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Islands Kinder

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„Wie heißt du?“ — Ein kleiner Isländer von etwa fünf Jahren tritt mir mit dieser Frage an einem meiner ersten Reykjaviker Tage Ln den Weg. Etwas verdutzt nenne ich ihm meinen N-men. „Und wo arbeitest du?“ geht das Verhör weiter. Das ist schon sdiwe-rer zu beantworten, und ich schaue mir erst einmal das heraufgewendete Gesichtl da unter mir genauer an: offene, liebe Züge, ohne eine Spur von Frechheit oder auch nur Ubermut im Warten hinter der Frage her, sondern so viel sachlicher Ernst, daß mein Schweigen mich plötzl'ch verlegen macht wie vor einem Erwachsenen, dem ich Antwort schulde, und ich zeige schnell in irgendeine Richtung nach einer imaginären Arbeitsstätte. Der Kleine gibt sich damit zufrieden und trabt davon. Aber für mich hat mit diesem Gespräch ein psychologischer Lehrgang begonnen, der mich durch wechselvolle Phasen zu einem ganz neuartigen Verständnis der hiesigen Kinder — der kleinen wie der großen! — geführt hat und mir auch alle frühere Menschenerfa! -ung noch im Rückschauen neu beleuchtet.

Das isländische Kind verblüfft zunächst durch seinen Ton, durch die völlig ungehemmte Freiheit seiner Meinungsäußerung und den Mangel jeder Scheu im Umgang mit Erwachsenen, ein Lockersein, das durch die angeborene Zarückhaltung der isländischen Natur noch ganz besonderen Reiz erfährt. Denn es bewegt sich schon von früh an, nur auf schmälstem Steg gleichsam, von Mensch zu Mensch, mit instinktiver Sicherheit, die weder Eignes preisgibt noch andere je verletzend nah berührt.

Eine so fein entwickelte Balance ist gar nicht denkbar ohne die Freiheit eigener Entscheidung und unter dem Druck der uns geläufigen Erziehungskräfte. Daher erscheint das Kind hier manchem nur oberflädi liehen Beobaditer so leicht als ungezogen, anmaßend und jedenfalls dem Drill der europäischen Schulung widersprechend.

Aber hierin liegt gerade der wesentliche Unterschied: der Isländer sieht in seinem und jedem Kind den kleinen, geliebten Kameraden und ist ihm umgekehrt der größere, stärkere, aber gleichbefugte Freund. Gewalt und Zwang, Furcht und Verschlagenheit schließt das Verhältnis aus.

Viel trägt zu diesem inneren Ausgleich die materielle Gleichstellung der Kleinen mit den Großen bei. Denn sie alle arbeiten schon denkbar früh für Geld, verhandeln selbständig mit Arbeitgebern und Vermittlern, ZeitungsVerteilern und Käufern als Warenausträger, Einkassierer und dergleichen, verdingen sich ohne Unterschied vom zehnten Jahre an für die Dauer der Schulferien um beträchtlichen Lohn bei Bauern zur Heuarbeit und zum heißbegehrten Schafetreiben aufs Land oder zum Kinderhüten, das auch gut bezahlt wird, bei den geplagten Müttern ohne Hilfskraft in der Stadt. So ein kleiner Kerl muß hier wie dort in mancher Lage sich wie ein Erwachsener erproben, den Zufällen von Sturm und Wetter gewachsen sein, geisicsgegenwärtig im Umgang mit Tieren und Maschinen und voll Verantwortung von früh an für die ihm anvertrauten noch Kleineren. Natürlich tritt er dann, mit dem Monatslohn eines Wiener Mittelschullehrers in der Tasche, ganz andere auf als unsere im allgemeinen viel länger abhängig gehaltenen Kinder von einst. Er kennt den Wert der Sachen im Leben wie in den I äden, da r schon früh allein für seinen Bedarf aufkommt und dies durchaus nicht, weil seine Eltern ohne Mittel wären. Man gewöhnt rieh auch bald an das zunächst befremdliche Schauspiel, ein kleines Kind zum Beispiel sein Schuhwerk selbst mit kritischem Blick und Griff wählen zu sehen oder gar dem Jüngsten im Wagerl die Mütze für den Winter anzuproben. Zu diesem Schauspiel gehört dann auch die er'- rechende Rolle des Verkäufers, der seinen kleinen Kunden genau so ernst und höflich bedient wie den 50 Zentimeter höher Gewachsenen — gehören die Rollen der Umstehenden, die ihm den Platz einräumen, der ihm zukommt, und sdiließlich audi hinter den Kulissen die Rollen der sehr kinderreichen Eltern, die sich auf ihren Sprößling verlassen müssen und ihn mit diesem Vertrauen ebenso oder besser stützen als andernorts Bevormundung und Uberlegentun der Erwachsenen.

Natürlich bleibt solche Selbständigkeit nicht auf Verdienst und Verantwortung in frühesten Jahren beschränkt. Auch die Freizeit dieser kleinen Erwachsenen ist weit mehr als dies bei uns, zumindest noch vor zwanzig Jahren der Fall war, ihrem Belieben überlassen, und wir können bis heute nicht beurteilen, ob dies nur der Überlastung der Eltern und ihrer Ohnmacht, die Kinder zu überwachen, oder einem angeborenen pädagogischen Instinkt zuzuschreiben ist. Wahrscheinlich beidem, zu dem noch ein drittes Moment entscheidend hinzukommt: näm'-ich das abnorme Klima des Landes, das jede Stunde guten Wetters, vor allem aber die kostbare Zeit der hellen Tage und Nächt atrfs Äußerste m nötren gebietet. Daher it es ganz anders zu bewerten, wenn in den Sommermonaten die Jugend bis spät in die Nacht hinein die Straßen bevölkert, die Kleinen mit ihren Spielen genau wie zur Tageszeit des Zifferblattes, die größeren in Rudeln bis gegen Mitternacht straßauf, straßab. Besonders letzteres hatte zur Zeit der militärischen Besetzung Anlaß zu mancherlei Schwierigkeiten gegeben, da man von Soldaten, die das Großstadtleben normaler Zonen kannten, kein spontanes Verständnis der hiesigen Situation verlangen konnte und auch diese kaum Halbwüchsigen in ihrer gewohnten Unbefangenheit, zunächst wenigstens, keinerlei Änderung in ihrem Gehaben aufwiesen. Nun, das hat sich allerdings wesentlich geändert, und zwar nadi beiden Seiten hin, zum Guten wie zum Schlechten. Aber uchon heute erscheint uns das nächtliche Straßenb'1 \ wieder dem der Vorkriegszeit wesentlich ähnlicher als in diesen Jahren allgemeiner Unruhe und Unsicherheit, und erfreulicherweise scheint die lange gefährdete Lauterkeit und Unmittelbarkeit der hiesigen Jugend in ihrem Kern nicht angetastet.

Wie aber sieht das Schulwesen mit solchem Schülermaterial aus“1 habe ich mich bald nach meiner Ankunft hier gefragt und kann nun eigene Erfahrung und die Berichte meiner Kinder ergänzen durch Diskussionen mit Lehrern aller Stufen: natürlich ist die Disziplin auch hier auf andere Kräfte als die einer latenten Übermacht des Erwachsenen gestützt, ja in gewissen Kreisen Europas dürfte man dem hiesigen Schulbetrieb jenen scharfkantigen Begriff überhaupt absprechen. Schon allein der Umstand, daß sich von früh bis zur Matura hinauf Kinder und Lehrer gegenseitig duzen und mit dem Vornamen“' nennen, schafft eine neue, wärmere Atmosphäre im Schulraum wie im geselligen Leben Islands überhaupt, an die man sich erst gewöhnen muß.

Nun sollte man glauben, daß diese Lockerung die notwendige Autorität des Lehrers beeinträchtigt und mit der Distanz auch die zur Ordnung unerläßlichen Hemmungen wegfallen. Das tun sie auch. Aber wieder beiderseitig. Nämlich nicht nur der Schüler fühlt sich dem Lehrer kameradschaftlich näher gerückt, auch dieser verzichtet unwillkürlich auf ein Piedestal außerhalb seiner sachlichen Überlegenheit, die der Schüler im Grunde sucht und liebt. Und darum ist das Ergebnis '.eine chaotische Anardiie, sondern ein freies LI i t einanderarbeitem. Dem fehlt zwar mandier Schliff von unseren Schulen, und man hat seine Mühe, ein Kompromiß zwischen hier und drüben herzustellen, aber dafür vermißt man herzlich gern jede Regung von Tücke, Trotz und Widerstand. Tatsächlich gibt es lier, von krankhaften Ausnahmen abgesehen, kein bösartiges Kind. Ungezogene, nachlässige, faule Schüler natürlich, neben dem sehr begabten, gutwilligen Durchschnitt — aber keine Bosheit! Ja, man ist versucht, diee als Reaktion auf falsche Machtverteilung Knebelung oder Mißhandlung der natürlichen Freiheit zu werten. Die kameradschaftlidie Haltung des Lehrers läßt nicht einmal jenen harmlosen Reiz zum Schabernacktreiben aufkommen, der einst unser Schulleben gefärbt hat. Hier; verfehlt er seine Wirkung wie ein lachend erzählter Witz. Idi erinnere mich noch heute an die sensationelle Spannung einer ganzen Klasse von geduckten Angsthasen, als unser mutigster Mitschüler einmal gewagt hatte, sidi in \bwesenheit des Lehrers auf dessen Platz zu setzen und das darauffolgende Donnerwetter 'insere Erwartung auch pünktlich belohnte. Hier ist dasselbe während des Unterrichts und hinter dem Rücken ies anwesenden Lehrer passiert. Der dreht sich um, lacht, fragt, wie sichs da oben sitzt und nachdem der Kleine dunkelrot heruntergesprungen ist, darf ein andrer hinauf und probieren, wies sdimeckt. Das Spiel hat aber schnell seinen Reiz verloren, und die zwei Minuten Unterrichtspause haben die Gesellsch?r vergnügt gemacht und überdies eine Wiederholung in Zukunft unwahrscheinlich. Natürlich gibt es andere und schwieriger zu lösende Fälle, aber re Grundhaltung bleibt dieselbe und der unvermeidliche Reibungskoeffizient wird damit auf ein Minimum reduziert.

* Die geringe Zahl der Inselbewohner bedurfte bisher nodi gar nicht der Familiennamen in unser- .. Man kommt zur Unterscheidung der einzelnen Björns oder Gudruns noch mit dem Hinweis auf ihre Väter aus, meist aber kennt jeder den anderen ohnehin und kann auf solche appositionsartige Beinamen wie Olafsson oder Gisladottir verziditen. Daher erfährt der Frauenname auch b“i der Eheschließung keine Änderung wie bei uns, denn „sie“ bleibt ja sie selbst sowie die Tochter ihres Vaters und allen übrigen zuge-'ris; wie in derselben großen Familie.

Der weil größere Gewinn aber Regt in der auf solche Weise gewahrten Offenheit des Verhältnisses zu den Kindern, in ihrer ganz allgemeinen Ehrlichkeit, die auch den erwachsenen Isländer kennzeichnet.

Denn was uns an diesen Erwachsenen von Anfang an so ungewohnt kindlich berührt, daß wir noch heute ihr Alter immer weit unterschätzen, das mag — zum Teil wenigstens — gerade diese völlig unverbogene Haltung, J.ie ungehemmte Freiheit und Einfachheit ihres Wesens sein, die nichts mit der Einfalt unkultivierter Schichten in jedem anderen Volke Europas gemeinsam hat. Denn der Isländer ist mit Recht stolz auf seine ausnahmslos hohe Kultur. Ist trotz dieser Kultur erstaunlich formlos und, wie eben Kinder, undiszipliniert geblieben im Willen und Gehaben, so daß wir uns in seiner Gesellschaft immer wieder wie „Erwachsene“ und von unsichtbaren Gewichten belastet rühlen. Ob wir nun auf einer Wanderung Proviant und Zeit und Leibeskraft schonend berechnen oder imstande sind, eine Flasche auch halbgeleert beiseite zu stellen für eine andre gute Stunde oder auch nur auf irgendeine Weise für den nächsten Tag vordenkem. — Denn welches Kind tut das? — In dem hier öffentlich einzusehender Steuerverzeichnis finden sich auch neben den höchsten Einkommen nur verhältnismäßig geringe Beträge in der Rubrik, die den Besitz aufzeigt. Man lebt, wie Kinder es tun, *on der Hand in den Mund, wie echte Fischer es tun: von Netz zu Netz. Und wenn ihr Zug gut war, wie in den letzten Jahren, dann genießen sie den Tag und damit das Leben. Aber auch das ist eine Weisheit, die gelernt sein will. Das haben wir viel zu alten von diesen Kindern in unsrer Zeit der Umwertung aller Werte vielfadi erfahren. Wer weiß, ob nicht die ganze Alte Welt von ihnen lernen könnte, um ihre Freiheit zurückzugewinnen, und eine Haltung, die weder Tücke und Vorsicht noch Falschheit und Mißtrauen zulläßt.

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