6593467-1952_42_01.jpg
Digital In Arbeit

Staatshaushalt und Staatsnotstand

19451960198020002020

Eine österreichische Existenzfrage

19451960198020002020

Eine österreichische Existenzfrage

Werbung
Werbung
Werbung

Der junge Mann wendet sich zum Gehen. Zeugnisse, Manuskripte, Empfeh-% lungen verschwinden in der Innentasche des fadenscheinigen Überrocks. Draußen pfeift der kalte Wind dieses Herbstes. „Drinnen pfeifen sie auf uns." Das sind seine letzten, bitteren Worte zwisdien Tür und Angel. Wieder nichts. Tag für Tag, Woche für Woche hat er nun Redaktionen, Institute, Verlage, Ministerien besucht. Auf Arbeitsuche. Wer aber in Wien, in ganz Österreich braucht einen ausgelernten, ausstudierten Germanisten, Historiker, Geisteswissenschafter? Fast niemand. Die wenigen Stellen, die im Unterrichtsfach zu vergeben sind, werden von Schlangen von Bewerbern umworben. Ein seltener, immer noch seltener werdender Glücksfall, wenn ein Verlag, eine Redaktion, ein Sender eine neue Kraft braucht. Wozu auch? Alte, erfahrene Publizisten, geistige Arbeiter stehen zur Genüge auf dem Markte; wer braucht da noch junge, die sich erst einarbeiten müssen? Von denen man nicht weiß, ob man sie morgen noch beschäftigen kann. Denn: „die Geschäfte gehen schlecht sie gehen zumindest nicht gut. Wer kauft schon ein literarisch hochwertiges Buch in Österreich? Welches Theater, das nicht aus Bundesmitteln erhalten wird, kann es mehr als das eine oder andere Mal wagen, Stücke, die Ansprüche an Bildung, Denkvermögen, geistige Kultur stellen, zu bringen? Welche Zeitung pflegt noch das hochrangige Feuilleton, den wirklich geistreichen Essay? Welche Sendestation erlaubt es sich, Sendungen zu bringen, die über eine gewisse „interessante" Flächigkeit hinausgehen?

Wieder nichts. Der junge Arzt wendet sich zum Gehen. Er wird keine Redaktion mehr aufsuchen, kein Institut, keine Forschungsstelle, keine Klinik. Er wird nach Hause gehen und seinem Onkel in Ubersee schreiben. Hat ihn dieser nicht schon mehrmals eingeladen, hinüberzukommen? Nun ist es soweit.

Das ist die zweite Möglichkeit unseres jungen Nachwuchses in der geistigen Arbeiterschaft: auswandern. Als Landarbeiter also zunächst nach Kanada, dann weiter in die Staaten; nach Australien, nach Südamerika, nach Südafrika.’In den Vorderen und Mittleren Orient. Ärzte, Ingenieure, Naturwissenschafter bevorzugt. Der junge Mann lächelt. Er wird sich nicht mehr herumschlagen auf der Stellungsuche, mit Ämtern, Behörden, Empfehlungsschreiben. Er ist eine hoch- qualifizierte wissenschaftliche Kraft, hat im Ausland bereits mehrfach in Fachzeitschriften publiziert, ist nun Ende der Dreißig; in Österreich hat er zwischen 1945 und 1952 vier Gelegenheitsarbeiten und einige Dutzend Versprechungen eingeheimst, die alle und insgesamt nicht ausgereicht haben, seine kleine Familie zu erhalten, das Geld für Kleidung,

Heizung, Kost aufzubringen. Nun unterschreibt er.

Das ist die dritte Möglichkeit unseres Nachwuchses in der geistigen Arbeiterschaft: der Ausverkauf. Die Werber gehen um, landab, landauf. Man muß- nur die Augen offen halten, dann laufen sie einem über den Weg. Nicht nur für die Fremdenlegion. Honette Firmen, Industrien, Unternehmungen; wieder geht es meist nach Ubersee; zum Teil bleiben die angeworbenen Kräfte in Europa. Zum Teil sogar sehr nahe; etwa in Deutschland.

Etwas müde und verlegen sieht uns der Mann anfangs vierzig von der Seite her an. Er ist nicht mehr der jüngste. Er hat nicht versagt; über Achtungserfolge ist er aber nicht hinausgekommen; gewiß, seine Schubladen bergen noch ein halbes Dutzend unveröffentlichter wissenschaftlicher Arbeiten. Zur Volkskunde etwa, zur Kulturgeschichte unseres Landes; viele Fächer gibt es, und viele Arbeiter gab es. Eine entfernte Verwandte, in einem kleinen Ort in Oberösterreich, hat ihm angeboten, in ihr Geschäft einzutreten. Am Lande; ein Geschäft, in dem es alles gibt, was die Bauern am Sonntag einkaufen und die Bäuerinnen brauchen; von Zwirn also bis zum Lodenrock, vom Fahrrad bis zum Ölsamen. Er wird ein Dach über dem Kopf haben, keinen Zins zahlen; viel wird er nicht verdienen, das Essen aber wird gut sein und sehr ausreichend; den Kindern wird die frische Luft gut tun, und, wenn er durchhält, wird er eines Tages das Geschäft übernehmen. Dann wird er vielleicht im Spätherbst einmal in die Stadt fahren, um ein gutes Theater zu sehen. Auch ein Buch lesen. Zu eigener Arbeit freilich reicht es nicht mehr. Vierzehn Jahre wissenschaftliche Arbeit, als Assistent, wissenschaftliche Hilfskraft, Experte, sind vergangen. Vorbei.

Das ist die vierte Möglichkeit unserer geistigen Arbeiterschaft: abwandern.

Abwandern in andere Berufe, „Stellungen". Aufgabe der eigenen Arbeit, des eigenen Schaffens, der eigenen Berufung.

Das sind die Möglichkeiten, in Österreich? Gibt es sonst keine anderen?

Einer beschränkten Zahl von Stellungswerbern eröffnet sich die Möglichkeit, über ein Parteibuch — streng nach dem Proporz — oder über die Mitgliedschaft zu einem parteinahen Interessenverband eine „Stelle" zu ergattern. Wohlgemerkt: eine „Stelle", das heißt also: eine Versorgung, die, nothaft meist genug, Brot und Quartier mittelt, „Gehälter", für die eine Arbeit verlangt wird, die auch in diesem allergünstigsten Fall, mit „Protektion", kaum jemals etwas zu tun hat mit jener anderen Arbeit, wofür Befähigung, Ausbildung und damit hohe, nicht selten höchste Leistungsfähigkeit des Bewerbers diesen berufen.

übertreiben wir? Gewiß nicht: das hier Angedeutete ist nur ein schmaler Hinweis auf das, was sich seit sechs Jahren hier in unserer Redaktion und in der aller artverwandter Institutionen abspielt. Tür aus, Tür ein: ein Strom junger, jüngerer Menschen, der Tag um Tag, Sommer und Winter, Jahr für Jahr nicht abreißt. Helle, wache, kluge Augen; nicht selten gereifte Köpfe, deren Intellekt, deren hohe Bildung nach wenigen Sätzen sichtbar werden; Zeugnisse, Zertifikate! wissenschaftliche Arbeiten und Belege. Und dann: die Schilderung ihrer Bitt-, ihrer Bettelgänge. Und dann: wie wenigen von ihnen kann von uns geholfen werden. Kann überhaupt geholfen werden, heute, in Österreich, wenn alle, die Verantwortung tragen, sich nicht in später Stunde klarwerden, was hier überhaupt geschieht, und was getan werden muß, an umfassenden Maßnahmen, um dieser Gefährdung unseres Staates, unserer Demokratie, unserer Volks- und Kultursubstanz kräftig und schnell Einhalt Zu gebieten!

In den Spalten unserer Zeitschrift war oft von der Gefährdung des Waldes die Rede, und von der damit erhöhten

Lawinengefahr. Die Ausrottung unseres Nachwuchses in der geistigen Arbeiterschaft stellt eine Erhöhung der Lawinengefahr im politischen, gesellschaftlichen Raum dar, die wenigstens im Begriff hier vorgestellt werden muß.

In seiner vielbeachteten Rede an die deutschen Stundenten in Frankfurt gegen Ende des letzten Sommersemesters wies der deutsche Bundeskanzler darauf hin, daß, gefährlicher als Kriegsdrohung und Atombombe, die innere Vermassung die heutige Menschheit und das deutsche Volk bedrohe. Dieser Vermassung entgegenzutreten, sei erste Pflicht, Chance, Aufgabe des Akademikers heute. Wir haben diesen Hinweis nur für Österreich zu exemplifizieren: das Fehlen eines politischen Nachwuchses in allen Parteien, die mangelnde Durchblutung unseres Gemeinwesens mit gebildeten politischen Verantwortungsträgern (an ihnen fehlt es in den Gemeinden, in den großen Betrieben, Gesellschaften ebenso wie in den Bürokratien und Gewerkschaften) hat hier eine primäre Ursache. Immer kleiner wird die Zahl jener, die politische, staatsbürgerliche Verantwortung tragen wollen. Warum? Weil unsere Gesellschaft sich einfach als unfähig erweist, Eliten zu bilden; weil sie diese, in der Bildung begriffen, ausrottet (siehe oben).

Die Klage über die geringe Anteilnahme am öffentlichen Leben birgt Hypo- krisie, zu deutsch: Unverstand und Heuchelei. Ein Land, das sich seiner Pflicht zur Förderung, ja, sagen wir es offen, zur Aufzucht einer gebildeten, geistig geschulten und geistig eigenständigen Bevölkerungsgruppe nicht mehr bewußt ist, begeht politisch Selbstmord. Es verzichtet darauf, seine Massen zu durchformen, es glaubt, Macht verantworten zu können in klein-kleinsten Kreisen von ephemeren Machtträgem — und begibt sich damit der Möglichkeit jener Volkserziehung, ohne die wir alle morgen verloren sind — besteht doch in ihr die einzige echte Chance der freien Welt, von Japan über Amerika bis Wien!

Was klagen die Theater, der Buchhandel, die Volkshochschulen, die Parteisekretäre, die Bildungsdirektoren? Es fehle an Menschen, die bereit sind zur Persönlichkeitsbildung, zur Selbsterziehung, zur Ausbildung eines Problembewußtseins! Wer nämlich kein Problembewußtsein besitzt, ist bereits Masse, ist Sand auf der Schippe der Manager, der Schlagworte, wehrloses Werkzeug, Opfer aller Massenpsychosen. Problembewußtsein — lebendiges, waches Offensein für die Komplexitäten der modernen Welt, kritische Wachheit gegen alle Kurzschlüsse und Kurzatmigkeiten im politischen, geistigen und kulturellen Bereich besitzt aber nur der geschulte geistige Arbeiter, er, der mit vieler Jahre Mühen das Erlebnis bezahlt hat, wie schwierig, wie reich, wie großartig vielfältig Fragen und nicht selten auch Lösungen, echte Lösungen beschaffen sind. In Beruf und Berufung erfährt der geistige Arbeiter diese Ausbildung des Problembewußtseins. Wenn er es betätigen kann, ist er der beruflich bestimmte Verantwortungsträger im Raum des Politischen, der Kultur und Gesellschaft. Wenn er bedrängt, in die Enge getrieben oder nahe-

zu ausgerottet wird, wird er zum Element der Zersetzung, der Revolution, einer alles zerstörenden Kritik.

Die faschistischen Revolutionen (und nicht nur sie) sind nicht von Arbeitern und nicht von Bauern gemacht worden, sondern von geistigen Arbeitern und Intellektuellen, denen man die Lebensmöglichkeit nahm oder so beschnitt, daß sie in Angst kamen, völlig zugrunde zu gehen. Untergangsangst schuf die Radikalismen um die Denker und um die Täter des „Untergangs des Abendlandes“,

Die politische Misere, die kulturelle Malaise und die wirtschaftliche Unordnung in Österreich sind mit Ausdruck der Unterdrückung der geistigen Arbei-

terschaft Österreichs, die im stillen, latenten Klassenkampf zwischen Arbeitern und Bauern unter die Räder gekommen ist.

Der Nationalrat steht vor seiner HeTbstsaison. Wie oft hat er sich in den abgelaufenen sechs Jahren mit den Lebensfragen der geistigen Arbeiterschaft beschäftigt? Eine Unsumme von Gesetzesarbeit wurde geleistet; für diesen staatstragenden Stand ist so gut wie nichts geschehen. Ein Budget von an die z wa n z ig t a u s e n d Millionen Schilling steht zur Debatte. Wo sind in ihm die Beträge für die Erhaltung der Substanz dieses Standes enthalten? Niemand darf wagen, die dem Unterrichtsministerium zugewiesenen Gelder als solche zu bezeichnen, sie sind weder geeignet, Substanz zu erhalten, geschweige denn neue zu bilden.

Man spricht von Verwaltungsreform;

man spricht vom Wahlkampf. Beide werden nur reüssieren, wenn vorher die Arbeit aller staatsbewußten Kräfte, in Parteien, Kammern, Gewerkschaften, im Verein von politischer, öffentlicher und privater Initiative begonnen hat, durch Erstellung und Ausführung eines Sofortprogramms, eines Notstandsprogramms, der geistigen Arbeiterschaft und ihrem Nachwuchs Hilfe zu bringen.

Wir wünschen einen Staatsvertrag? Wir wünschen Hilfe des Auslandes? Helfen wir. doch zuerst uns selbst; helfen wir einem Stande, der der Hilfe aller bedarf, soll er für alle Hilfe bringen: als ein Träger der Verantwortung, der Wissenschaft, der politischen Kultur. Als Bannwald gegen jene Vermassung, deren würgende Spuren wir so oft bereits im öffentlichen Leben zu sehen beginnen: in der Brutalität der innenpolitischen Auseinandersetzung, in der Radikalisierung par tikularer Interessen, in der Lethargie derer, die zur Tat und Machtübung verpflichtet sind.

Gericht und Verwaltung, Lehrerschaft und Kultur, Realisierung der Demokratie — das alles sind harte, ernste, mühsame Geschäfte; sie wollen von Arbeitern getan sein, die an Selbstzucht, geistige Anstrengung und Entsagung gewöhnt sind. Noch besitzen wir solche Arbeiter. Ihr Stand aber ist in Gefahr, ausgerottet zu werden — die Prozesse der letzten Jahre beweisen es mit erschreckender Deutlichkeit. Ihn zu erhalten und aufzuforsten, ist die Aufgabe der Volksvertretung, die in diesen Tagen zu neuer Arbeit im Parlament Zusammentritt. Täusche sich niemand über die Dringlichkeit und über die Größe der Gefahr. Fällt dieser Bannwald, stürzt die Demokratie in Österreich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung