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Schulreform als Mittel zum Umsturz

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In den zu Ende gegangenen sechziger Jahren standen die nahezu in aller Welt unternommenen Versuche zur Schulreform unter dem scheinbar wissenschaftlich fundierten Gesetz einer „ideologiefreien Sachgerechtigkeit in der Bildungspolitik”. Diese Versuche hinterließen Berge angerissener Probleme, die, meistenteils ungelöst, auf den zahllosen Verhandlungstischen liegen blieben, in endlosen Diskussionen zerredet wurden und in gewaltigen Massen bedruckten Materials die Dokumentationszentren bereichern. Im „Zeitalter des Dialogs” war es nur zu selbstverständlich, daß man es auch in der Schulreform mit einer Art von Praxis hielt, wonach offenbar diskutieren besser ist als produzieren. Zumal es sich einmal mehr erwies, daß bei dem herrschenden Pluralismus der Konsens darüber, was „im öffentlichen Unterricht mit den Kindern geschehen soll”, nur sehr schwer und höchst selten gelingen kann. Das wußten offenbar auch bereits die Väter des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes 1920, die sich in den Fragen des Schul-, Er-ziehungs- und Volksbildungswesens nur in dem Punkt einig werden konnten, daß man die Einigung vertagte; die eine solche Einigung einem „besonderen” Verfassungsgeselz überließen; einem Gesetz, dessen Besonderheit wohl auch darin bestand, daß es 42 Jahre auf sich waren ließ, bis es 1962 zustande kam. *

Und während in den erwähnten sechziger Jahren die auf kulturpolitischem Gebiet tätigen Politiker die ideologiefreien Sprachgewohnheiten der Experten in Sachen Rationalisierung zu erwerben trachteten; die Fachleute der Pädagogik und die Kenner der Materie unter dem Gesichtspunkt einer „Wertfreiheit” diskutieren wollten; und die Massenmedien der öffentlichen Meinung einhämmerten: Schafft die Ideologen fort, nistete sich unversehens eine Ideologie ein, die in der Tarnkappe der Entideologisierung auftritt.

Die Ideologie des Marxismus und die im Anschluß daran entstandenen Ideologien genießen bei dem herrschenden Zustand des wissenschaftlichen Lebens (insbesondere im deutschsprachigen Raum) die Vorteilsregel, als „wissenschaftlicher Sozialismus” gewertet zu werden. Zu dieser Quasi-Wissenschaftlichkeit gehört auch die Annahme, daß links denken eo ipso so viel heißt wie: Immer auf Seite der Schwächeren stehen, der Mittellosen, der ins Unrecht Gesetzten. So bekommt die jetzt von der Linken, also von den Sozialisten und den Linksliberalen, in gang gesetzte Kampagne zur Verwirklichung ihrer bildungspolitischen Ziele, Methoden und Typen sowohl den Charakter humaner Gerechtigkeit als auch den einer wissenschaftlich fundierten Notwendigkeit. In diesem Sinne schreibt Karl Steinbuch 1970 in seinem „Programm 2000” als letzten Satz: Unser Bildungsnotstand ist das Fehlen einer Bildungsideologie.

*

In dem Sammelband „Erwachsenenbildung in dieser Zeit” schreibt sich eine in der österreichischen Volksbildung alt gewordene Generation von der Seele, was sie angesichts der heutigen Problematik der Erwachsenenbildung empfindet. In der Einleitung weist Aladar Pfniß, Leiter des Arbeitsamtes Graz sowie der dortigen Volkshochschule, darauf hin, daß es eine „allgemein gültige Theorie der Erwachsenenbildung nicht geben kann”. Vielmehr seien die verschiedenen Inhalte und Methoden der Erwachsenenbildungsarbeit zu koordinieren, damit das Bildungsangebot den individuellen Bildungsvoraussetzungen möglichst entspricht. Der Bundesstaatliche Volksbildungsreferent für Salzburg, Ernst Wenisch, erinnert in seinem Beitrag an den Grundsatz der „freien Betätigung im Volksbildungswesen”, wie ihn das österreichische Unterrichtsministerium 1960 im Entwurf der (wie oben erwähnt) seit 1920 ausstehenden Regelung des Volksbildungswesens herausgestellt hat. Danach soll in Zukunft diese freie Betätigung jeder physischen und juristischen Person österreichischer Staatsbürgerschaft und jeder juristischen Person ... einschließlich der Körperschaften des öffentlichen Rechtes gewährleistet sein. Ein derartiger Autonomiebereich der Erwachsenenbildung in der Bildungsgesellschaft von morgen wäre ein kostbarer Besitz angesichts jenes Prinzips der Verstaatlichung, das ansonsten im „öffentlichen Unterricht” für Kinder und Jugendliche ausschließlich Geltung besitzt.

Diese vorläufige Zwiespältigkeit im Bildungswesen würde sich indessen im Sinne der Räson der politischen Linken sehr bald auflösen, wenn in Zukunft Kinder und Jugendliche in das „reformierte Schulwesen” des da und dort herrschenden Staatssozialismus gespreßt würden, das mit dazu bestimmt ist, die Gesellschaft zu verändern, was heißen soll: zu revolutionieren. Denn: hat einmal besagtes „neue” Schulwesen die Gesellschaft erwartungsgemäß „verändert”, dann kann man das weitere der veränderten Gesellschaft überlassen. Sie wird, konform mit der im „öffentlichen Unterricht” gültigen Räson, die dort vor-geprägten Menschen permanent weiter erziehen.

Diese Räson wird nicht den Autoren des Sammelbandes „Erwachsenenbildung in dieser Zeit” unterstellt. Sie kommen aus dem Volksbildungswesen der Arbeiterbewegung, der Kirche und aller politischen Richtungen. Ihnen wird man in Hinkunft eher vorwerfen, sie seien noch angekränkelt von jenem Geist der schon legendär gewordenen Koalitionsära in Österreich: Pluralismus, Toleranz, Gespräch zwecks Einigung im Sachlichen, Bereitschaft zu dieser Einigung.

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Der Professor an der Pädagogischen Hochschule Bonn, Felix von Cube, will ein „engagierter Bildungspolitiker” sein. Indem er die aktuellen Probleme einer „Gesamtschule” analysiert, diskriminiert er zugleich das bisherige Schulsystem als Überrest einer — wie Marxisten es ausdrücken — autoritären Gesellschaft. Die vor allem von der Neuen Linken propagierten Begriffshülsen: anti-autoritär, egalitär, vaterlos usw. verwendet auch von Cube im Kampf um jenes „neue Schulsystem”, das die Gesellschaft „verändern” soll. Dem Autor kommt es nicht darauf an, ob das mit revolutionären oder mit reformatorischen Methoden geschieht. Dem beabsichtigten Umsturz der Gesellschaft soll die Bildungspolitik dienlich gemacht werden. So wie der Spätkapitalismus des Industriesystems der Schule befiehlt, zu bestimmten Terminen bestimmte Quantitäten von Experten bestimmter Qualität zu produzieren, wäre der Schule in einem, vor allem von der Neuen Linken, kommandierten Schulkampf befohlen, die sprunghafte, die qualitative, die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen. Auch Herr von Cube unterliegt dem Irrtum bürgerlicher Honoratiorenpolitiker von einst: wer die Jugend hat, hat die Zukunft.

Bei den Umstand, daß die Junge Union der CDU die „familienunabhängige Bildungsförderung” verlangt (ohne Rücksicht auf Programm der Partei) und die in Bonn herrschende Linkskoalition (SPD und FDP) ohnedies auf ihre Variante „Gesamtschule” eingeschwenkt ist, bleibt Herrn von Cube „nur” noch übrig, die Schule aus der überkommenen Ordnung in Staat und Gesellschaft ganz „herauszuoperieren”, um sie für den Umsturz tauglich zu machen. Denn: die „Offene Schule” ist selbst eine gesellschaftliche Kraft. *

Das Industriesystem, die Ideologie der Neuen Linken, der Kulturalismus der heutigen Zivilisation haben die Familie anscheinend zum Betätigungsfeld der Rückständigen, der „Sexmuffel”, der von der Erfolgsgeneration längst Überrundeten gemacht.

Das meiste davon ist nicht mehr als ideologischer Zukunftsglaube. Die Wirklichkeit ist anders. In den USA ergab die im letzten Jahr durchgeführte Meinungsforschung unter Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 21 Jahren, daß 81 Prozent die Art der Erziehung im Elternhaus bejahen. 73 Prozent der Befragten identifizierten sich mit Werten und Idealen der Eltern. 64 Prozent der Eltern stimmen mit den Idealen ihrer Kinder überein. Zu 55 Prozent tun Eltern, was die Eltern aller Generationen taten: sie haben andere Vorstellungen von dem, was „jung sein” bedeutet. Und so gibt es in einem Drittel der Fälle troubles in den Beziehungen Altern—-Kinder. Die Jungen meinen, in 18 Prozent der Fälle käme es aus Alleinverschulden der Eltern dazu; in 74 Prozent der Fälle sei es Schuld beider Teile. So denkt eine neue Jugend der siebziger Jahre, die zu 90 Prozent bestätigt, ihr Leben sei „happy so far”; junge Menschen sagen: I have had a good home, a good family.

Meinungsforschung ist oft nicht viel mehr wert als Futurologie; in beiden „wissenschaftlichen Bemühungen” steckt meistens die Absicht, die Zukunft und die Zukunftserwartung im Sinne einer bestimmten Ideologie — einer Ersatzreligion — auszumalen. Dennoch: die Mei-nungskneter der siebziger Jahre produzieren ein ganz anderes Image der Familie als es die Idol-Autoren der sechziger Jahre taten; nach deren Ansicht die Familie zu jener „schlechtesten aller Welten gehört”, aus der man ausziehen muß, um sie leichter zerstören zu können.

Diese „neue Welle” ist wohl noch nicht in die hinterste Provinz des Amerikanismus, nach Österreich, gedrungen. Um so herausfordernder ist, was Hans Moritz über die „Neuentdeckung der Familie” schreibt. Moritz argumentiert vielfach jenseits der aus den vierziger und fünfziger Jahren stammenden Begrenzung der Familienpolitik, ihres Enthusiasmus der ersten Stunde, ihrer unvermeidlichen Fehleinstellungen. Auf dem Boden der Tatsachen von heute nimmt er die neue Bewertung und Begrenzung vor, namentlich in den Beziehungen Schule und Elternhaus.

Moritz sagt zuerst, was zuerst gesagt werden muß in unserer Zeit: Es geht nicht ohne Eltern. Er reguliert — aber er zerstört nicht — die „konservativen” Erwartungen an einen „progressiven Kindergarten” und die neuen der „Vorschul”-Pädagogen. Inmitten der modernen Verwissenschaftlichung alles Schulischen und der drohenden Verschulung des Menschen eruiert Moritz eine Zone der Erkenntnis zwischen Glauben und Gewißheitsanspruch zugunsten der Familie.

Das schmale Bändchen, das Moritz vorlegt, hat nichts von den euphorischen Kundgebungen in sich, die man auf Festveranstaltungen zu hören bekommt. Mit anderen Worten: Moritz klagt zunächst nicht die Umwelt an; er diagnostiziert Krisen innerhalb der Familie: den leiblichen Rückgang, den geistigen Rückgang, den existentiellen Abfall. Und er überträgt diese Minussalden auf jenes „neue Blatt der Kulturgeschichte”, wo von so vielem die Rede ist; nur nicht von der heutigen „Sisyphusarbeit der Schule” im „Gegenwind der Sexwelle”; vom Unwert der eilfertig hingeworfenen, aber mangelhaft durchdachten Formeln (z. B.: Chancengleichheit als Schlagwort); von der drohenden Verschulung; von der Verkümmerung der Kindgemäßheit.

Die „Familie in neuer Sicht” erfaßt Moritz erst, nachdem er den Raum für die „kindgemäße Erziehung” erkundet hat. Demnach sind für das Werden des Kindes in jeder Hinsicht Erwachsene wesensnotwendig; jedem Kind sind Eltern wesensgemäß, deren „Bilder” Erziehung und Bildung zum ganzen und vollen Menschen am natürlichsten vermitteln. Er wiegt Geborgenheit und Autorität, reflektiert auf die erste mitmenschliche Beziehung im Elternhaus und zeigt den Umriß der Familienerziehung auf.

Die Familie in neuer Sicht ist für Moritz ein Ausblick von einer „vermenschlichten Soziologie”. Am Ende des 20. Jahrhunderts, das 1900 als „Jahrhundert des Kindes” ausgerufen wurde, erleben wir eine Welt der Erwachsenen, in der für das Kind kein anderer Platz mehr zu sein scheint als jener in Erziehungsanstalten des Staates und der Gesellschaft. Gegenüber der vielfach vollzogenen „Delegation der Familienerziehung” an die Ordnungsmächte in Staat und Gesellschaft will Moritz dem Kind das gewahrt wissen, was keine Eltern — oder Staatsgewalt irgendwohin delegieren oder wegbefördern können: den Leib des Kindes, sein unzerstörtes Leben; die Person des Kindes; die Ansprüche des Kindes an die Kultur und an die Gesellschaft; den Anspruch des Kindes, Eltern zu haben, die selbst zum Kind erzogen wurden.

Europa wird jetzt von den letzten Wellen einer Theorie der Erziehung überschwemmt, mit der John Dewey (1859 bis 1952) die namentlich in Österreich gegoltenen Lehren J. F. Herbarts (1776 bis 1841) fast aus den Angeln hob. Als Dewey starb und sein Schüler und Interpret W. H. Kilpatrick (Columbia Teachers College, New York) mit seinem Spätwerk „Philosophy of Education” die progressive Educa-tion zum Leitbild der breiten Massen der Erzieher in den USA machte, war die fällige Antithese bereits da:

R. M. Hutchins (Universität Chi-kago) wies ab den fünfziger Jahren mit wachsender Deutlichkeit darauf hin, daß es in einer Welt des schnellen Wandels nicht gerade darauf ankommt, junge Menschen zur fast kritiklosen Adaptionsfähigkeit an wechselnde Situationen zu bilden. Vielmehr ist ihm das Dauernde zu zeigen, das Essentielle soll begriffen werden, das sich über das Akziden-tielle erhebt. Hutchins spürte die Bedrohung der akademischen Freiheit durch anonyme Mächte in der Gesellschaft, die den Staat bereits gängeln; er wurde ihr leidenschaftlicher Verfechter.

Die unechte Sentimentalisierung des modernen Lebens (in Österreich: Tagesprogramm von ö 3 im ORF), die Verabsolutierung des Praktischen, das Wuchern der zum Teil überschätzten Effizienz des Spezialisten, der „konservativ” gewordene „Progressismus unter allen Umständen”, die Gefahr des Humanen inmitten der Maschinen usw. bewirkten in den USA das Umdenken. Als Hutchins in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre seine Publikationen herausbrachte, waren es Erbsen, geschleudert gegen die solide Wand der herrschenden Meinung. Jetzt, 20 Jahre nachher, wird das von ihm und anderen eingeleitete Umdenken und Neudenken spürbar. Nicht nur dort, wo Dewey nicht erschüttern konnte, weil er selbst zuletzt zugab, er wüßte zuweilen nicht, was an die Stelle einer „sichtlich stabilen Welt” treten wird, wenn diese erst einmal in Frage gestellt ist; Arthur Miller, moderner Bühenautor und Linksintellektueller, warnt so wie Hutchins vor einer Erziehung, die bloße Fakten lehre, anstatt dem Menschen die Selbständigkeit im Denken beizubringen.

Möge diese Wende auch in Österreich und in manchen Parteizentralen erkannt werden, bevor man mitmacht, wenn in feste, neue Schläuche der alte, gebrochene Wein der Welt John Deweys, der Geist des 19. Jahrhunderts, gefüllt wird.

GESAMTSCHULE — ABER WIE? Ein neues Schulsystem verändert die Gesellschaft. Von Felix von Cube. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1972,175 Seiten.

ERWACHSENENBILDUNG IN DIESER ZEIT. Beiträge aus Osterreich zur Theorie der Erwachsenenbildung. Leykam, Graz 1972, 351 Seiten.

Die Neuentdeckung der Familie, Bewertung und Begrenzung der Erziehungseinflüsse in Elternhaus und Schule. Von Hans Moritz. Ernst-Reinhardt-Verlag. München 1972, 76 Seiten.

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