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Der im XX. Jahrhundert lebende Mensch ist in den letzten Dezennien mit geradezu beängstigender Unbedenklichkeit und Leichtigkeit zu einem geistigen Verdauungsphänomen geworden. In kürzester Frist versteht er es, sich naturwissenschaftliche, technische und zivilisatorische Neuerungen, Erkenntnisse und Entdeckungen von umwälzender revolutionärer Bedeutung mit einer beinahe sturen Selbstverständlichkeit zu eigen machen, sie zu seinem Vorteil, aber auch zu seinem Verderben zu nutzen, ohne viel darüber nachzudenken. Ihm genügt es, daß die Hirne von Spezialisten fieberhaft daran arbeiten, mit welchen Mitteln und Möglichkeiten Lebewesen in den Weltenraum und zu anderen Sternen katapultiert werden können. Die Zertrümmerung der Atome und die damit freiwerdende Urgewalt aufbauender oder vernichtender Kräfte nötigt ihm kaum mehr als einen staunenden Augenaufschlag ab. Zugegeben, daß im Zeitalter einer mit Riesenschritten vorwärtsstürmenden Wissenschaft und Technik, das Streben des Einzelnen zu universellem Wissen ein wenig außer Mode geraten ist, weil es dem Individuum rein physisch und psychisch nur schwer mehr möglich ist, die weitverzweigten und ungeheuer kompliziert gewordenen Gebiete der Medizin, Physik, Technik von einer zentralen Warte aus zu überschauen.

Aber haben wir, wenn wir ganz ehrlich gegen uns selbst sind, überhaupt noch den Willen und die Energie, jene Straße zur allumfassenden Überschau zu beschreiten, wie dies ein Erasmus von Rotterdam, Leonardo da Vinci oder Leibniz taten, wobei sie zugleich noch die Kunst oder die Philosophie in ihre Betrachtungen einbezogen? Wohl waren jene Männer strahlende Höhepunkte einer allgemeinen Geisteshaltung, die jedoch auf dem ähnlichen Streben gleichgesinnter Persönlichkeiten basierte? Warum aber hat in unserer Epoche, die so großartige Erfindungen und Entwicklungen wie die Eroberung des Luftraumes, das Radio, Fernsehen und die umwälzende Kernspaltung aufzuweisen hat, in der großen Mehrzahl unserer Zeitgenossen, kraß gesagt, das Bemühen und Interesse am selbständigen Mitdenken und geistigen Versenken in diese und andere Phänomene so enorm nachgelassen?

Die mögliche Beantwortung dieser Frage bringt uns zwangsläufig auch mit dem Medium „Fernsehen“ und dessen kritischer Durchleuchtung als dem jüngsten und derzeit wohl eindringlichsten Massenbeeinflussungsmittel in Berührung Denn hier auf dem Bildschirm geschieht tagein, tagaus, wohlgemerkt in der besten Absicht der Information, Anregung und Unterrichtung, etwas, das viel nachhaltiger als es Rundfunk und Presse je vermögen, der dem Menschen angeborenen Trägheitsneigung in weitem Maße Vorschub leistet.

Es ist sicher etwas Großartiges und Wunderbares, daß bei hunderten Millionen von Menschen allabendlich die ganze Welt mit ihren Aufregungen, Sensationen, Schönheiten und Scheußlichkeiten nur durch einen Druck auf Knopf und Taste in den eigenen vier Wänden zu Gast ist. In den Filzpantoffeln häuslicher Bequemlichkeit wird der Mensch zum Tatzeugen von Ereignissen und Erlebnissen, zu deren Erwerb und Genuß er nicht einmal den Fuß vor die Tür zu setzen braucht. Ein grandioser Fortschritt, der wohl dazu angetan ist, den geistigen Horizont zu weiten sowie der Verständigung und dem Verstehen unter den Völkern zu dienen — und der doch zugleich die Gefahr des Allzuselbstverstän-lichen und des Gleichgültigwerdens, ja, des Abstumpfens gegenüber dem Reiz des Unbekannten, des zu erobernden seelisch-geistigen Neulandes in sich birgt.

Das simple Beispiel der Fußballvereine und -verbände, die sich gegen die Fernsehübertragung besonders interessanter und zugkräftiger Matches sträuben, um nicht vor verhältnismäßig leeren Bänken und für dementsprechend magere Kasseneriöse spielen zu müssen, mag da als ein zwar primitives, doch für die gesamte geistig-soziologische Problematik des Fernsehens symptomatisches Warnzeichen gelten.

Mit Hilfe einer bewundernswerten, weltumspannenden und ständig fortschreitenden Technik wird alles getan, um dem Menschen das eigene Bemühen und die Verantwortung für seine Fortbildung und geistige Beschäftigung nicht nur zu erleichtern, sondern sie ihm völlig abzunehmen.

Gerade dem Fernsehen aber kommt infolge seines Eindringens in die intime Sphäre des Menschen bei dieser Entwicklung, die unter ungünstigen oder gar demagogischen Voraussetzungen schließlich in eine absolute geistige Hörigkeit münden kann, erhöhte und entscheidende Bedeutung zu.

Wie oft begegnen wir schon in jenen Bevölkerungsschichten, die mit zu den Hauptkonsumenten des Fernsehens gehören und in denen die selbständige Urteilsbildung nicht zu den hervorstechendsten Merkmalen zählt, der apodiktischen Äußerung: Das wurde eben im Fernsehen so dargestellt. Allein schon dadurch trägt die betreffende Sendung — mag es sich um Reportage, Aktualität oder Dokumentation handeln — für die große Mehrzahl der Zuschauer den Stempel einer, noch dazu von einem Fachmann dargebotenen „fiktiven Wahrheit“, über die man sich selbst weiter nicht den Kopf zu zerbrechen braucht. Außerdem ist es ja viel bequemer, nur das von einem anderen schon vorgekaute geistige Produkt, noch dazu mundgerecht serviert, zu schlukken. Wer in Fabriken und Büros aufmerksam hineinhört, wird feststellen, daß die meisten Gespräche um die Fernsehsendungen diesen Tenor haben. Im Vergleich dazu erscheint das Lesen eines Buches — wenn es sich nicht gerade um einen Kriminalschmöker dreht — direkt als Arbeit, und das Hören einer Rundfunksendung ohne die gewohnte bildliche Hilfsstellung wird zu einer „faden Angelegenheit“. Denn bei den letzteren wäre man ja eventuell genötigt, mit-zuüberlegen, Gedankenverbindungen zu schlagen, was einem auf dem Bildschirm meist abgenommen wird.

Unmerklich schleicht der ansteckende Virus des „vorgekauten“ Problems durch die Fernsehstudios der Welt und läßt allmählich die Freiheit der eigenen Urteils- und Denkkraft in den Zuschauermassen erlahmen. So wie ein menschliches Gebiß, das nur wohlvorbereiteten Brei zum Durchschleusen erhält, auf die Dauer entartet und des wirklichen Zermahlens von Speisen unfähig und damit zur Ursache

FÜR DENKFAULE? allgemein schädigender Funktionsstörungen im Körper wird, so kann auch das menschliche Hirn durch eine gutgemeinte, von Spezialisten vorgekaute geistige Schonkost nach und nach in seiner eigenen sichtenden Denktätigkeit beträchtlich vermindert werden.

Achten wir also jeder von uns an seinem Platz darauf, daß die geniale Erfindung der Braunschen Röhre nebst ihren Verfeinerungen nicht zu einem Danaergeschenk und aus dem einzigartigen Mittel einer über alle Grenzen reichenden Massenverständigung nicht ein Instrument geistiger Vermassung wird.

Diese Ausführungen entspringen nun keineswegs der Mentalität rückschrittlicher „Bilderstürmerei“. Sie sollen nur mit nachdrücklichem Ernst die gewaltige erzieherische Aufgabe klarmachen, die allen Verantwortlichen bei der Gestaltung von Fernsehprogrammen zufällt. Den Zuschauer durch eine von den verschiedensten Standpunkten geformte Berichterstattung zum individuellen Mit- und Nachdenken anzuregen, ist verpflichtendes Gebot; vor allem angesichts der mit verzehrender Hast täglich auf die Menschen einstürmenden echten und falschen Sensationen. Die genannte Zielsetzung findet freilich eher in hart aufeinanderprallenden Diskussionssendungen als in mehr oder minder

Lichbildsielle des Osterreichischen Fernsehen! unterhaltsamen Quizserien ihre Erfüllung. Auch müßten viele Reportagesendungen so gebaut werden, daß der Beschauer nicht mit einem fertiggelösten Problem oder einem fest umrissenen Eindruck konfrontiert wird, sondern durch Bild und Kommentar gleichsam dazu gezwungen wird, sich durch Lesen von Büchern oder Besuche und Reisen selbst die letzten Bausteine zur Lösung oder zum Verständnis einer im Fernsehen angeschnittenen Frage zu verschaffen.

Diese Forderungen, in die auch noch das große und wichtige Gebiet der Unterhaltung organisch und sinngemäß einzuordnen ist, mögen vielleicht auf den ersten Blick überspitzt wirken. Je mehr man sich aber mit ihrer Realisierung beschäftigt und ihr wenigstens ernsthaft näherzukommen trachtet, wird man zu der Gewißheit gelangen, daß nur durch solche Überlegungen das Fernsehen der ihm immanenten Gefahr entrinnen kann, zu einem Brückenpfeiler menschlicher Denkfaulheit zu werden. Vielleicht kann das Fernsehen bei richtigem Erkennen seiner Situation dann sogar dank seiner noch im Anfang stehenden interkontinentalen, ja interstellaren Verbindungsmöglichkeiten sich zu jenem Medium erheben, das imstande wäre, auch im Gros der Menschheit das Interesse an der eingangs erwähnten universellen Überschau und Wertung wiederzuerwecken. Damit hätte es seine schönste und wertvollste Funktion erreicht. Beide Wege wurden dem Phänomen „Fernsehen“ in die Wiege gelegt. Auf unser Verhalten, unsere Reaktionen wird es entscheidend ankommen, welchen der beiden es einschlagen wird.

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