Lesestunde - © Foto: Getty Images / Universal Images Group / Christophel Fine Art

Bildungsgerechtigkeit: Die Bedingungen des Gelingens

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Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Brennpunktschulen entstehen, darf die Idee von Bildungsgerechtigkeit nicht als sozialistische Spinnerei schmähen. Warum das Prinzip des Wollens immer zwei Seiten hat. Eine Stellungnahme aus der Praxis.

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Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Brennpunktschulen entstehen, darf die Idee von Bildungsgerechtigkeit nicht als sozialistische Spinnerei schmähen. Warum das Prinzip des Wollens immer zwei Seiten hat. Eine Stellungnahme aus der Praxis.

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Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, den Unterricht in zwei sibirischen Schulen zu beobachten. Russische Lyrik orientiert sich stark an klassischen Poetiken; ich dachte an eine Dissertation zur Frage, ob russische Unterrichtsprinzipien zur Lyrik übertragbar seien auf „unseren“, den österreichischen Unterricht zu diesem Thema. Während ab und zu pädagogische Wortmeldungen durch die Schulen hierzulande schwirren, die meinen, es sei mehr oder weniger barbarisch, das Auswendiglernen von Gedichten zu verlangen, sehe ich in der systematischen Auseinandersetzung mit ihren Prinzipien eine – spielerisch zu denkende – Forschungsarbeit, auch jenen zumutbar, die man sich eher mit Hoodie am Leib und dem Mutterfluch auf der Zunge auf einem eingezäunten Wiener Basketballplatz vorstellt.

Sie glauben mir nicht? Ich habe einen Schüler aus dem Irak, im Alter von sechs Jahren ist er in Österreich angekommen, jetzt ist er elf und sitzt in meiner ersten Klasse am Stadtrand von Wien. Sein Wortschatz ist klitzeklein, neulich suchte er nach dem Wort „Topf“. Was er aber gut zu verwenden weiß, ist das Wort „warum“. Warum gibt es einen Dativ? Warum einen Akkusativ? In Wahrheit braucht das Land genau solche Köpfe.

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Üblicherweise sucht man sie nicht in den Schulen, die einmal NMS geheißen haben und jetzt MS, irgendwie wie ein Kreuzfahrtunternehmen. Hier landen jene, die – aus welchen Gründen auch immer – im absurden Wettbewerb, der am Ende der Volksschulzeit einsetzt, zurückgefallen sind. Fußnote: Kürzlich erzählte mir eine Kollegin, in der Volksschule ihrer Tochter habe man alle Kinder mit Migrationshintergrund in die Integrationsklasse gesteckt. Klassenteilung mit System also; das Prinzip des Wollens, das wohl eine Komponente des Lernerfolgs darstellt, ist eine Medaille, die zwei Seiten hat.

Zehnjährige Opfer von Alltagsrassismus

Während des Lockdowns, als der Unterrichtsminister es für angebracht hielt, das Trennen von Lern- und Spielräumen zuhause zu empfehlen, sah ich per Hausübungs-Handyvideos in die Zimmer unserer Schüler. Zum Beispiel in ein Kabinett mit einem Stock-, daneben ein Einzelbett. Ich hörte Klospülungen, Babyweinen, parallelen Online-Unterricht, Gespräche und Teeniegelächter. Dazu kommt, dass viele unserer Schüler eindeutige Erfahrungen mit dem Wiener Herr-Karl-Syndrom machen: Zehnjährige werden in unseren U-Bahnen rassistisch angegeifert, einer musste sich von einer alten „Dame“ den Finger zeigen lassen. Einer berichtet sogar, seiner Tante sei ihr Kopftuch heruntergerissen worden.

Es ist das scheinbar alternativlose neoliberale Modell vom Mehr und Schneller, das eine Vorstellung von Bildung ablöst, in der es noch um andere Werte ging.

Ich will nicht auf die Tränendrüse drücken, die meisten Kinder kommen gut gelaunt in die Schule, ein Elternpaar hat sich neulich – ungewohnt bei uns – über den Zweier beschwert, der dem Sohn in Mathematik „drohte“. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Wollen für manche Kinder schärfer und unter härteren Umständen als für andere. Zu meinen, der Lernfortschritt hänge am einzelnen Kind und die Frage nach dem System sei ein Ausweichen, greift schlicht zu kurz: Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Brennpunktschulen entstehen, sollte nicht davon schwadronieren, dass Gesamtschulen mitsamt deren Grundidee von Bildungsgerechtigkeit bloß die Ausgeburt sozialistischer Spinnerei seien. Wenn man das Wort „System“ übersetzt mit „das politisch So-Gewollte“, hat es System, dass die mit der niedrigen Kaufkraft und den zwei schlecht entwickelten Sprachen zusammengesteckt werden, damit die Illusion von einem Elysium des unbehelligten Lernens aufrechterhalten werden kann.

Weiters ist es durchaus das System, das Lehrerkräfte bindet, wenn an einem ministerialen Schreibtisch erdacht wurde, dass es jetzt (Corona hin oder her) Zeit für den „Qualitätsrahmen mit fünf Qualitätsdimensionen“ ist, der natürlich im Rahmen einer Konferenz besprochen und dann implementiert werden muss, Feedbackschleifen inklusive; dass jetzt und genau jetzt die Zeit ist, verpflichtende Fortbildungen zur Umstellung von Bildungsstandards und informeller Kompetenzmessung anzusetzen; es ist auch das System, das im kommenden Herbst dazu führen wird, dass zumindest an Wiener Schulen für Projekte wie verschränkte Ganztagesschulen, wo Unterricht und Freizeit einander abwechseln, oder Mehrstufenklassen schlicht zu wenig Personal da sein wird.

Sparen auf dem Rücken der Kinder

Schulen mit „großen Klassen“, heißt es, werden bevorzugt – selten ist mir eine derart plumpe Reduktion der Problemlagen an Wiener Brennpunktschulen untergekommen. Dass diese Masche just zu einer Zeit gebunden wird, da mit Christoph Wiederkehr ein Neos-Mann am Bildungsruder sitzt, fühlt sich angesichts der wohlbekannten pinken Formel vom „Flügelheben“ wie das Zeitwort an, das ich den Kindern, wenn es ihnen aus dem Mund rutscht, mit „Auf den Arm nehmen“ übersetze. „Große Klassen“ mit mehr Lehrpersonal zu bedenken, ist generell falsch gedacht; hier hat man die berühmte Hattie-Studie falsch gelesen, die Metastudie von 2008, die in der Verringerung von 25 auf 15 Kindern pro Klasse einen „geringen Effekt“ sieht. Ganz abgesehen davon, dass John Hattie nicht messbare Faktoren, die in das soziale Miteinander hineinreichen, nicht berücksichtigte, deuten die „großen Klassen“ auf einen Umstand hin, der laut ignoriert wird: Städte wachsen, es werden im Hauruck-Verfahren neue Schulen gebaut – und selbst dort ist man nicht in der Lage, den Faktor Klima und Hitze so einzubeziehen, dass ein vernünftiges Lernen auch im Mai und Juni möglich ist, vom angemessenen Bewegungsraum ganz zu schweigen.

Offenbar lässt sich auf dem Rücken von Kindern trefflich sparen – zumindest dort, wo die Eltern nicht mindestens dem gesicherten Mittelstand angehören. Das passt wunderbar ins scheinbar alternativlose neoliberale Modell des Mehr und Schneller, dem unser Schulsystem sich selbst ausliefert, inklusive „den in Umlauf befindlichen Fantasien von lückenlosen Kompetenzen in tausenderlei Dingen“ (so der Bildungswissenschaftler Stefan T. Hopmann); mit dem Ideal der „Transparenz“ wächst logischerweise der Druck, Leistung nach messbaren Kriterien zu definieren; diesem Kriterienkatalog sehen sich dann junge Menschen gegenüber, danach sollen sie ihr Gelingen oder Scheitern benennen lassen.

Die Epoche der Transparenz

Was für eine Verkennung dessen, wie sehr gerade junge Menschen ihrer Epoche ausgesetzt sind! Das „Ideal“ der Kompetenzkataloge und lückenloser Nachvollziehbarkeit löst eine Vorstellung von Bildung ab, in der es noch um andere Werte ging als jenen einen, perfekt in ein wirtschaftliches System zu passen. Zu diesen „anderen“ Werten gehört die Auseinandersetzung mit klassischer Literatur, mit ihren sprachlichen Möglichkeiten und Erzählungen davon, was in einem Leben alles passieren kann – auch in einer nun nicht mehr ganz so Neuen Mittelschule; man muss sich nur ausführlicher der Frage widmen, wie man sie vermittelt. Und: Ein gutes Leben trotz „Scheiterns“ in der Schule kann ebenfalls Stoff für gute Literatur sein – dort ist Platz für weitläufigere Fragen nach den Bedingungen des Gelingens. Die Lehrperson mag dazu beitragen; sie agiert aber in ihrer Epoche, in ihrer eigenen Geformtheit – und in ihrem System.

Ich habe die Dissertation übrigens nicht geschrieben; die Direktorin einer der Schulen war regionale Abgeordnete von Putins Partei „Einiges Russland“. Mein Betreuer warnte mich davor, Forschungsprojekte in einem diktatorischen Staat (sic!) durchzuführen. Ich erinnere mich aber gern an die Lehrerin der anderen Schule, sie war innerhalb von Minuten mit ihren Schülerinnen und Schülern, alle um die zwölf Jahre alt, in einem intensiven Gespräch über Poesie, Puschkin und die Liebe.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule sowie Schriftstellerin. Zuletzt erschienen: „Macbeth Melania“ (Milena 2020).

Lesen Sie zu diesem Thema auch: "Lernprobleme - Kannst du nicht, oder willst du nicht?" von Christian Schacherreiter.

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