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Fortschritt heißt Information

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Heute sehen in Österreich wahrscheinlich bereits 40 Prozent der Ge-sarntibevölkerung täglich fern (die genauen Zahlen ermittelt die Weidewirtschaft jedes zweite Jahr). In der Bundeshauptstadt sitzt jeder zweite Wiener täglich vor dem Apparat, während es in Kärnten und Osttirol infolge schlechterer Versorgung erst 30 Prozent der Bevölkerung sind.

Und immerhin — so ermittelte für den Rundfunk ein Meinungsfor-schiungsinstitut — sind bei der tagliehen „Zeit-im-Bild“-Sendung des Fernsehens 64 Prozent aller Geräte eingeschaltet.

Was das bedeutet, wird ersichtlich, wenn man bedenkt, daß

• nur 54 Prozent aller Österreicher eine Tageszeitung lesen,

• daß es in Wien zwar 72 Prozent sind, in Oberösterreich hingegen nur 41 Prozent,

• daß ober nur 24 Prozent der landwirtschaftlich Tätigen Zeit und Lust für eine tägliche Zeitungslektüre aufbringen.

So gehören, wie man aus zahlreichen Untersuchungen weiß, junge Menschen, Angestellte und Bewohner größerer Städte zu den eifrigsten Lesern, hingegen sind Pensionisten, Arbeiter, Bauern und Bewohner der kleinen Gemeinden die Desinteres-senten an Information. Vergleicht man (siehe Tabelle!) die Österreicher im internationalen Durchschnitt, ermittelt sich deutlich, daß wir etwa in der Mitte rangieren: Je höher der Leistungs- und Lebensstandard, desto größer ist das Bedürfnis an Information.

Die Information ist schon heute der entscheidendste Faktor des Fortschritts.

Denn die Gesellschaft der Zukunft ist die informierte Gesellschaft.

Das enzyklopädische Wissen soll sich zwischen 1800 und 1900 verdoppelt halben, zwischen 1900 und 1950 hat es sich vervierfacht, im letzten Jahrzehnt verachtfacht.

In geometrischer Reihe wird die Notwendigkeit der Fort- und Weiterbildung, aber auch der Umbildung immer bewußter. Die Schule ist längst ihrer traditionellen Aufgabe entwachsen. Denn in den nächsten dreißig Jahren wird

• das durchschnittliehe Schuiwissen so „veraltern“, daß nur mehr 35 Prozent des Gelernten konkret verwertbar ist,

• das Hochscbulwissen wird sogar auf 15 Prozent albsinken,

• das Fachwissen im Bereich von Industrie und Wirtschaft auf sechs Prozent.

Länder, die ihre Staatbürger systematisch und laufend besser durch Information bilden, werden in Zukunft eine Stellung einnehmen, „wie einst ein Staat mit dem größten Naturreichtum oder später einer mit der größten industriellen Leistungsfähigkeit“, wie die amerikanische RAND-Corporation feststellte.

Bildung Und Information werden zum Schlüssel der Zukunft, die „Edu-cation permanente“ zum Kriterium des Mitkommens.

Nun sind die Massenmedien der billigste, kürzeste und direkteste Weg zu Bildung und Information. Ihre Rolle ist noch nicht bewußt und ihre Funktion erst schemenhaft spürbar. Österreich steht in dieser Beziehung „mit Fleckerlpatschen in den Startlöchern, nämlich schon in der industriellen Gesellschaft am unteren Ende, mit deutlicher Chance in die auch sehr gemütliche Runde der Entwicklungsländer abzusacken“, wie es ORF-Generalintendant Gerd Bacher formulierte.

Die neue Strategie am Schlachtfeld der Information hat in Österreich noch wenig Umrisse erhalten. Seit der österreichische Rundfunk dem unmittelbaren Einfluß der politischen Parteien entzogen ist und selbständige Journalisten und Publizisten mit erfreulich hohen Gehältern ein neues Iniformationsbild bauen, hat auch die Öffentlichkeit das Phänomen registriert:

Das Fernsehen ist zu einem der wichtigsten Bestandteile des demokratischen Meinungs- und WiMens-bildungsprozasses geworden, das niemand ignorieren kann. Ob gut oder schlecht: das Fernseihen ist die „reinste Form der Kommunikation von Wählern und Gewählten — und die wünschenswerteste“, meint US-Pressesekretär Bill Moyers.

Las man früher von einer Schlacht zwei Tage später in der Tageszeitung, ist der Femseber heute in Vietnam im Schützengraben dabei. Und die Erschießungsszene eines Vietkong im TV beunruhigt die Menschen hundertmal mehr als eine noch so prominente Schlagzeile einer Zeitung. So erklären amerikanische Soziologen auch zur Hauptursache des Unbehagens über den Dschungelkrieg die Tatsache, daß Millionen gesitteter Bürger im Fauteuil die Grausamkeit des Krieges anders beurteilen als die Soldaten im Härte-einsatz.

Man weiß heute auch, daß das französische Fernsehen die Hauptlast der Verantwortung für den Umfang der Mai-Unruhen 1968 in

Frankreich trifft. Denn die Millionen Franzosen erlebten mit, wie behelmte Polizisten Brutalität demonstrierten, und hatten den Eindruck, als stünde die ganze Hauptstadt in Flammen, während es sich nur um einige Straßenzüge im Qua-, tier Latin handelte.

So können Hysterie und Aufregung durch winzige Anlässe zur nationalen Massensuggestion führen.

Welche Bedeutung die elektronischen Madien aber auch im Osten besitzen, erlebten die Tschechen und die ganze Welt nach dem 21. August 1968. Denn der geschlossene Widerstand war eine Folge des zwar im Untergrund wirkenden, aber täglich sichtbaren Widerstandes über die geheimen Sender.

Doch viele Seher wissen mit der Summe an Material, das ihnen das Fernsehen bietet, nichts anzufangen. Sie werden mit den Anomalien, mit den Sensationen konfrontiert, ohne entsprechende Gmndlageninforrraa-tion zu besitzen. Sie hören, daß es eine Währungskrise gibt, ohne zu verstehen, worum es eigentlich geht — und reagieren aus Unverständnis falsch. So wird auch in Österreich zu wenig gemacht, um den Unterbau der Information zu schaffen, um Zusammenhänge und Überblicke zu geben.

Dazu kommt, daß die Nachrichtensatelliten und die Vermehrung der Kanäle zu einer Internationalisie-rung der Information führt — und daß es gleichsam eine Kostenfrage ist, wann Österreich aus dem Wettrennen überhaupt ausscheiden muß: dann nämlich, wenn jeder Apparat über 82 Kanäle verfügt und jeder Fernseher sich aus einer breiten Prognamimpalette aussuchen kann, was immer er sehen will.

So würde das geschriebene Wort seine angestammte Funktion zurückerhalten.

Aber in zunehmendem Maße werden heute Tageszeitungen überflüssig, wenn sie nur das gleiche bieten, wie am Tag vorher bereits das Fernsehen. Die Versuche etwa des „Kurier“, durch eine Abendausgabe schon „Zeit im Bild“ vorwegzunehmen, sind kommerzielle Husarenritte.

So weichen die Tageszeitungen derzeit stark zum Lokaiteil aus, den das Fernsehen noch vernachlässigt. Und auch zahlreiche Bundesländerzeitungen leben davon, daß sie für Nachrichten und Meldungen aus dem unmittelbaren Ortstoereich ohne Konkurrenz sind.

Vor allem die Wochenillustrierten hingegen weichen auf ein Feld aus, das für das Fernsehen tabu ist: auf die schon in der Randzone der Pornographie residierenden Sexwelle.

Die Konkurrenzentwicklung hat in Österreich einen Prozeß eingeleitet, der im Ausland bereits abgeschlossen ist: immer mehr — vor allem seriöse — Zeitungen kämpfen mit zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und einige haben bereits die Konsequenzen durch ihre Einstellung gezogen:

• Die Tageszeitungen im Besitz politischer Parteien leiden unter mangelndem Interesse und Überalterung; die Einstellung des ÖVP-„ Völksblattes“ wurde bereits wiederholt erwogen, die „Arbeiter-Zeitung“ zeigt schwindende Leserzahlen und die „Neue Zeitung“, ein junges Kind der Wiener SPÖ, soll unmittelbar nach den Wiener Landtagswahlen eingestellt werden.

• Die „unabhängige“ Massenpresse liefert sich einen heftigen Konkurrenzkampf, und es zeichnet sich bereits ab, daß wahrscheinlich nur zwei Großzeitungen am Leben bleiben werden.

• Seriöse Tageszeitungen wechselten wiederholt den Herausgeber, einige, wie etwa das „Neue Österreich“, gingen am kleinen Markt zugrunde.

Dazu kommt, daß österreichische Zeitungen zunehmend unter personeller Unterbesetzung qualifizierter Kräfte leiden. Das deutschsprachige Ausland, vor allem alber der neue Rundfunk haben zahlreiche ausgezeichnete Journalisten von den heimischen Redaktionen weggeholt.

Dafür wiederum vermehrten sich die Pressedienste, Presseagenturen, Büros für „Öffentlichkeitsarbeit“ öffentlicher und politischer Stellen sowie Buhlic-Relations-Agenturen, die Produkt- und Imagepflege für die Wirtschaft auf unterschwelligem, manchmal auch undurchsichtigem Wag betreiben.

Ein Typ freilich hat sich gerade durch die neue Kohkurrenzsiituation frisch erhalten: die Wochenzeitung. Denn die schnell wechselnde und notwendigerweise unvollständige Information über Fernsehen und Hörfunk läßt iirnmer mehr Menschen nach einem „Überblick“, nach dem „Hintergrund“ und der „Übersicht“ verlangen. Denn was ihnen das Fernsehen nicht geben kann, die schmell-lebigen Tageszeitungen nicht geben wollen, bietet die seriöse Wochenzeitung als Analyse und Grundlageninformation.

So hat dieser Typ, dem auch die „Furche“ zuzurechnen ist, einen wesentlichen und entscheidenden Beitrag zur informierten GeseUscbaft zu leisten.

Zu einer Gesellschaft, die es sich nicht leisten kann, der Information Nachrang zu geben.

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