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Erziehung ohne Strafen in der frühen Kindheit

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Züchtigung von Kleinkindern drückt Ratlosigkeit der Eltern aus: Erst heute beginnt uns so richtig bewußt zu werden, um welch heiklen und störungsanfälligen Vorgang es sich beider sozialen Menschwerdung in der allerersten Lebenszeit handelt. Vor allem die Beziehung zu den Mitmenschen, das spätere Sozialverhalten, erfährt hier die entscheidende Prägung.

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Züchtigung von Kleinkindern drückt Ratlosigkeit der Eltern aus: Erst heute beginnt uns so richtig bewußt zu werden, um welch heiklen und störungsanfälligen Vorgang es sich beider sozialen Menschwerdung in der allerersten Lebenszeit handelt. Vor allem die Beziehung zu den Mitmenschen, das spätere Sozialverhalten, erfährt hier die entscheidende Prägung.

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In einem Alter, in dem der Mensch noch nicht denken und sprechen kann, prägen ihn bereits die Erfahrungen und Erlebnisse mit menschlichem Umgang. Das Neugeborene muß im umfassendsten Sinne „zu leben lernen".

Die wissenschaftliche Durchdringung des Problemkreises „Früherziehung" als via Regia zur Prophylaxe psychosozialer Fehlentwicklung wurde im Fach Kinderheilkunde einem allgemeinen Trend entsprechend bis in die jüngste Zeit sträflich vernachlässigt. Man war fast ausschließlich an organischen Fragestellungen interessiert.

Diese Mängel auf dem theoretischen Gebiet der medizinischen Ausbildung waren auch die Ursache für das organisatorische Versagen so bedeutender Institutionen - sie zählen überhaupt zu den wichtigsten - wie die Mütterberatungs- und Schwangerenberatungsstellen.

Bis heute sind die meisten in Mütterberatungsstellen Tätigen auf ihre begrenzten Erfahrungen und ihre privaten vorwissenschaftlichen Vorstellungen angewiesen. Dazu kommt, daß die wenigen Möglichkeiten, sich zu orientieren, in Werken niedergelegt waren, die von Autoren stammen, die von ihrer hohen hierarchischen und allmächtigen Warte aus subjektive Empfehlungen gaben, die bis heute nachwirken, aber für die Erfordernisse unserer heutigen Gesellschaft doch teilweise als anachronistisch angesehen werden müssen.

Hier ein für jedermann verständliches Beispiel: Noch vor 18 Jahren habe ich bei Dienstantritt in meinem Spital die Besuchssituation für das Kleinkind folgendermaßen vorgefunden: vor dem Eingang zum Krankenzimmer, in dem etwa 6 bis 8 Kinder lagen, wurden als Barriere zwei Stühle gegeneinander gestellt. Dahinter reihten sich traubenartig die besuchenden Angehörigen, die ihre Kinder kaum sehen und ihnen nur auf Distanz zuwinken konnten, was natürlich bei den Kindern zu herzzerbrechenden Schreiszenen führte.

Über solcherart geübte harte und sinnlose Praktiken dürfen wir uns nicht wundern: in Adalbert Czernys Werk „Der Arzt als Erzieher des Kindes", auf zahlreichen Kongressen in Festreden bis in die heutige Zeit Kinderärzten als wegweisend für Erziehungsfragen wärmstens empfohlen, lesen wir zum Beispiel unter vielen anderen obsoleten, bei den jetzigen Erkenntnissen skurril anmutenden Ratschlägen folgendes: „Ein Arzt ist genötigt, darauf aufmerksam zu machen, daß eine liebevolle Behandlung, wie sie manchmal Säuglingen durch ältere Personen zuteil wird, unterlassen werden soll." . Konrad Lorenz, der sich in einer Arbeit „schon mit den ganz kleinen Menschen", wie er sagt, beschäftigt, spricht von „Brülltyrannen, die sich innerhalb weniger Tage in artige Säuglinge verwandeln und nicht mehr schreien sowie sie zum Beispiel in einer Kinderklinik oder in einer Krippe auch nur kurze Zeit dem Einfluß ihrer allzu nachgiebigen Mutter entzogen sind".

Derselbe Autor an einer anderen Stelle: „Die allzu weiche, liebebedürftige Mutter wagt meistens deshalb nicht, die feste Hand zu zeigen, derer ihr Kind bedarf, weil sie fürchtet, seine Liebe zu verlieren. Ein großer Irrtum' Wenn man als Onkel Doktor ... in die Lage kommt, einem solchen bis zum neurotisch werden verzogenen Kind gegenüber zu kräftigeren disziplinarischen Maßregeln zu greifen, so würde man in Anbetracht der sonstigen gehässigen Reizbarkeit und der geradezu affenartigen Bosheit, die das Kind seiner Sklavin Mutter gegenüber entwickeln kann, durchaus erwarten, daß es diese Erziehungsmaßnahme mit äußerster Abneigung, ja mit Haß gegen den bösen Mann quittiert, der es wagt, seine Majestät zu bestrafen oder gar einmal gelinde übers Knie zu legen."

Otto König hat diese Passagen aus einer alten Arbeit seines Lehrers neuerdings abgedruckt, um, wie er meint, diese richtige Ansicht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und der bekannte deutsche Sozialpädiater Hellbrügge ist der Auffassung: „Es gibt kein wissenschaftlich begründetes Ergebnis, nach dem die körperliche Bestrafung grundsätzlich schlecht ist."

Interessant ist hier die theoretische Überlegung Portmanns, daß der neugeborene Mensch biologisch als „physiologische Frühgeburt", also sein Schon-auf-der-Welt-sein nur als Abkürzung seiner Intrauterinperiode, betrachtet werden muß und daß die lange Periode völliger Hilflosigkeit und Abhängigkeit in der ersten Lebenszeit des Menschen der Preis für seine hohe geistige Entwicklung ist.

Es ist nach unserer Auffassung völlig sinnlos und mit hoher Wahrscheinlichkeit schädigend, in der „frühen Kindheit" (wir verstehen darunter die ersten zwei Lebensjahre) zu schlagen. Ich habe ja schon wiederholt daraufhingewiesen, daß auf Grund einer Befragung in Österreich die meisten Säuglinge schon im Alter von durchschnittlich zehn Monaten zum ersten Mal körperlich gezüchtigt werden.

Wir gehen mit dem schweizerischen Pädagogen Hans Zulliger absolut darin einig, daß die straffreie Erziehung die Erziehung der Zukunft ist. Die Aufgabe aller modernen Zweige der Sozialwissenschaften (also auch der Sozialpädiatrie) besteht darin, allmählich Methoden zu finden und auszuarbeiten, welche das Strafen bei der Erziehung ganz allgemein überflüssig machen.

Wenn sich als erster Schritt einer Erziehungsreform die Einsicht durchsetzen könnte, daß jede Art von Strafe in den ersten zwei Lebensjahren, die ja im Grunde genommen nur der Unwissenheit und Ratlosigkeit des erwachsenen Erziehers entspringt, als Erziehungsmittel nicht in Frage kommen kann, hätten wir viel, vielleicht alles gewonnen.

Abschließend sei gesagt, daß die Beschränkung zunächst wenigstens auf ein Minimum von Gewalttätigkeit und unnötigem Zwang, von Vernachlässigung natürlicher Bedürfnisse des kleinen Kindes nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelwesens am Lebensanfang, sondern damit auch automatisch die Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen der heranwachsenden Generation verbessern würde.

So gesehen, könnte schon im Schöße der jungen Familie die Reduzierung der bedrohlich anwachsenden Aggressionen im eigenen Lande und über die Grenzen hinaus ihren Anfang nehmen.

Univ. Prof. Dr. Hans Czermak ist Professor für Kinderheilkunde an der Universität Wien

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