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Das Recht auf Kultur

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Als wissenschaftlicher Leiter des Instituts für empirische Sozialforschung hatte ich Gelegenheit, zwei Jahre lang in einem größeren Team von Sozialforschern an der „Kulturstudie“ mitzuarbeiten, die von Minister Sinowatz veranlaßt worden war. Wohl für alle Beteiligten war diese Studie mehr als nur Arbeit — sie war Erlebnis und Anliegen. Wenn ich hier Schlußfolgerungen ziehe und Empfehlungen ausspreche, so sind sie Ausfluß dieses persönlichen Engagements. Es handelt sich hiebei nur um meine ganz persönliche Meinung.

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Als wissenschaftlicher Leiter des Instituts für empirische Sozialforschung hatte ich Gelegenheit, zwei Jahre lang in einem größeren Team von Sozialforschern an der „Kulturstudie“ mitzuarbeiten, die von Minister Sinowatz veranlaßt worden war. Wohl für alle Beteiligten war diese Studie mehr als nur Arbeit — sie war Erlebnis und Anliegen. Wenn ich hier Schlußfolgerungen ziehe und Empfehlungen ausspreche, so sind sie Ausfluß dieses persönlichen Engagements. Es handelt sich hiebei nur um meine ganz persönliche Meinung.

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Aufgabe der Kulturpolitik, wie jeder Gesellschaftspolitik, ist es, dort einzugreifen, wo die bestehenden gesellschaftlichen Kräfte und Faktoren versagen. Versagen bedeutet dabei nicht nur Chaos und Zusammenbruch, sondern schon das Verfehlen eines allgemein wünschenswerten Zieles, das Versäumen möglicher günstiger Entwicklungen. Daher bedarf es ja der steten Prüfung, ob und inwieweit man mit dem Lauf der Dinge noch zufrieden sein kann — mag nun diese Prüfung die Gestalt einer öffentlichen Diskussion, einer Enquete oder wissenschaftlicher Untersuchung haben. So verstanden wir, die mitwirkten, wohl alle die Kulturstudie.

Welches Versagen machte diese Datensammlunig nun sichtbar? Die Hauptschwächen unserer Kultur — immer im weiten Sinne verstanden — lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:

• Mangelnde Eigenaktivität erzeugt eine rezeptive und passive Lebenshaltung, die nicht nur zu einer Verarmung des einzelnen Daseins führt, sondern auch Kennerschaft und Vertrautheit absinken läßt (was die Gefahr eines „Circulus vitiosus“ der kulturellen Entwicklung an sich trägt).

• Die derzeitige Hochkultur — sowohl die tradierte wie die weiterentwickelte — ist vom allgemeinen kulturellen Geschehen zu sehr isoliert, sie gewährt damit zu wenig Anregung für die Breitenkultur: es ist zu befürchten, daß sie vom Katalysator zum bloßen Ornament wird.

• Die in ihrem Umfang und mit ihren neuen technischen Medien eindrucksvolle Breitenkultur leistet einen unzulänglichen Beitrag zur gesellschaftlichen Problembewältigung und zur individuellen Reifung — sie läßt den Menschen nicht nur in wesentlichen Fragen allein, sie nimmt ihm auch noch Zeit und Motivation für seine persönliche Entwicklung.

Diese drei Thesen sollen durch einige Zahlen aus dem Kulturbericht illustriert werden. Sie zu belegen oder gar in ihrem Umfang abzustek-ken, konnte auch in der zwei Jahre in Anspruch nehmenden Studie nur teilweise gelingen — das versteht sich angesichts des Phänomens Kultur wohl von selbst.

Österreich gilt als Musikland. Musik auch höchster Qualität ist heute durch die technischen Übertragungsmöglichkeiten allgemein zugänglich und die Stereoanlage gehört fast schon zur Normalwohnung breiter städtischer Schichten. Die Musikerziehung kann sich international sehen lassen: 28 Prozent aller Österreicher haben Musikunterricht genossen, von den Personen, die eine Matura gemacht haben, sogar 66 Prozent. Trotzdem spielen nur 5 Prozent heute noch ^regelmäßig, von den Maturanten 12 Prozent, von den Akademikern 17 Prozent.

Viel schlimmer sieht es mit den anderen künstlerischen Aktivitäten aus. Nur 3 Prozent der erwachsenen Österreicher betreiben, abgesehen von der Musik, noch irgendein künstlerisches Hobby (von den höher Gebildeten sind es 30 Prozent). Hingegen spielen an einem durchschnittlichen Wochentag 8 Prozent Karten, an einem Sonntag 20 Prozent — das sind Teilnehmerzahlen, die fast nur vom Fernsehen übertroffen werden.

Auch unsere Museen und Ausstellungen sind vorwiegend für die höher Gebildeten da — nur 7 Prozent der Österreicher kommen im Jahr öfter als zweimal dorthin, und das sind fast ausschließlich Personen

mit mehr als Pflichtschulbildung. Und wie Programmanalysen des Fernsehens und Zeitbudgetstudien zeigen, lassen auch die besser Gebildeten ihre Hochkultur sofort im Stich, wenn es um den TV-Krimi, die Sportübertragung, das Skiwochenende oder den Autoausflug geht. Ein Gefühl des Kulturmankos bleibt zurück. Nur ein Drittel der Österreicher hält das eigene kulturelle Leben für ausreichend. Auf eine diesbezügliche Frage erklärten 53 Prozent, sie würden mehr Bücher lesen, wenn es kein Fernsehen gäbe, 24 Prozent wollten mehr ins Kino gehen, 22 Prozent mehr in Theater und Konzerte, 11 Prozent mehr Vorträge besuchen und ebenso viele mehr Sport betreiben — schließlich wollten 6 Prozent mehr in die Kirche gehen.

Ein solches vages Unbehagen mit dem eigenen Lebensstil reicht aber sicher nicht aus, um ein Umlenken des Systems in Gang zu setzen. Dazu ist es auch schon viel zu sehr in den verschiedensten Interessen, in eingefahrenen Gewohnheiten verankert.

Wenn man sich der hier skizzierten Kulturkritik anschließt, muß man eine innovatorische Kulturpolitik fordern. Der politische Eingriff folgert daraus.

Politische Eingriffe können verschiedener Art sein. Zwang mag sich durchaus rechtfertigen lassen, etwa in der Reform von Schulplänen oder in kulturellen Auflagen für Massenmedien. Finanzielle Lockung in der Form kulturfördernder Subventionen hat den angenehmen Beigeschmack des Mäzenatentums, kostet aber für eine Anwendung auf die Breitenkultur zu viel — auch unterdrückt sie oft die innere Flamme, die vielleicht für den aktiven Amateur wichtiger ist als für den professionellen Kunstproduzenten. Diesem Ruch des Penkuniären weicht die psychologische Lockung aus, die als Kultur-Marketing auf die bewährten Techniken der Werbung, der Manipulation mit Prestige und Glamour, aber auch auf handfeste chauvinistische Aggressionen zurückgreifen kann. In einer Kultur, die den Menschen zum Konsumenten verkind-licht, muß man vielleicht viele erst zu ihrem Besten verführen. Zweifellos am günstigsten ist es aber, die möglichen Wege zu einem glücklicheren Leben möglichst vielen aufzuzeigen und so aufzuschließen, daß sie dann aus freiem und überlegtem Entschluß — ohne Zwang und Verführung — beschritten werden. Das wäre das Grundkonzept einer Kulturpolitik durch Schaffung von Gelegenheiten und durch Information. Ein solches Anbot wird jedoch nur akzeptiert werden, wenn die skizzierten Mängel auch als persönliches Manko deutlich empfunden werden. Hier liegt die schwierigste Aufgabe.

Eigenaktivität, an der es so fehlt, ist, körperlich wie künstlerisch, an sich ein anerkanntes Ziel. Es gibt wenige, die nicht ganz gern ein künstlerisches Hobby betreiben möchten, wie ja auch fast jeder gerne sportlich fit wäre.

Es fehlt dem im Privaten isolierten und von Verführungen umgebenen Menschen eher an unmittelbarer Motivation, an der sozialen Stütze. Es müßten sich daher Gruppen zusammenfinden, die Leute mit ähnlichen Interessen, mit einer gewissen persönlichen Affinität zu kulturellen Aktivitäten zusammenführen: Hobby-Kreise mit fachlich geschulten Initiatoren, in denen neue Formen der Hausmusik, des Anlaß-Amateur-Theaters, des Basteins,

aber auch der lebensnahen Weiterbildung betrieben würden.

Ein solcher Plan wird von zwei Fährnissen bedroht. Der Zugang zur kulturellen Aktivität müßte den neuen Interessenten durch eine fröhliche Didaktik leichtgemacht werden, aber vielleicht mehr noch durch Lebensnähe und rasche Anwendbarkeit. Wehe, man setzt diesen Neu-beginnern die Latte zu hoch. Auf der anderen Seite darf man sich das Herantragen der Information nicht zu leicht vorstellen. Bei der allgemeinen Reizüberflutung dringen Botschaften nur schwer bis zum inneren Verstehen, zum bewußten Sich-damit-Aus-einandersetzen vor. Die gute Tat könnte leicht ein nur in Fachkreisen bemerktes Alibi bleiben. Das gilt fast noch mehr, wenn man durch Information Hochkultur in die Breite der Alltagskultur tragen will. Hochkultur ist an sich schon gut zugänglich, sie wird nur durch die Perfektion der Unterhaltungskunst verdrängt. Das Konzert ist nicht teurer als die Eisrevue, das literarische Taschenbuch nicht teurer als der Illustriertenroman. Die Barriere liegt in dem höheren Anspruch, in der größeren Schwierigkeit, die zum Wesen der Hochkultur gehört.

Nach Hochkultur besteht nicht so sehr ein individueller wie ein gesamtgesellschaftlicher Bedarf: ohne ihre gesteigerten Leistungen würde allmählich auch das gesamte Kulturniveau absinken; sie ist auch das

notwendige Adjunkt zu den zivilisatorischen Spitzenleistungen auf anderen Gebieten, in Wissenschaft, Technik und sozialer Problembewältigung.

Die Hochkultur benötigt aber zu ihrer Einbindung in die Gesamtkultur menschliche Zwischenträger, die selbst von den Werten der Hochkultur ergriffen sind. Nur bei diesen fruchtet Information. Es wäre daher ein besonders intensives Informationsnetz für solche kulturelle Vermittler auszubauen. Sie alle, Lehrer und Animateure, Betriebsräte und

Vereinsorganisatoren, aber auch Personen, die einfach ihr Interesse bekunden, sollten auf Anforderung — und wiederum gegen sozial ausgleichende Beitragsleistungen — Informationen über zugängliche Hochkultur-Ereignisse und vermittelbare Künstler erhalten und für ihre Vermittlerrolle geschult werden.

Hier läge dann auch der Ansatz zu einer allmählichen Rückkehr der derzeitigen Elitenkultur ins Zentrum des Lebens. Wenn immer mehr Menschen mit aktivem Kontakt zum kulturellen und künstlerischen Ausdruck die Werke der Hochkultur rezipieren und vermitteln, wenn dies in zahllosen Gruppen und kleinen Gemeinschaften vor sich geht, dann kann die Provokation der Hochkultur nicht ausbleiben. Die Kulturpolitik braucht dann dieser Entwicklung nur zu dienen. Wie? Da lassen sich nur Richtungen ahnen, wie:

• Verlebendigung des wissenschaftlichen Expertentums durch Kunst,

• Aufwertung der emotionalen Lebensbewältigung gegenüber dem bloß äußerlichen Erfolg,

• Erzieherrolle großer Künstler bei der kulturellen Aktivierung,

• Wachsende Resistenz der kulturell gefestigten Menschen gegen Manipulation und Persuasion,

• Engagement der Kunst in politischen, religiösen und sozialen Bewegungen.

Alles das ist schon da, zeichnet sich ab, setzt sich aber noch nicht durch. Die Dynamik unseres Gesellschaftssystems bedarf hier der gewollten und bewußten Korrektur, indem die als positiv erkannten Tendenzen bestärkt werden. Das kann nicht durch eine einzelne Maßnahme, sondern nur durch eine kontinuierliche und vielseitige Kulturpolitik in einer klar erkannten und beschriebenen Richtung erfolgen. Die Diskussion über diese Richtung wurde von Minister Sinowatz eröffnet. Der Prozeß der Neuorientierung braucht aber viele Jahre. Und er muß von einem breiten Konsens getragen werden, der zumindest in den wesentlichen Grundzügen auch über die Parteigrenzen hinwegsehen sollte.

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