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Die verlorene Kindheit

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Kindheit heute ist nicht die des Little Lord Fountleroy oder auch nur von Pippi Langstrumpf. Kindheit ist ebenfalls nicht die, gegen die sich die radikal-emanzipatorische Kritik richtet: die umsorgte, von Kinderliebe und Geschwisterrivalität, von Spielphantasien und Wohlanständigkeit durchwaltete Existenz des Kindes in der bürgerlichen Kleinfamilie.

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Kindheit heute ist nicht die des Little Lord Fountleroy oder auch nur von Pippi Langstrumpf. Kindheit ist ebenfalls nicht die, gegen die sich die radikal-emanzipatorische Kritik richtet: die umsorgte, von Kinderliebe und Geschwisterrivalität, von Spielphantasien und Wohlanständigkeit durchwaltete Existenz des Kindes in der bürgerlichen Kleinfamilie.

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Soviel davon auch da ist, vorherrschend beginnen andere Tatsachen zu werden, die um so stärker wirken, als sie von Ideen begleitet oder getragen sind.

Kindheit heute ist Fernsehkindheit: die Welt (von der die Erwachsenen reden, vor der sie Angst haben, auf die sie warnend hinweisen) erscheint verkleinert, zerstückelt, an- und abstellbar, in absurder Mischung, ohne Zusammenhang in sich und erst recht mit der Wirklichkeit. Dabei ist sie aufregend, extrem, glanzvoll und elend, übertrifft in allem meine kleine erlebbare Umwelt und macht sie unbedeutend.

Außerdem stimmt wenigstens für die Kinder, was Marshall McLuhan sagt: Das Medium, genauer die Mediatisierung, das Vermitteltsein ist (selber) die Botschaft. Die Inhalte treten hinter der Machart zurück.

Die Berechnung, mit der das Fernsehprodukt hergestellt worden ist, löst Berechnung aus; der errechnete Adressat und seine errechneten Wahrnehmungsgewohnheiten und Vorlieben werden bestärkt - also der Durchschnitt: Weil der durchschnittliche Fernseher eine Einstellung von mehr als 35 Sekunden nicht erträgt, darf keine Szene länger dauern als 35 Sekunden. Wenn die so „geprägten” Kinder dann in der Schule Konzentrationsschwierigkeiten haben - wen wundert's?

Kindheit heute ist pädagogische Kindheit: immer mehr Erwachsene filtern ihre Taten und Äußerungen gegenüber den Kindern durch das, was sie als „die richtige Erkenntnis von der Pädagogik” zu haben meinen; sie agieren und reagieren nicht spontan, nicht aufgrund dessen, wovon sie selber überzeugt sind, was sie selber erfahren haben und was sie darum „emphatisch” - einfühlsam - beurteilen können, nicht als die Person, die sie sind, auf die Person hin, die das Kind ist. Das Kind ist für sie ein schwieriges Behandlungsobjekt.

Natürlich hat es auch in anderen Zeiten Erziehungslehren gegeben, die die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern bestimmten. Aber allein, daß sie sich - wie etwa im Struwwelpeter - in Bilder und Typen bringen ließen, zeigt den Unterschied: dort gelebte Szenen mit drastischen Folgen - hier eine abstrakte, dem Kind nicht erklärliche Mittelbarkeit.

Kindheit heute ist Schulkindheit. Kindheit ist - außer durch die Familie - durch nichts so stark bestimmt wie durch Schule, obwohl man weiß und nachweisen kann, wie gering der Erfolg der Schule, gemessen an ihren eigenen Erwartungen, ist.

Die Schulkindheit beginnt mit einer Vorschulkindheit: einem zwar spielenden, aber doch vorgebahnten, auf Schulfertigkeiten ausgerichteten Lernen. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Kind nicht in eine Vorschulklasse oder einen Kindergarten geht. Die Erwartungen und die „Idee” von Kindheit zielen prinzipiell darauf.

Dies mag menschenfreundlich und klug gedacht sein - vorausgesetzt, daß die Schule in ihrer gegebenen Form notwendig ist. Diese Schule heißt ihrerseits: vorgeschriebene Gegenstände, Verfahren, Zeitabläufe, Verhaltensweisen und vor allem eine eigentümliche Konfiguration von Personen - 30 Gleichaltrige und ein Erwachsener. Und der Erwachsene ist ein Lehrspezialist, der nur für Kinder nützlich und wichtig ist und für alle anderen Menschen entbehrlich (wie viele der Gegenstände auch, die er lehrt).

Kindheit heute ist Zukunftskindheit. Sie wird nie ganz in der Gegenwart gelebt, ist immer auf morgen, auf die (von anderen) geplante Welt bezogen, auf das Zeugnis am Jahresende, auf den Numerus clausus, auf den Beruf und den Arbeitsplatz - und auf alle Anforderungen, Vorstellungen, Maßstäbe, die dann gelten werden, aber jetzt noch nichts bedeuten.

Kindheit heute ist eine Stadtkindheit, eine Kauf-und-Verbrauch-Kindheit, eine Verkehrsteilnehmerkindheit, eine Spielplatzkindheit, in der sich die Kinder nach Werner Düttmanns unsterblichem Wort als kleine „Spielplatzbeamte” betätigen. Ihnen fehlen elementare Erfahrungen: ein offenes Feuer machen, ein Loch in die Erde graben, auf einem Ast schaukeln, Wasser stauen, ein großes Tier beobachten, es hüten, es beherrschen ...

Das Entstehen und Vergehen der Natur, die Gewinnung und Verarbeitung von Material zu brauchbaren, notwendigen Dingen, ein großer dauerhafter, bedeutender Streit, der nicht bloß persönlicher Zank ist, der Ernstfall, der nicht Fiction oder Katastrophe ist, werden dem Kind - wie den meisten Erwachsenen - vorenthalten.

Die Erwachsenen haben immerhin ihren Beruf, ihre Geld-, Zukunfts-, Erziehungssorgen, und mehr Abenteuer wollen sie meist nicht. Das Kind dagegen kann sich Bewährung und Risiko nur einbilden oder erlisten: durch Zerstörung und mutwilligen Verstoß gegen die Regeln, die Erwartungen und die Vernunft. Daß nicht einmal die Städte richtige Städte sind, sondern getrennte Wohn-, Arbeits- und Einkaufszonen, Slums oder Suburbs, kommt verschlimmernd hinzu.

Kindheit heute ist in der Tat Kinder-Kindheit. Das Kind lebt in seiner Altersgruppe oder mit Erwachsenen, die sich zu ihm pädagogisch: zu einem Kind verhalten.

Wir sind an die Schulklasse voller Gleichaltriger so gewöhnt, daß wir die Ungeheuerlichkeit, ja den pädagogischen Widersinn, der in der strengen Altershomogenität liegt, gar nicht mehr wahrnehmen - was es bedeutet, wenn man niemanden über sich hat und niemanden unter sich und die kleine Differenz auf einmal zur großen, beherrschenden wird (von der großen, nur durch äußere Disziplin zusammengehaltenen Schar ganz abgesehen!).

In der heutigen Kultur sehen Kinder zwar noch Eltern und Großeltern, aber diese sind schon kaum maßgebend für das Leben, das ist, und gewiß nicht für das Leben, das sein wird; sie trauen sich das selbst gar nicht zu und stehen darum für nichts mehr überzeugend ein.

Kindheit ist heute für immer mehr Kinder nicht einmal Kleinfamilienkindheit, deren private Idylle uns die Fernseh- und Illustriertenreklame vorgaukelt und die nicht nur von Systemüberwindern an- und beklagt wird.

Urie Bronfenbrenner hat Daten zusammengestellt, denen zufolge 1974 in den USA 45 % der Mütter einem Beruf außer Haus nachgingen, 1970 lebten 10% aller Kinder unter sechs Jahren in Haushalten ohne Vater, d. h. doppelt soviel wie ein Jahrzehnt zuvor; verdoppelt hat sich auch der Prozentsatz der Kinder aus geschiedenen Ehen; inzwischen erlebt jedes sechste Kind bis zu seinem 18. Lebensjahr die Scheidung seiner Eltern.

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