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Für Kinder nichts im ORF

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Treffpunkt: Fernsehapparat. Für viele Familien — auch in Österreich — spielt sich das gesellige Leben Tag für Tag vor dem neuen Hausaltar ab. Aus dem Miteinander wird ein Nebeneinander. Wer nicht mitsieht, kann nicht mitreden. Die Fernseh-Stereotypen werden zu Leitbildern für Jugendliche und Erwachsene. TV wird zum Phantasie-Ersatz. Nicht nur das Leben des einzelnen, sondern zunehmend auch das gesellschaftliche Leben Österreichs wird von einem Medium manipuliert, mit dem die moderne Gesellschaft überhaupt erst zu leben lernen muß.

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Treffpunkt: Fernsehapparat. Für viele Familien — auch in Österreich — spielt sich das gesellige Leben Tag für Tag vor dem neuen Hausaltar ab. Aus dem Miteinander wird ein Nebeneinander. Wer nicht mitsieht, kann nicht mitreden. Die Fernseh-Stereotypen werden zu Leitbildern für Jugendliche und Erwachsene. TV wird zum Phantasie-Ersatz. Nicht nur das Leben des einzelnen, sondern zunehmend auch das gesellschaftliche Leben Österreichs wird von einem Medium manipuliert, mit dem die moderne Gesellschaft überhaupt erst zu leben lernen muß.

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Nun aber beginnt man in ORF-Fachkreisen die Bedeutung des technologischen Apparates der Massenmedien von reiner Unterhaltung, das heißt vom Zeitvertreib für Kom-munikations-Müde, auf die Funktion einer Lebenshilfe auszudehnen. Durch die diesem Medium eigene, wenn auch oft trügerische Überschaubarkeit durch den Anwesen-heits-Eflekt — verstärkt duch das Wort — soll dem Publikum die Chance geboten werden, die Wirkungszusammenhänge der Welt zu begreifen. Einem Publikum, dem die Kompliziertheit und UnÜberschau-barkeit des wachsenden technischwissenschaftlichen Fortschritts immer unlösbarere Rätsel aufgeben und für das auch ethisch-moralische Prinzipien früherer Generationen immer fragwürdiger werden. Diese Funktion der „Lebenshilfe“ ist allerdings gegenwärtig noch Utopie weniger Medien-Strategen, die in Österreich noch spärlich zu rinden sind.

Das televisionäre Medium steckt nämlich bei uns noch immer in den Kinderschuhen. Bereits realisiertes und potentiell mögliches Fernsehen verhalten sich zueinander noch wie die beiden Teile eines Eisberges. Dies gilt nicht nur für den technischen Standard, der angesichts der Experten-Prognosen schlechthin wie eine bessere Camera obscura anmutet, sondern auch für die inhaltliche Gestaltung, für die kommunikative, die soziologische Dimension.

Wobei die paradoxe Situation entsteht, daß jene, die ständig auf der Suche nach dem Fortschritt sind, den Status quo noch nicht bewältigt haben. Produzenten wie Konsumenten gleichen den Artisten in der Zirkuskuppel. Ratlosigkeit — wenn auch oft nicht eingestanden — herrscht vor. Die Gestalter des Programms klammern sich im Dilemma zwischen emanzipatorischem Anspruch und vermeintlichem Publikumsgeschmack zumeist an Infra-tests. Einschaltzahlen und Indizes werden zum Alibi für journalistische und künstlerische Verantwortlichkeit. Der Rezipient auf der anderen Seite verdrängt die vage Unzufriedenheit, weil er keine Alternative kennt und verinnerlicht die Passivität seines Zustandes, dessen tatsächliche Notwendigkeit er zumeist nicht in Frage stellt. Die erste Fernsehergeneration in Österreich ist im rationalen Gebrauch des Mediums überfordert; doppelt überfordert dann natürlich in der Anleitung zum Ge^ brauch dieses Mediums.

Persönliche Erzählung überwiegt

Womit wir beim eigentlichen Thema wären. Bereits das Kleinkind wird mit dem Bildschirm konfrontiert, in den seltensten Fällen aber damit wirklich vertraut gemacht. Vielfach wird der Apparat auch schon in unserem Land als Babysitter-Roboter mißbraucht, wobei die negativen Folgen zugunsten der elterlichen Bequemlichkeit oft unbeachtet bleiben. Früher war es die Großmutter, die den Kindern Märchen erzählte, heute ist es die Tele-vision. ,. jj

Die Wiener Psychologin Lore Watzka hat in einer Versuchsreihe festgestellt, welche Rolle dieses Medium im Leben der Kleinkinder bereits spielt: eine Bilderbuchgeschichte wurde der Testgruppe von sechs- bis sechseinhalb jährigen Kindern via Fernsehen und gegenüberstellend als persönliche Erzählung dargeboten. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, daß die persönliche Erzählung der technischen Vermittlung weit überlegen war; sowohl was die Reproduktion des Gehörten durch die Kinder betrifft, als auch bezüglich des Erkennens und Be-haltens logischer Zusammenhänge der Geschichte. Auch der Grad der Identifikation der kleinen Zuseher und -hörer mit den Bilderbuchhelden war im persönlichen Vortrag weit intensiver.

Ein interessantes Resultat, das zum Nachdenken anregen sollte, besonders wenn man einen Blick auf die Zukunftsvisionen der Produzenten, Techniker und Programmgestalter wirft. Ein deutscher Kameramann und Psychologe sieht beispielsweise den Fernsehapparat der Zukunft unter anderem als Lern-Computer. Via Kassetten-Fernsehen und Video-Recorder könnten auch schon Vorschulpflichtige Informationen nach individuellem Lerntempo aufnehmen. Ob nicht dennoch die persönliche Vermittlung von Wissenswertem unersetzlich bleiben wird, ist abzuwarten. Gerade die zitierte wissenschaftliche Untersuchung scheint deutlich darauf hinzuweisen, wo die Grenzen des Fernsehens liegen.

Rasche Ermüdung

Diese These wird auch von Ergebnissen der amerikanischen Kommunikationsforschung gestützt, die festgestellt hat, daß die Wirkung von Massenmedien ungleich schwächer ist als der persönliche Einfluß. Der „Opinion leader“, der „Meinungsführer“ in einer Gruppe, verändert das Verhalten der Mitglieder dieser Gruppe weit intensiver, als dies Kommentatoren in Fernsehen, Hörfunk und Zeitung vermögen.

Die große Bedeutung des Fernsehens an sich, die ja ständig zunimmt, wird dadurch natürlich nicht bestritten. So haben Analysen in den Vereinigten Staaten und Japan ergeben, daß regelmäßiger Fernsehkonsum dort bereits mit drei Jahren beginnt. Allerdings ändern sich die TV-Gewohnheiten im Laufe der Entwicklung. Die Sehdauer wächst mit zunehmendem Alter und erreicht ihren Höhepunkt in den ersten Jugendjahren. Später geht sie wieder zurück. Die Heranwachsenden bleiben sogar zeitweise dem Bildschirm fern. Es zeigt sich aber, daß die früheren Fernsehgewohnheiten vor Erreichen des Erwachsenenalters wiederkehren und daß die Sehdauer nach dieser Pause länger ist als in der vorhergegangenen Periode. Die entscheidende Frage für die Eltern bleibt aber jene nach dem vertretbaren Mindestalter. Die Angaben von Kinderärzten und Kinderpsychologen differieren hier zwischen vier und sechs Jahren. Als oberes Limit der Fernsehzeit für angehende Schulkinder nimmt man eine halbe Stunde pro Tag an. Immer wieder wird auf die Folgen von Fernsehexzessen hingewiesen. Schlafstörungen sind ein erstes Warnsignal. Die Kinder sind bei übertriebenem TV-Konsum nicht in der Lage, das Gesehene noch wirklich bewußt zu verarbeiten. Im Unterbewußtsein des Traums wird die Auseinandersetzung mit dem Film fortgesetzt, was sogar zu Neurosen verschiedener Art führen kann. Das Argument gegen zuviel Kinderfernsehen ist also die zu starke psychische Belastung, nicht jedoch eine physische Überbeanspruchung des Sehapparates. Augenärzte erklären dazu, sie könnten von diesem Standpunkt aus nicht für eine Beschränkung der Sehdauer plädieren, da weder Sehstörungen noch Augenkrankheiten darauf zurückzuführen sind. Die rasche Ermüdung des Kindes ist jedoch ein natürliches Regulativ.

Die Erörterung der Frage nach dem pädagogisch richtigen Zeitpunkt, den Kindern das Fernsehen zu gestatten, bleibt natürlich akademisch, solange es in Österreich noch keine geeigneten Sendungen für Kleinkinder gibt. Programme für Zwei- bis Dreijährige fehlen, weil man hier noch ziemlich im Dunkeln tappt. Gesichert ist zunächst nur die Tatsache, daß diese Sendungen den persönlichen, konkreten Erfahrungsbereich der Kinder nicht überschreiten dürften. Nur Dinge, die das Kind schon von zu Hause kennt, werden auch auf dem Bildschirm richtig erkannt und eingeordnet. Neues sollte am Anfang noch nicht durch das Fernsehen herangetragen werden, weil es nur Furcht hervorrufen würde.

Überhaupt sollten bei Kindern dieser Altersstufe die Eltern mit vor dem Gerät sitzen, um Unklarheiten sofort aufklären zu können. Die Anwesenheit von Vater, Mutter oder auch älteren Geschwistern würde auch eine neue Art des Kinderprogramms voraussetzen, die nicht mehr nur das passive Vergnügen — den Wunsch nach Phantasieerleben und damit die Erweiterung der Vorstellungskraft — fördert, sondern die Kinder selbsttätig am Programm teilhaben, mitspielen lassen will. Eine Sendeform dieser Art wäre jedenfalls zu befürworten, da sie dem Aktivitäts- und Bewegungsdrang der Kinder entgegenkommt. Eine Voraussetzung dazu ist allerdings die Mitarbeit der Eltern.

Das Fernsehen hat im Leben des Kindes einen wichtigen Platz. Eine Tatsache, die nicht wegzudiskutieren ist. Im Gegenteil: Die Bedeutung dieses Mediums wird immer größer. Daher nützen Verbote am wenigsten. Das ungeheure Interesse, das Kinder dem Fernsehen entgegenbringen, sollte positiv genützt werden. Nicht nur für die Erwachsenen, auch für die Kinder sollte „die Welt ins Haus gebracht werden“. Der Kasperl ist sicher zuwenig. Es liegt an den Programmverantwortlichen des ORF einerseits und den Eltern anderseits, in größtmöglicher Kooperation notwendige neue Wege zu beschreiten.

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