß. Die Annahme einer Klassenmoral ist dagegen Ausdruck eines heillosen Optimismus hinsichtlich der Natur des Menschen und muß auch (theoretisch) dann versagen, wenn die Klasse selbst in sich vielschichtig ist, weil dann jede Schichte innerhalb der Klasse als sozialer Großgruppe eben wieder von ihren spezifischen Interessen her ihre Moralgesetze bestimmen würde.

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