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Eine Gefahr für Osterreich

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Vor einigen Wochen sind die ersten Reaktionen auf die angekündigten Sparmaßnahmen im Dienstpostenplan für die Mittelschulen durch die Presse gegangen. Zunächst erhoben die Angehörigen der unmittelbar betroffenen Institution, die Mittelschullehrer, ihre Stimme. Vertreter und Angehörige dieses Standes wiesen darauf hin, daß von der Einschränkung der Dienstposten unter anderem besonders die „Freigegenstände“ betroffen seien. Unter diesen müßten gerade die modernen Fremdsprachen im Schnittpunkt- und Reiseland Oesterreich, und Chorgesang und Orchesterübungen im Lande Mozarts, Beethovens, Schuberts und Bruckners entfallen. Man muß sagen, der Widerhall war bis jetzt recht bescheiden und maßvoll, vermutlich weil der Elternschaft die erst im kommenden Schuljahr wirksam werdenden einschneidenden Sparmaßnahmen in ihrer schwerwiegenden Bedeutung noch nicht recht bewußt geworden sind.

Welche sind, ganz allgemein gesprochen, diese Einschränkungen? Nichts anderes, als daß zu einer Zeit, da bei einem viel schwächeren Abgang von Maturanten und Schülern der vierten Klassen noch starke Geburtsjahrgänge in die ersten Mittelschulklassen nachrücken, die für diese Kinder erforderlichen Lehrer nicht zur Verfügung gestellt werden. Daher mußte zunächst der Versuch gemacht werden, für die zahlreichen neuen ersten Klassen durch Opferung aller Freigegenstände möglichst viele Lehrer bereitzustellen. Davon wurden auch Freigegenstände betroffen, die für bestimmte Typen notwendig und charakteristisch sind. Am Gymnasium könnte die grundständige moderne Fremdsprache, die als verbindlicher Gegenstand mit der vierten Klasse abschließt, auf der Oberstufe nicht weitergeführt und somit auch nicht bei der Reifeprüfung gewählt werden, ebenso könnten diejenigen Schüler des Gymnasiums, die sich später einem technischen Beruf zuwenden wollen, nicht mehr darstellende Geometrie betreiben. Vom Realgymnasium würde das Französisch verschwinden. Die Auflassung der Freigegenstände im kommenden Schuljahr würde überhaupt ihrer Abtötung für viele Jahre gleichkommen, da ein nicht begonnener Kurs auch nicht fortgeführt werden kann. Eine besondere Härte liegt in der Streichung solcher Gegenstände im letzten Lernjahr, wodurch auch der Nachweis im Zeugnis entfallen muß. Alle diese Freifächer sind nur deshalb nicht verbindlich, weil diese zusätzliche Belastung nicht allen Schülern obligatorisch zugemutet werden kann.

Wie ist es nun zu diesem Manko an Lehrern gekommen? Kurz gesagt: Wer ist daran schuld? Das bis zum Ende des laufenden Jahres verlängerte Budgetprovisorium basiert auf Voraussetzungen, die zu Beginn des Jahres 1953 bestanden haben. Auf dem Gebiete der Mittelschulen sind demnach die Stellen zugrunde gelegt, die im eben zu Ende gehenden Schuljahr erforderlich waren. Diese sind aber, wie schon gesagt, keineswegs ausreichend, um dem im Herbst erfolgenden noch starken Zustrom neuer Schüler, der sich schon jetzt auf Grund der Anmeldungen zu den Aufnahmeprüfungen ziemlich genau abschätzen läßt, gerecht zu werden. Im verwaltungsrechtlichen Sinn sind also alle diejenigen Stellen „schuld“, die aus bundes-finanziellcn Ersparungsgründcn die erforderlichen Dienstposten bisher nicht bewilligt haben. In tieferem Sinne haben wir alle schuld. Die einen, weil sie zuwenig daran denken, daß kulturelle Werte ebenso lebensnotwendig sind wie ökonomische, und weil sie nicht bedenken, daß Schule und Wissenschaft die Grundlagen für das ganze Leben und Gedeihen des Landes und nicht ein bloßer Ueberbau sind, der nur Geld kostet. Die anderen, zu denen besonders die Lehrer und Gelehrten aller Kategorien gehören, weil sie in zu großer Bescheidenheit gern zurücktreten und nur ihre Arbeit, das Werk für sich sprechen lassen. In einer Zeit jedoch, die nur auf laute Töne hört, kann sich die leise Stimme der Kultur zuwenig vernehmlich machen. Es ist daher die Pflicht aller auf kulturellem Gebiet Tätigen, laut und vernehmlich zu fordern, nicht etwa, was sie für ihre Person brauchen, sondern was die kulturelle Arbeit auf allen ihren Teilgebieten benötigt, damit diese Leistungen nicht zum Schaden der Allgemeinheit immer mehr verkümmern und an Wirksamkeit verlieren.

Im vorliegenden Fall geht es letzten Endes gar nicht um „die Schule“ und um „die Lehrer“, sondern um unsere Jugend. Sollte es wirklich auch hier „terriblcs simplifica-teurs“ geben, welche die der Schule drohende Gefahr als eine rein interne Lehrerangclegen-heit betrachten? Es ist freilich sehr simpel, zu sagen: „Sollen eben die Lehrer mehr Stunden geben, dann wird es schon gehen.“ Ich glaube nicht, daß es sonst in Oesterreich Berufsgruppen gibt, denen man es auch nur zumuten dürfte, ihre Leistungen ganz einfach um einen erheblichen Prozentsatz zu erhöhen, geschweige denn, daß diesem Verlangen stattgegeben würde. Die Tätigkeit jedes Lehrers und so auch des Mittelschullehrers, ragt in unserer Zeit so stark in das rein Erzieherische hinein, daß dieses Wirken allein als große zusätzliche Arbeit zu werten ist. Die gegenwärtige Tätigkeit eines M i 11 e 1 s c h u 11 e h r e r s kann mit seiner i'm wesentlichen auf das Unterrichten beschränkten Berufsarbeit vor 193 8“ oder gar vor 1914 überhaupt nicht verglichen werden. Okkupation, Krieg und Nachkriegszeit haben die menschliche und soziale Situation der Familie so schwer erschüttert, daß die Schule zusätzlich ganz erhebliche Erziehungsarbeit nicht nur leisten muß, sondern tatsächlich leistet, damit die Kinder, deren Eltern ausfallen oder versagen, nicht unerzogen oder mangelhaft erzogen, seelisch und sittlich verwahrlosen. Was die Mittelschullehrerschaft dadurch für die Allgemeinheit, für Volk und Staat leistet, wird viel zuwenig, wird vielleicht gar nicht gewürdigt. Es muß nicht nur ein Unterrichtsstoff bewältigt werden, der in den letzten Jahrzehnten gewaltig angeschwollen ist, sondern außerdem eine Fürsorgetätigkeit geleistet werden, die dem Nachwuchs des Volkes, der Jugend, unmittelbar zugute kommt. Der Aufgabenkreis des Klassenvorstandes allein ist so angewachsen, seine Verantwortung hat sich so vergrößert, daß er viele Stunden außerhalb seiner eigentlichen Unterrichtstätigkeit für solche Aufgaben verwenden muß — ohne jegliche Vergütung. Kaum daß ihm dafür eine Stunde in seine Lehrverpflichtung eingerechnet werden kann.

Das Bundesministerium für Unterricht hat sich zu den derzeitigen pädagogischen und sozialen Notwendigkeiten des Schulbetriebes in Erlässen, Tagungen und Aufsätzen ausdrücklich bekannt. Die Tagung der österreichischen Landesschulinspektoren für Mittelschulen in Scheibbs im Jahre 1951 hat die Forderung der „Zuwendung zum Schüler“ genau formuliert und begründet. Auf der Tagung in Krems im Jahre 1952 wurden diese Gedanken konkretisiert. Die Schulauf-sichtsorgane sind ständig bemüht, die Erfordernisse des Unterrichtes mit den Forderungen der Erziehung zu koordinieren, damit die Schule ihrer vornehmsten Pflicht genügen kann, dem Leben und dem Volk zu dienen. Für alle diese Pläne des Unterrichtsministeriums und für die ganze Arbeit der Schulaufsichtsorgane ist die Verweigerung der erforderlichen Lehrer ein arger Schlag. Damit wird das primitivste Erfordernis der' Schule zunichte gemacht, daß in jeder Klasse der nötige Lehrer vorhanden ist. Die Streichung aller Freifächer, die gerade dem individuellen Bildungsbedürfnis und Bildungserwerb dienen, würde das österreichische Mittelschulwesen weit zurückwerfen. Seit Jahren schon führen die Unterrichtsverwaltung und ihr jeweiliger Chef einen verzweifelten Kampf, um auch nur die allernot-wendigsten materiellen Voraussetzungen der Mittelschulen zu ermöglichen. Einige Schulgebäude fehlen, die vorhandenen sind zum großen Teil stark überaltert und sprechen den einfachsten hygienischen Anforderungen höhn. Die Einrichtungen sind völlig unzureichend und vielfach in desolatem Zustand. Die Lehrmittelsammlungen sind teilweise veraltet, meistens unzulänglich. Und trotz dieser prekären materiellen Grundlagen versieht die Mittelschullehrerschaft mit Idealismus, ja geradezu mit Heroismus in vielfach überfüllten Klassen unverdrossen und hingebungsvoll ihren Dienst, ungeachtet der eigenen unwürdigen materiellen Lage. Und bei all diesen Nöten neuerliche Belastung und Restriktion! In der Erziehung und im Unterricht ist Stillstand schon Rückschritt, ausdrücklich angeordneter Rückschritt aber — und so ist die augenblickliche Lage — läßt die Schule verdorren und verkümmern und muß der Lehrerschaft jeden Schwung und jede Arbeitsfreude nehmen. Sieht sie doch, daß ihre Arbeit nicht verstanden und nicht gewürdigt wird. Und das geschieht in einer Zeit, wo in der Oeffentlichkeit in Wort und Schrift über Geburtenrückgang und Kinderschwund geklagt wird! Sind diese Klagen denn wirklich aufrichtig und echt? Man muß daran stark zweifeln. Wie könnte es die Oeffentlichkeit sonst ertragen, daß der Jugend dort, wo sie noch mit starken Jahrgängen vertreten ist, das elementare Recht auf Unterricht und Erziehung verweigert wird; wo alles getan wird, um die Gefahr der Verwahrlosung, der Unbildung, der Kulturlosigkeit zu vergrößern, statt zu verringern? Sind wir schon so gleichgültig, ist das die wahre Innenseite der nach außen zur Feier getragenen „alten Kultur“, daß man stillschweigend die Axt an die höhere Schule legen läßt? Es ist wahrhaftig erschütternd, zu sehen, daß kein Sturm losbricht, daß sich die Eltern nicht energisch zur Wehr setzen. Ist es mit uns so weit gekommen, daß wir unsere Jugend als finanzielle Last, als peinliche Verlegenheit empfinden? Kann es sein, daß die Volksvertreter den wichtigsten Teil — die Zukunft — des Volkes, seine Jugend, nicht vertreten?

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