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Der „Test“ in der Wiener Schule

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Wer auch nur ein wenig Einblick in das Schulleben von heute hat, weiß um die Schwierigkeiten, vor denen heute der Lehrer namentlich inmitten der Schuljugend der großen Städte und Industrieorte steht. Dreißig Kinder gleichen Alters bedeuteten früher schon kurze Zeit nach Schulbeginn eine fast einheitliche und verhältnismäßig leicht zu lenkende Gruppe; ein oder zwei Außenseiter ließen sich mit einigem Bemühen bald in ■ die Gemeinschaft eingliedern, da die meisten Schüler aus einer ruhigen und wenn auch nicht immer gesicherten, so doch geordneten Kinderstube kamen. Heute aber kann nicht damit gerechnet werden, daß jener Teil der Kinder, der noch aus geordneten Familien stammt, imstande ist, dem durch die Kriegs- und Nachkriegszeit viel größer gewordenen Prozentsatz an Schwererziehbaren die Waage zu halten, geschweige denn einen positiven Einfluß auf sie auszuüben. Viel eher besteht die Gefahr, daß auch an Leib und Seele gesunde Kinder von der Zerfahrenheit und Unrast ihrer Umgebung angesteckt werden.

Um diesem Zustand zu begegnen, wurde vor ungefähr zwei Jahren vom Wiener Stadtschulrat eine Stelle geschaffen, die, aus den jahrzehntelangen Erfahrungen der Wiener psychologischen Schule schöpfend, eine Hilfsstelle für alle Fragen der Erziehung und Entwicklung des schulpflichtigen Kindes sein will. Die Leiterin des Instituts, vor 1938 als Assistentin an der Wiener Universität bei der Ausarbeitung und Publikation der „Kleinkindertests“ (Proben im Hinblick auf die zu erwartenden Leistungen von Kindern bis zum sechsten Lebensjahr) tätig, setzte nach jahrelangem eingehendem Studium im In- und Ausland diese Arbeit mit Entwicklungstesten für die Sechs- bis Vierzehnjährigen fort.“ Die Tätigkeit, an deren praktischem Teil auch eine Gruppe von Lehrern im Rahmen des Pädagogischen Instituts mitgewirkt hat (Eichung der Tests an Wiener Volks- und Hauptschulen), steht vor ihrer Veröffentlichung.

Die Prüfung, der das Kind an der Beratungsstelle unterzogen wird, soll den ganzen Menschen erfassen. Sowohl bei Erstellung der Aufgaben, als auch bei dem nötigenfalls sich anschließenden „Persönlichkeitstest“ und dessen Interpretation, wird versucht, alles, einschließlich der letzten Forschungsergebnisse und Anwendungsmöglichkeiten der modernen Psychologie — ohne Einseitigkeit der Richtung — zu verwerten. In diesem neuen Zweig der Kinderpsychologie — der Persönlichkeitsforschung, treten Massenuntersuchungen, Statistiken und Korrelation immer mehr in den Hintergrund und sind nur noch sekundär — als Ausgangspunkte für neue Erhebungen etwa — von Wichtigkeit. Entwicklungspsychologie, Psychometrik (Messen psychischer Fähigkeiten) und die Ergebnisse der Tiefenpsychologie und Familienforschung bilden die Grundlage dieser Fragen, die auf die Erfassung der Einzelpersönlichkeit im Hinblick auf ihre Begabung, den Reifegrad, den Gesundheitszustand, ihren Lebenshintergrund (Erziehungssituation, Lebensgeschichte usw.), Vererbung und die individuellen Reaktionsweisen abzielt. Das Kind, einerseits als Mitglied einer Altersgruppe und andererseits als Individualität infolge seiner besonderen Veranlagung, Erlebnisse, Umweltbeziehungen und seiner individuellen Art, alles zu verarbeiten, kann nur durch das Erfassen aller Faktoren, die es geformt haben, verstanden werden.

Zur Feststellung des Reifegrades wurde für jede Altersstufe eine Testreihe mit zehn Aufgaben ausgearbeitet, von denen eine die soziale Reife feststellt, während drei die Lernfähigkeit, zwei die Materialbeherrschung und vier die Intelligenz (gesondert nach praktischer Intelligenz und logisch-begrifflichem Denken) überprüfen. Bei auffällig schwachen oder koordina-tionsgestörten Kindern wird überdies noch die Körperbeherrschung getestet. Allein an der Aufzählung der einzelnen Testgruppen ist schon zu erkennen, daß es sich nymt mehr, wie bei früheren Untersuchungen dieser Art, um eine bloße Intelligenzprüfung handelt, bei der jede Funktion isoliert betrachtet wurde, sondern vor allem um die Feststellung, wie die einzelnen psychischen Funktionen zur Anwendung kommen und zusammenwirken. Weil eben Leben Bewegung ist und auch hier erst in der Dynamik das richtige Bild entsteht, so wird ganz bewußt darauf verzichtet, Stationäres festzustellen. Es handelt sich bei der Entwicklungsprüfung also darum, zu erfassen, welche Anlagen vorhanden sind und wie diese Fähigkeiten im Sinne der Leistung eingesetzt und sinnvoll angewendet werden können.

Die Altersgemäßheit der sozialen Reaktionen wird bei den Jüngeren an Hand von Gesellschaftsspielen, bei den Älteren — vom neunten Lebensjahr an, wenn das Kind imstande ist, die Wirkursächlichkeit an konkreten Gegebenheiten zu erkennen und Stellung zur sozialen Situation zu nehmen — an Geschichten (Texten und Bildern) festgestellt.

Die Überprüfung der Lernfähigkeit erstreckt sich auf ein Erproben des anschaulichen Gedächtnisses, des Sprachgedächtnisses und der Nachahmungsfähigkeit. Die so erzielten Ergebnisse sind meist ein getreues Abbild der Schreib-, Sprach-und Leseleistungen des Schülers. Schädigungen der Gehirnfunktion — fast immer der Grund eines Lese- und Rechtschreibdefekts — finden hier ihre Äußerung.

Ebenso altersentsprechend werden die Schwierigkeiten der manuellen Aufgaben gesteigert. Genügt es, wenn ein sechsjähriger Bub richtig mit einem Matador umzugehen weiß und sein Bauwerk benennen kann, so wird einem Zehnjährigen zum Beispiel das Thema „Kran“ gestellt, das bis zur exakten Beweglichkeit richtig durchgeführt werden muß.

Das begriffliche Denken wird an Hand von Schlüssen, Lückentexten, Zuordnen von Begriffen oder Bildgeschichten, deren innerer Zusammenhang erfaßt werden muß, überprüft. Daneben gibt es aber immer noch Aufgaben, die die praktische Intelligenz des Kindes untersuchen. Es sind nicht immer die Dümmsten, die darin versagen; bei neurotischen Kindern sind, da ihre Aufnahme des Tatsächlichen gestört ist, mitunter Angst und Hemmungen so groß, daß ihnen zu einer Manipulation die Kraft fehlt. Wesentlich bei der Interpretation der Intelligenzleistungen ist nicht nur ihre absolute Höhe, sondern auch ihre Beziehung zu den sonstigen Leistungen, vor allem auf manuellem, anschaulichem und sprachlichem Gebiet.

Die Persönlichkeitstests bedeuten, natürlich meist im Zusammenhang mit der Entwicklungsprüfung, den aufschlußreichsten und daher wichtigsten Teil bei der Uberprüfung verhaltensschwieriger Kinder. Kein noch so fruchtbares Gespräch kann in d i e Regionen vordringen, die ein guter Test erschließt.

Mit der Arbeit des Lehrers und Psychologen läuft die der Fürsorgerin parallel. Während das Kind zu spielen wähnt, stellt die Mutter im Nebenzimmer seine Lebensgeschichte dar. Lassen eventuell überstandene Krankheiten auf die Möglichkeit einer Gehirnschädigung schließen oder sind andere Auffälligkeiten da, die in den Bereich des Nervenarztes gehören, so wird eine Untersuchung durch den Psychiater vorgenommen, der einmal wöchentlich an der Beratungsstelle tätig ist.

Vieles, was dem Erzieher aus der Beobachtung des Kindes bekannt ist, zum Beispiel: „Gute Begabung bei schlechter Konzentrationsfähigkeit“, „Verwahrlosung“, „Minderwertigkeitsgefühle“ usw. erfährt durch die Untersuchung von so vielerlei Gesichtspunkten aus erst seine Klärung. Es werden hier alle Kräfte mobilisiert, um die Wurzel eines Versagens richtig zu erfassen. Erst daran kann sich eine Therapie anschließen.

Das Ergebnis der Entwicklungsprüfung wird in Form eines Gutachtens der zuständigen Schulbehörde zur Kenntnis gebracht; es enthält eine graphische Darstellung der Fähigkeiten und deren Verhältnis zum Lebensalter, eine nähere Beschreibung des Entwicklungsprofils, die Deutung der Ursachen aller Schwierigkeiten sowie Ratschläge zu deren Behebung.

Diese psychologische Beratungsstelle ist aus der Liebe zum Menschen geschaffen. Dem Einzelnen und durch die Einzelpersönlichkeit dem ganzen Volk zu nützen, ist ihre hohe Aufgabe. Daraus schon ergibt es sich, daß die Einstellung des Versuchsleiters zum Kinde immer neu, immer diesem einen Wesen zugewandt sein muß. Daher wird getrachtet, notwendige Maßnahmen so zu treffen, daß sie nicht aus dem Rahmen der Familie und ihrer Gepflogenheiten fallen (soweit natürlich die Familie noch Berechtigung hat, diese Bezeichnung für sich in Anspruch zu nehmen). Erscheint die Betätigung in einer Jugendgruppe als wünschenswert, was besonders bei Einzelkindern häufig der Fall ist, s o m u ß a u f Weltanschauung und Milieu Rücksicht genommen werden, da jedes Kind ein festgefügtes Fundament braucht, wenn es je zu selbständigem und folgerichtigem Denken und Handeln kommen soll. So sind

die Aufgaben der Beratungsstelle

in ihrer Vielfältigkeit kurz zusammengefaßt, etwa folgende:

Hilfe zu sein für die Eltern in Erziehungsfragen;

ein klares Bild über das Leistungspotential jener Kinder zu geben, die ganz zu erkennen im Rahmen einer Klasse nicht möglich ist;

zu raten, wie das Kind auf Grund des Ergebnisses der Entwicklungsprüfung im Verein mit Eltern und Schule am besten zu behandeln ist;

Maßnahmen vorzuschlagen, die aus dem Ergebnis der Entwicklungsprüfung erwachsen und über den Bereich der Familie hinausgehen. (Umschulung in eine andere Schultype, Heimunterbringung usw.) und

seelisch gestörte Kinder einer psychotherapeutischen Behandlung und eventuell einer heilpädagogischen Nachhilfe zuzuführen.

Wir geben um so bereitwilliger den vorstehenden Ausführungen von fachkundiger pädagogischer Seite Raum, als die! Öffentlichkeit bisher sich mit dem Testinstitut der Wiener Schule weniger befaßt hat, als die Bedeutung, Reichweite und Wert der Einrichtung begründen würde. Gerade deshalb, weil die Wirksamkeit dieser schulpsychologischen Beratungsstelle in die Erziehung und Persönlichkeitsgestaltung schulpflichtiger Jugend der Großstadt einzugreifen vermag, soll die Bevölkerung auch um Plan und Arbeitsweise der Anstalt wissen.

Wo das Elternhaus die weltanschauliche Einstellung in der Behandlung schwererziehbarer Kinder bestimmt, werden die Aufgaben der Beratungsstelle verhältnismäßig eindeutig sein; anders liegt der Fall, wenn das Elternhaus versagt und die Beratungsstelle die Erziehungsmaßnahmen allein zu bestimmen hat. Nur Erziehungspersönlichkeiten von idealer Gesinnung können den gestellten Aufgaben entsprechen. Das Institut ist noch jung. Seine Bewährung wird sich bald zeigen. Eine uns aus dem Kreise fachkundiger katholischer Erzieherschaft zugehende Beurteilung ist bei aller Reserve positiv. Die Furche“

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