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DER ANSPRUCH DES PUBLIKUMS

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Wir leben heute in einer Massengesellschaft von Weltformat: Diese Behauptung ist fast eine Binsenwahrheit — eine Binsenwahrheit aber, die wir uns dauernd vor Augen halten müssen, um ihre Bedeutung recht zu erkennen, sonst werden wir die eigentümliche Anziehungskraft des Fernsehens auf den modernen Menschen nicht verstehen.

Norm und Schablone gehören zu jeder Industriegesellschaft, und zwar nicht nur in bezug auf die Werkzeuge des Menschen, sondern auch auf den Menschen selber: Der Mensch wird zum Werkzeug, das er selbst schuf. Die Schablone ist der Feind der Eigenart und des feinen Unterschiedes: Sie neigt vielmehr zur Aufstellung eines Symbolismus mit universellem Reiz. Für diesen Zweck ist das Fernsehen geradezu ideal, denn seine technischen Eigenschaften wie auch die Grenzen der Programmgestaltung machen die Übertragung von subtilen Nuancen und Abstufungen unmöglich, während es durch seine emotionelle Schlagkraft, seine durch Schall, Klang und Wort in verhältnismäßig geringer Differenzierung unterstützten visuellen Symbole und durch seine Reichweite zu einem wirksamen Instrument der Breitenwirkung wird.

Für die allgemeine Verbreitung des Fernsehens hat vor allem die Verlängerung der Freizeit in den Industrieländern gesorgt. Diese neue Erscheinung ist von Dumazedier, Schelsky wie auch von zahlreichen amerikanischen Soziologen untersucht worden. Dumazedier kommt dahin, zu fragen: „Vielleicht ist die Welt bei der Zivilisation der Freizeit angelangt?” Dieses Phänomen führt er sowohl auf technische wie soziologische Errungenschaften zurück. Er betont nicht nur die Verkürzung des Arbeitstags durch technischen Fortschritt, sondern auch das Entstehen der organisierten Freizeitgestaltung.

Dabei ist bemerkenswert — und für die Verbreitung des Fernsehens ausschlaggebend —, daß der Vergnügungsbetrieb, der die Leute während der Freizeit zu sich zieht, wie z. B. das Kino, nicht nur dort, wo die Arbeitszeit am meisten verkürzt wurde, rapid anwächst. Man bedenke nur die ungeheure Filmindustrie Indiens und der Vereinigten Arabischen Republik, die Beliebtheit des Fernsehens dort wie auch in den lateinamerikanischen Ländern — weisen sie nicht auf weitere, tiefere Gründe, warum die Freizeitgestaltung heute so um sich greift? Die Zerstreuungen der Freizeit sind nicht auf die Industrieländer beschränkt, wenn diese auch bisher unerhörte Mittel der Produktion und des Vertriebs auf sie. anwandten.

Mit dem Zusammenbruch der traditionellen Gesellschaftsformen, besonders des Feudalismus, durch den Ansturm der modernen sozialen und politischen Trends verschwanden auch die alten Brauchtums-, Schauspielgruppen, musikalische Kundgebungen und Darbietungen. Der Staat hat das Erbe des Feudalherrn, der für den Unterhalt seines Theaters auf kam, nicht auf gegriffen; die moderne, verweltlichte Stadt bietet kaum Ausgleich für den Verlust des die Menschen verbindenden Kultus. Diese Lücke, die als äußerste Langeweile und Eintönigkeit empfunden wird, ist eine der gewaltigsten Kräfte, die die Menschen weg von dem Land in die Städte treiben. Denn diese in der ganzen Welt zu beobachtende Flucht vom Land hat ihren Ursprung nicht nur in den Verlockungen materieller Vorteile, sondern ebensosehr im Reiz der Sensation.

Langeweile ist die Folge der Eintönigkeit, sei es die Eintönigkeit des Dorfes oder der anonymen Fabrikarbeit. Den Tageslauf will der Mensch durch die Erfrischungen des Freizeitvergnügens abwandeln. Der Mangel an Spaß, Vergnügen und Unterhaltung, der alles ertötende Mantel der Langeweile, der in einem indischen Dorf zum Beispiel nur aus dem seltenen Anlaß einer Hochzeit abgelegt werden kann, scheint zu zeigen, daß das Problem der Freizeitgestaltung sich nicht auf die westliche Zivilisation beschränkt. Schon die Römer wußten, daß der Mensch nicht nur nach Nahrung, sondern auch mit Leidenschaft und Verlangen nach Vergnügen lechzt — jene für den Leib, diese für die Seele. So dürfen wir nicht vermeinen, ein schlecht ernährter Mensch benötige nichts als Essen und Obdach.

In diese Öde der Eintönigkeit, den Durst nach Abwechslung stillend, schlug die moderne Unterhaltungsindustrie ein mit ihrer Technik, die den Massenverbrauch ermöglicht. Rundfunk, Film und schließlich Fernsehen fallen auf den fruchtbaren Boden hungriger Augen und Ohren von Millionen von Menschen, von denen viele auch nicht weniger als ihre Vorfahren arbeiten, aber lieber an Essen und Schlaf sparen, als auf den Bildschirm verzichten würden. Was wäre daraus geworden, wenn dieselben Kommundkationsmittel die heutige Verbreitung und Verfügbarkeit vor einem Jahrhundert gehabt hätten, als der Arbeitstag kaum Grenzen hatte? Was wird heute daraus, wenn sie in ländliche Gemeinden eindringen, wo sich das Leben seit Jahrhunderten kaum geändert hat? Können wir diese Fragen auch nicht beantworten, so dürfen wir wohl annehmen, daß es das breite Publikum, das gerne — wenn auch nur für einen Augenblick — die Monotonie und Plackerei des Alltags gegen eine weite Welt nicht nur der funkelnden Träume, sondern auch des breiteren Wissens und der besseren Erziehung vertauscht hätte, schon immer gegeben hat.

Schließlich dürfen wir nicht die Fähigkeit der Unter- haltungsindustrie vergessen, wie jede andre Konsumindustrie eine vorher nicht vorhandene Nachfrage künstlich zu erzeugen. Zunächst durch pure Neugier herbeigelockt, wird das Publikum durch die Kunst der ‘Produzenten und Regisseure so lange vor den Bildschirm gefesselt, bis es für den fortgesetzten Zugang zu den modernen Massenmedien zu erheblichen finanziellen wie zeitlichen Opfern bereit ist. Dieses Verlangen nach Funk und Fernsehen, nach dem Film und — wenn man lesen kann — nach der Presse ist kein bloßes Spiel; heute nimmt es die Form eines legitimen Anspruchs, eines Grundrechts sogar, des Anrechtes auf Wissen und Erziehung, des Rechtes, am politischen, sozialen und kulturellen Leben des Staates und der Welt teilzunehmen, an.

Der moderne Staat kann nicht politisch und demokratisch funktionieren und die Gesellschaft kann nicht technisch fortschreiten, wenn das Nervensystem der Massenmedien das gesellschaftliche Gewebe nicht durchdringt. Unvorstellbar der Aufstieg aus der Sackgasse der relativen Absonderung der traditionellen Gemeinde ohne das Vorhandensein der Kanäle des Wissens und der Erziehung, die Gelegenheit zur Verbreiterung des Horizonts bieten. In einer Gesellschaft, in welcher weltpolitische und -soziale Kräfte sowie das Spiel der Weltwirtschaft das Schicksal jedes einzelnen größtenteils festlegen, hat dieser einzelne das Recht auf ein mindestens rudimentäres Wissen über die Ursachen, die sein Leben beeinflussen.

Der Zusammenbruch des Wissens- und Kulturmonopols, bestimmter Schichten, Völker und sogar Erdteile ist eine weitere Seite dieser Tendenz zur Massengesellschaft. In einem hochentwickelten Land mit vielen Erziehungs- und Verkehrsmöglichkeiten und ohne Analphabeten besteht wenigstens die Möglichkeit, das Fernsehen hauptsächlich als ein Zerstreuungsmittel zu betrachten, wenngleich die jüngsten Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien eine solche Auffassung sogar in diesen Ländern äußerst fragwürdig erscheinen lassen. Weniger entwickelte Gemeinschaften können sich einen solchen Luxus nicht leisten: Dort besteht ein dringender Bedarf, das Fernsehen der Erziehung und dem Aufbau zu widmen. Programme, die dem Wissen, der Erziehung, der Kultur und dem sozialen Fortschritt dienen, sind vielleicht nicht die in den meisten Ländern üblichen Programme, doch sind sie wohl die hervorstechendsten Merkmale des Fernsehens im Dienst des Menschen. -

Aber vielleicht holt das Fernsehen zu einem „Massen”- angriff auf das Kulturmonopol selbst dann aus, wenn es bloß der Volksbelustigung dient. Schon die reine Tatsache, daß das Fernsehen große Schichten der Bevölkerung erreicht, die bis dahin ein einsames, traditionsgebundenes Leben führten, zeigt die weitreichenden Wirkungen, die von den hochentwickelten Produktionszentren ausstrahlen und ein brennendes Bedürfnis befriedigen. Das italienische Bergdorf, das eine fast mittelalterliche Lebensform bis heute festgehalten hat, wird nie wieder das gleiche sein, nachdem das Fernsehen dort eingedrungen ist. Bekanntschaft mit dem Glanz des Stadtlebens, der dauernde Strom von Nachrichten- und Dokumentarfilmen, die fremde Gegenden und Länder zeigen, das Kennenlernen von Persönlichkeiten und Formen der Kunst, die einen breiten Geschmack ansprechen: Sie alle tragen dazu bei, das neue Klima der modernen Gesellschaft zu schaffen, der der einzelne — besonders die junge Generation — angehören will. Aus dem Fenster des Fernsehens zu blicken, ist zu einem Grundtrieb geworden, der den andern Triebkräften unserer Zeit entspricht.

Vieles von dem, was das Fenster des Fernsehens zeigt, ist in keinem Sinne positiv, noch entspricht es der Bildung und dem Befinden der Betrachter. Dieses Mißverhältnis zum Publikum ist ein weiteres Kennzeichen des Fernsehens als einer Zeiterscheinung, denn die beliebtesten Programme sind manchmal die unpassendsten. Kinder sehen für sie ungeeignete Erwachsenenprogramme; ein in Thailand gezeigter Wildwestfilm oder eine Schlacht zwischen Londoner Detektiven und Verbrechern vor einem nigerischen Publikum vermittelt dem asiatischen und afrikanischen Volk einen sonderbaren Eindruck von Amerika und Europa. Haushaltshilfen, Mode, Komfortwohnungen, Sport- und Unterhaltungsneuheiten — besonders wenn die Werbung sie noch unterstützt — erzeugen eine unerfüllbare (und überflüssige) Verbrauchernachfrage in Völkern, die ihre Hauptkräfte auf die Entwicklung der wichtigsten Industrien konzentrieren müssen. Die durch das Fernsehen vermittelten Begriffe und Werte laufen mitunter auch gegen die Vernunft der sozialen und kulturellen Ziele.

Anderseits darf man den Erziehungsfaktor des allgemeinen Fernsehprogramms nicht unterschätzen. Die Nachrichten, wissenschaftlichen Sendungen, Kulturprogramme sowie solche über seltene Sportarten, die Arbeit der Entdecker und Reisen in fremden Ländern, das politische Leben des Landes und der Vereinten Nationen: Sie haben alle ein deutliches Bildungsmoment, das dem Fernsehen seinen rechten Platz in der heutigen Welt verschafft und ihm seine wahre Bedeutung verleiht.

So dient das Fernsehen der „Bildung” sogar dort, wo sie nicht ausgesprochenes Ziel ist. Darüber hinaus sind aber die bewußten Bestrebungen zu verzeichnen, in der Form des Schulfernsehens oder der Erwachsenenbildung in bezug auf Fremdsprachen, Gesundheitspflege, Wissenschaft, oder ganz einfach der Bekämpfung des Analphabetentums, Wissen zu vermitteln. Eine Gesellschaft, deren Zukunft auf der Anwendung der Wissenschaft und Technik zum Wohl der Menschen beruht, kann nur bestehen bleiben, wenn die Menschen selber am Geist der Wissenschaft teilhaben und Gelegenheit bekommen, ihr Wissen und Können zu mehren. Auch in diesem Punkt beantwortet das Fernsehen eine der großen Fragen unserer Zeit

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