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Wien als Bildungszenirum

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Wer von modernen Unterrichtsbehel- fen spricht, muß zunächst einen Blick in ein modernes Schulgebäude tun und seine Inneneinrichtungen sehen, die den äußeren Bedingungen einer zeitgemäßen Unterrichtsgestaltung entsprechen. Die Schulreformstadt Wien ist in der Lage, inländischen und ausländischen Besuchern eine Reihe solcher Schulgebäude zu zeigen. Sie sind ausgestattet mit allen technischen Feinheiten und weisen zweckmäßige Raumgestaltungen auf, die Architekten im Einvernehmen mit Pädagogen und Hygienikern geformt haben. Unter Berücksichtigung des Großstadtraumes — Stadtrandsiedlung oder Innengebiet — und der Bevölkerungsbedürfnisse wurden solche Schulgebäude oder Pavillonbauten schon in der Zeit der Ersten Republik, ganz besonders aber trotz der wirtschaftlichen Notzeiten seit 1945 von der Wiener Stadtverwaltung mit erheblichem finanziellem Aufwand erbaüt.

Das Interesse der Wiener Bevölkerung an solchen Schulbauten und an Fragen des Schulwesens überhaupt bekundet sich in der rührigen Zusammenarbeit der Elternvereine mit der Schule. Es zeigt sich aber auch im Zustrom der Bevölkerung bei der Eröffnung neuerbauter oder nach Bombenschäden wiederhergestellter Schulgebäude. Als vor der Eröffnung des riesigen Schulneubaues der Volks- und Hauptschule für Knaben und Mädchen im vierten Wiener Gemeindebezirk dieses palastartige Gebäude für die Besichtigung freigegeben wurde, strömten drei Tage ununterbrochen tausende Menschen durch die Räumlichkeiten dieser nach modernsten Gesichtspunkten geschaffenen Unterrichtsstätte für Wiener Pflichtschulkinder.

Die Bundeshauptstadt eines Staates, der hintereinander die Hölle zweier Weltkriege mitgemacht hat, kann natürlich nie mit Großstädten von Ländern in materiellen Wettbewerb treten, die eine jahrzehnte- und jahrhundertelange friedliche Entwicklung mitgemacht haben und von Zerstörungen durch Kriege verschont blieben, wie etwa unser glücklicher Nachbarstaat, die Schweiz. Gewiß, auch wir besitzen Schulen mit modernen, lichten, geräumigen Klassenzimmern und mit Garderoben, die nicht in den Klassen,

sondern in anschließenden Räumen oder auf den Gängen untergebracht sind. Unsere modernen Schulbauten haben Klassenzimmer mit eigenen Waschgelegenheiten, mit Tischen und Sesseln statt alt modischer Bänke, mit Buchwandtafeln und Streifentafeln, mit Vorrichtungen zum Aufhängen von Landkarten, mit Dämmplatten statt Bilderleisten, mit akustischer Verkleidung, mit Verdunklungsrollen an jedem Fenster, mit Anschlüssen für Projektion und Rundfunk, mit Gummibodenbelag usw. In diesen Schulen gibt es Ärztezimmer, Physiksäle mit geeigneten Arbeitsplätzen für die Schüler und einem Vorbereitungszimmer, Turnsäle mit Wechselgarderoben und Brausebädern, Bibliothekszimmer und Leseräume, Musikzimmer und Schulküchen mit anschließendem Eßzimmer und allerlei Nebenräumen, gut ausgestattete

Schulwerkstätten usw. Das sind m o- derne Schulbehelfe in bestem Sinne des Wortes, unterrichtlich, erziehlich und sozialpolitisch gleich wertvoll, denn „wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder". Aber wir haben daneben noch viele, viele alte Schulgebäude mit dunklen Stiegenhäusern und mit finsteren, unfreundlichen und kleinen Klassenzimmern, in denen alte, verkratzte Bänke auf ölgetränktem Bretterboden stehen.

Trotzdem kann sich das innere Leben unserer Schule mit ihren modernen Arbeitsweisen wohl sehen lassen und braucht keinen Vergleich mit der Schulentwicklung anderer Länder zu scheuen. Das wird von ausländischen Besuchern immer wieder hervorgehoben. In vielen Schulen Wiens, seien sie baulich auch noch so dürftig ausgestattet, haben wir moderne und modernste Unterrichtsbehelfe. Die Kosten wurden in vielen Fällen von rührigen Elternvereinen bestritten. Da gibt es Sandkasten für Reliefdarstellungen, Radioapparate aller Typen, Anlagen für den Empfang des Schulfunks in den einzelnen Klassen, Apparate für die Projektion von Steh- und Laufbildern neuester Konstruktion, und hier und dort, namentlich in höheren Schulen, hat sich bereits das Magnetophon als moderner Unterrichtsbehelf unentbehrlich gemacht, dem zweifellos noch bedeutende Aufgaben in der Bildungsschule von heute und morgen zufallen werden. Rührige östereichische Verlage haben in den wenigen Jahren seit dem Wiedererstehen Österreichs Unterrichtswerke geschaffen, die nach Ausstattung und Inhalt mit ausländischen Schulbüchern wohl konkurrieren können. Besonders seien hier der Hauptschulatlas und der Mittelschulatlas erwähnt, die zusammen mit den neuen Schulwandkarten

Standardwerke der österreichischen Kartographie und Schulgeographie darstellen und über die Grenzen unseres Vaterlandes viel beachtet wurden. Seit kurzem ist auch das österreichische Wörterbuch erschienen, das im Auftrag des B undes- ministeriums für Unterricht herausgegeben und in mehrjähriger Arbeit nach pädagogischen Gesichtspunkten verfaßt, wurde. Dank der Munifizenz der Gemeinde Wien ist die Wiener Schulver waltung in der Lage, Bücher und andere Lehrbehelfe den Schülern aller öffentlichen Pflichtschulen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Allerdings wäre noch viel Geld der öffentlichen Hand nötig, um alte, vom heutigen pädagogischen, didaktischen und ästhetischen Standpunkt abzulehnende Wandbilder durch neue zu ersetzen. Auch unsere Lehrmittelkabinette, die geographischen, geschichtlichen, naturgeschichtlichen und physikalischen Sammlungen, stehen als traurige Folge von Kriegs- und Nachkriegshandlungen leer, oder sie weisen unbrauchbar gewordene und veraltete Bestände auf. Fleißige Lehrerarbeit in vielen Freistunden vermag hier und dort aus alt neu zu machen, kann aber keine Wunder wirken.

Da ist es nun ein Glück, daß es viele andere moderne Unterrichtsbehelfe gibt, die wenig oder nichts kosten und trotz- den/ reiches inneres Leben der Schule und die Anwendung fortschrittlicher Lehr-

weisen ermöglichen. Begeisterte, tüchtige und heyihafte Lehrer machen eben aus der Not eine Tugend. Es gilt nämlich von Unterrichtsbehelfen genau dasselbe wie von den Spielsachen: Wert und Preis stehen auch hier, wenn auch nicht immer, so doch vielfach im umgekehrten Verhältnis. Teure Lehrmittel sind nicht mehr das auschließliche pädagogische Ideal einer guten Schule. Mit einfachen, von den Schülern unter Mithilfe des Lehrers oder vom Lehrer selbst hergestellten Apparaten lassen sich oft recht gut Versuche durchführen, wenn man sich kostspielige Instrumente nicht leisten kann. Zudem fällt bei Versuchen mit komplizierten Apparaten, so ein drucksvoll sie auch sein mögen, der Fakx tor der Selbsttätigkeit und der Aktivierung der Schüler weg T- Dinge, auf die der moderne Unterricht großes Gewicht legt. Im Rahmen der Hauptschullehrerkonferenzen 1951, die sich mit der Erziehung möglichst hoher Bildungserträga durch gesteigerte Aktivierung der Schüler beschäftigten, veranstalteten einige Lehrkräfte des ersten Wiener Inspektionsbezirkes eine originelle Ausstellung, über die der Wiener Hauptschullehrer an der Besuchsschule des Pädagogischen Instituts, Karl Jonasch, im Märzheft 1952 der österreichischen pädagogischen Zeitschrift .Erziehung und Unterricht“ berichtet. Am Vortag der Konferenz brachten die Kinder aus ihren Klassen selbstverfertigte Modelle, Apparate. Aquarien, Terrarien, Skizzen und zeichnerische Darstellungen aller Art in den

Ausstellungsraum. Es waren modernste Lehrbehelfe; nicht aus verstaubten Lehrmittelkabinetten stammend, sondern direkt aus den Unterrichtsräumen geholtj nicht eigens zu Ausstelungszwecken geschaffen, sondern aus dem laufenden Unterricht erwachsen. Es war nun wirk- lieh ergreifend, die Kinder beim Zusammentragen und Ordnen ihrer Kostbarkeiten zu beobachten: hier rückte ein. noch vor kurzem berüchtigter Raufer eines zweiten Klassenzuges behutsam sein Unkenglas ans Fenster; dort betreuten einstige Gassenbuben, Kinostammgäste und Raucher ihr Terrarium. Knaben und Mädchen brachten Fische, Eidechsen, Molche, Frösche, Schnecken, Käfer, Wasser jungfraularven und selbstver ständlich auch Blumen. „Jede Woche", beißt es in dem erwähnten Artikel, „holen sie neue Gäste, betreuen sie mit Sorgfalt und tragen die alten wieder in ihre einstige Freiheit.“ Das ist wahrlich Erziehung und Herzensbildung bei bester Vermittlung naturkundlicher Kenntnisse. Zwei Buben, die früher selbst Kröten jagten, zankten neulich — so berichtet der Lehrer — beim Heustadlwasser mit anderen Buben, weil diese ein paar Kröten erschlagen wollten. Auch biologische Versuche einer dritten Hauptschulklasse mit den dazugehörigen Protokollen gab es zu sehen: Keimungsversuche, eine Versuchsreihe über den L'cht- und Wärmehaushalt der Pflanzen usw. Aus einem Schullandheim stammten eine Pilzschau und zwei junge Feuersalamander, die die Kinder aus der toten Mutter gerettet und aufgezogen hatten. An einer selbstverfertigten Erdenuhr erlebten Schüler und Schülerinnen Werden und Wandel unseres Planeten in den Jahrmillionen der Erdgeschichte bis in die letzten Sekunden des Welttages im Zeitalter des Menschen. Die Ausstellung zeigte auch Flachmodelle eines Zweitaktmotors, selbstverfertigte Hebel mit Drahthäkchen und Metallscheibchen zum Selbstfinden der Hebelgesetze, Elektromotoren, Federwaagen, Nähmaschinenmodelle und anderes mehr. An den Aus- stelhuigswänden hingen graphische Darstellungen erdkundlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Tatsachen. Hier sah man Zeitung und Rundfunk als Lehrbeheife ausgewertet und den Alltag in besinnlicher Schau betrachtet! weite Welt und breites Leben“ im Sinne Goethes. Auch die so notwendige Staatsbürgerkunde war in lebendigen Darstellungen vertreten, geeignet, künftige Demokraten zu erziehen.

Schon Die ster weg meinte: .Wer nicht n)it der Welt geht, den nimmt auch die W lt nicht mit.“ Das Amt für Kultur und Volksbildung der Stadt Wien hält sich daran und veranstaltet derzeit sechs Konzerte im Großen Musikvereinssaal mit Werken von Weber, Haydn, Mozart und Johann Strauß. Jedesmal sind 2000 Schüler und Schülerinnen der vierten Haupt- und Mittelschulklassen geladen. Der Dirigent, Prof. S w a- r o w s k y, erklärt den jugendlichen Besuchern das Wesen der Orchestermusik, läßt ihnen die einzelnen Instrumente vorführen und macht sie auch mit dem richtigen Verhalten eines Konzertpublikum vertraut. Viele dieser geladenen jungen Gäste werden so angeregt, einmal selbst Konzerte aufzusuchen, wie sie zum Beispiel die Musikalische Jugend Österreichs“ veranstaltet. Auch das .Theater der Jugend“ will ein künftiges verständiges Theaterpublikum erziehen. Im Verein mit seiner Zeitschrift .Neue Wege ist es in Wien längst zu einem vorzüglich organisierten, für jeden Deutschlehrer unentbehrlichen Unterrichtsbehelf geworden.

Uber allen modernen Unterrichtsbehelfen steht freilich die pädagogische Arbeit des Lehrers. Er ist es, der diese Arbeit im Sinne der modernen Bildungsidee zielvoll gestaltet. Die Schule von heute will durch Stoffauswahl und zweck entsprechende Methoden den ganzen Menschen erfassen, neben der Verstandesbildung auch die Gemüts- und Willensbildung berücksichtigen. Die Einseitigkeiten einer bloßen Buch- oder

Lehrschule sollfen ebenso vermieden werden wie die extreme Betonung arbeitstechnischer Unterrichtsweisen im Sinne der Arbeitsschule. Die moderne Schule wfl! also Bildungsschule sein, die durch Aktivierung des Schülers möglichst hohe Bildungserträge erzielt, die dem individuellen Wissen und Können ebenso zugute kommen wie der sozialen Tatbereitschaft und dem Erleben von Werten.

So hat die moderne Pädagogik den Umfang de6 Begriffes .Unterrichtsbehelf“ ganz bedeutend erweitert. Er schließt heute außer den modernen Schulgebäuden und ihren Einrichtungen und außer den Lehrmitteln, die zu Schulzwecken hergestellt und gekauft werden müssen, auch die Beschaffung von Lehrbehelfen durch Schüler- und Lehrerarbeit in sich und nicht zuletzt das Leben selbst, gestaltet durch unterrichtliches und erziehliche Können der Lehrerpersönlichkeit. Es handelt sich dabei also nicht nur um Probleme der baulichen Herstellung und technischen Beschaffung, also um finanzielle und wirtschaftliche Fragen, sondern auch um schuleigene, interne pädagogische Angelegenheiten, die schon Pestalozzi vorschwebten und die die Bildungsschule von heute in voller Breite zu verwirklichen trachtet: .Nicht Kunst, nicht Buch, das Leben selber ist das Fundament der Erziehung und des Unterrichts.“

Der Stadtschulrat für Wien wird im Rahmen der Wiener Festwochen (17. Mai bis 15. Juni) unter dem Motto .Unsere Schule" in den Räumen des Messepalastes eine große Ausstellung veranstalten, die die Vielseitigkeit der an den Wiener Pflicht-, Mittel- und Berufsschulen geleisteten Erziehungs- und Unterrichtsarbeit der breiten Öffentlichkeit eindrucksvoll veranschaulichen soll.

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