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Im Ringen um eine neue Sozialordnung

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Nun ist schon wiederholt in der ‘britischen Presse und im britischen Parlament immer wieder der Schreckensruf laut geworden: „Deutschland erholt sich zu schnell!“ Indes ist die ‘Wirtschaft der Bizone in eine schwere Krise geraten. Die Zahl der Arbeitslosen in der Bizone hat jetzt schon die Millionengrenze überschritten und steigt weiter an. Die Zahl der Konkurse nimmt sprunghaft zu. Die Umsätze aller Wirtschaftszweige gehen scharf zurück. Dank der von Professor Ehrhard, Frankfurt, eingeleiteten Wirtschaftspolitik, welche den Warenverkehr erfolgreich aus den bisherigen Bindungen befreite, gingen zum Glück die Preise im freien Handel zurück: die Zwang swirtsch a ft ist völlig gegenstandslos geworden. Freilich, auch wenn die Preise noch weiter fallen sollten, übersteigen sie immer noch die Kaufkraft der breiten1 Massen. Der Reallohn eines Arbeiters mit vierköpfiger Familie reicht kaum zum Lebensunterhalt. Die Zahl der Ehescheidungen als Folge der zerrütteten Sozialverhältnisse übertrifft an vielen Orten die Zahl der Eheschließungen.

Glanz und Elend wohnen dichter beisammen als je zuvor. Überall schießen Spielkasinos aus dem Boden der Trümmerstädte und „Kurorte“, und nebenan häufen sich die Familientragödien aus Geld- und Nahrungsmangel. Die Flüchtlinge bezahlen die Zeche. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen ist ungewöhnlich groß und beträgt vielenorts mehr als 50 Prozent. Zahlreiche kleine und mittlere Flüchtlingsbetriebe haben die Geldumstellung nicht überstanden, da ihnen die Kapital- und Kreditbasis fehlte und die erzeugten Waren allzuoft den erhöhten Ansprüchen nicht mehr genügen. Gleichzeitig hat sich der soziale Riß zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft vertieft.

“Trotzdem Kat die breite Masse bisher erfolgreich allen Versuchen einer Radikalisierung widerstanden, nicht zuletzt, weil sich die Massen überzeugt haben, daß die Gewerkschaften wenig gut beraten waren, als sie die Zwangswirtschaft verteidigten. Die Parteien haben außer rein propagandistischen und wirklichkeitsfremden Wohnbau- programmen bisher kein eigenes Wirtschaftsprogramm aufgestellt und werden dies wohl auch kaum tun, solange die deutsche Wirtschaftspolitik von den Besatzungsmächten beeinflußt oder gar gesteuert wird. Dadurch hat sich in erstaunlichem Maße eine Abkehr von den Ideologien und Parteidogmen angebahnt. Die vernünftige Politik der vermitteunden Mitte gibt die Richtung. Hier treffen sich plötzlich die Kräfte des Aufbaus zur gemeinsamen Arbeit und Planung.

Nur dadurch ist es möglich, daß es sogar in dieser deutschen Notzeit unternommen werden kann, einen Ausgleich zwischen den Sozialpolen „Arbeit“ und „Kapital“ zu finden. Der Geist des großen Reformers Ernst Ebbe lebt weiter, mag auch sein Werk zugunsten des östlichen Sozialismus zerschlagen worden sein. Im Herzen des Ruhrgebietes, der einstigen roten Hochburg, hat die neue Leitung der „Duisburger Kupferhütte“ einen großangelegten Versuch angetreten, die Arbeiterschaft durch Gewinnbeteiligung am wirtschaftlichen Erfolg und am sozialen Frieden zu interessieren und einen „Leistungslohn“ zu zahlen. Ein völlig neues Lohnsystem ist erstellt worden, das den einzelnen viel stärker als bisher an seinen Arbeitsplatz und an seine Arbeit bindet. Die Bummelei hat fast ganz aufge- hört, Verschleuderung oder Diebstahl von Arbeitsgerät kommen kaum mehr vor. Eine erhebliche Leistungssteigerung hat dem Werk die Überschreitung des Produktionsziels erlaubt; es wird in diesem Jahre die Vorkriegsleistung ermöglichen. Von besonderer Bedeutung war hier, daß der Vorsitzende des Betriebsrates, seit drei Jahren stets wiedergewählt, als gleichberechtigtes Direktionsmitglied an allen Direktionssitzungen teilnimmt und dort die Interessen der Belegschaft vertritt. Er ist nicht auf das Wohlwollen der Büröbeherrscher angewiesen, sondern handelsrechtlich eingetragener Prokurist und für die Leitung des Werkes voll mitverantwortlich. Dadurch ist ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer entstanden, das alle Betriebsangehörigen zu einer großen Familie zusammenfaßt und doch jenseits aller verlogenen Schlagworte die alten Gegensätze nicht leugnet, sondern sie durch gemeinsames Interesse überbrückt. Der Arbeiter wird zwar nicht zum Miteigentümer, wohl aber zum Mitunternehmer.

Ernst Abbe hat einmal gesagt, daß alle sozialen Fortschritte nur unter der Parole „Fortschrittliche Arbeiter und fortschrittliche Unternehmer gegen rückständige Arbeiter und rückständige Unternehmer“ erzielt werden können. Soll es eine Bestätigung dieses Satzes sein, daß das große Experiment der Duisburger Kupferhütte von den. Parteien wie von den Gewerkschaften ignoriert wird? Doch besuchen bereits die Betriebsratsvorsitzenden naher und ferner Werke die Duisburger Kupferhütte und lassen sich dort alle Einzelheiten erklären. Manche fortschrittliche Unternehmer sehen hier die große Chance, soziales Neuland zu erobern. Vielleicht bildet Duisburg den Ausgangspunkt zu einer großen Neuordnung des westdeutschen . Sozialverhältnisses.

Bezeichnend für die Situation ist, daß die Kinderdorfidee in Westdeutschland längst nicht den festen Boden gefaßt hat, wie man dies im philanthropischen Ausland anscheinend erwartet hatte. Dieselben Menschen, die vor der Geldreform durch Hungerstreiks gegen ihre menschenunwürdige Unterbringung in schadhaften Barak- ken protestierten und ihre Umsiedlung in bessere Quartiere in Landgebieten erreichten, würden heute gern wieder in die Baracken der Vororte zurückgehen, wenn sie dort nur wieder Arbeit und Verdienst finden könnten. Das Heer der streunenden Jugendlichen, der Bahnhofsjugend zumal, ist verschwunden und längst wieder zur geregelten Arbeit zurückgekehrt. Nichts ist erschütternder als die Unterhaltung mit diesen „Makkern“, die durch Schwarzhandel oft sehr gut lebten und doch immer wieder ihre Sehnsucht nach Ordnung und Arbeit aussprachen, die ihnen der Krieg genommen hatte. Der Willi zur Ordnung und Arbeit war bei den meisten vorhanden, Und als die neue D-Mark Ordnung und Arbeit wieder lohnend werden ließ, kehrte der Großteil zu ihnen zurück. Der Bodensatz eindeutig krimineller Jugendlicher ist sicher nicht größer als in anderen Ländern. Das Ansteigen der Jugendkriminalität ist nur die Folge der sozialen und Wirtschaftskrise dieser Tage und Wochen.

Dagegen scheint eine andere Idee nun langsam Gestalt annehmen zu wollen. Der Weltkirchenrat hat sich wiederholt mit dem Problem einer neuen Heimat für Flüchtlinge, Heimkehrer und andere Heimatlose in Deutschland befaßt und einen Plan ausgearbeitet, wonach in der Bizone auf früherem Wehrmachtsgelände Flüchtlingsstädte errichtet werden sollen, Der erste Versuch dazu wird auf dem früheren Munagelände von Espelkamp bei Lübecke i. W. gemacht. (Vgl. „Furche“ Nr. 12, Querschnitt: „Der steile Weg“.) Auf dem 1200 Morgen großen Gelände sind 116 Gebäude, meist große Steinbaracken, und einige große Werkhallen, nicht gesprengt worden, da sich kirchliche und Regierungsstellen rechtzeitig für ihre Erhaltung verwandt hatten. Hier soll nun eine soziale Mustersiedlung entstehen. Die Anlage ist ringförmig gedacht, wozu 6ich das waldreiche Gelände besonders eignet. Im äußeren Ring werden die größeren Industrieunternehmungen, in einem zweiten die kleinen Unternehmer und Handwerker Platz finden und anschließend, durch Waldgürtel getrennt, folgen Wohn- und Geschäftsviertel. Für Kriegsversehrte ist ebenfalls ein besonderes Gebiet vorgesehen. Zur Zeit werden in Zusammenarbeit mit kirchlichen und Regierungsstellen die Unternehmen ausgesucht, die zuerst angesiedelt werden sollen. Erst dann werden die eigentlichen Siedler folgen. Textilarbeiter aus Litzmannstadt, Glasbläser aus Gablonz, Holzarbeiter aus Schlesien und Handweber aus Bessarabien sollen Wer neue Arbeit und Heimat finden.

Das Eigenartige an diesem Projekt — denn vorerst handelt es sich nur um ein solches — liegt in der Zusammenarbeit von Staat, Wirtschaft und Kirche, die ihre Arbeits- und Interessengebiete aber genau abgegrenzt haben. Ein besonderer Ausschuß untersucht die Möglichkeiten, die vorhandenen Bauten zur Schließung von Produktionslücken auszunützen und danach die Auswahl der anzusiedelnden Unternehmen zu treffen. Die kirchlichen und karitativen Stellen besorgen ausschließlich nur die soziale Seite, während Staat und Wirtschaft die Finanzierung übernehmen wollen. Dadurch ist ein reibungsloser Ablauf der Aktion gesichert. Die neue Siedlung wird ihren Namen nach dem 1945 in Dachau ermordeten westfälischen Pfarrer Ludwig Steil erhalten, und „Steilhof“ soll ungefähr 10.000 Menschen Heimat und Arbeit geben, wenn es in ungefähr fünf Jahren vollendet sein wird. Die bei der Anlage gemachten Erfahrungen sollen dann beim Ausbau anderer Muna-Lager und. Flugplätze usw. verwertet werden.

Die Idee einer westeuropäischen Produktionsgemeinschaft und Produktionseinheit, eines über Rhein, Lippe und Ruhr bis zu den Grenzen des Kontinents erweiterten gigantischen Ruhrgebiets, ist heute die Sehnsucht und der Traum der Deutschen. Sie sind heute die überzeugtesten Anhänger einer europäischen Einheit. Nicht nur aus rein wirtschaftlichen Erwägungen! Die große Masse weiß heute, daß sie unter den jetzigen Umständen in Deutschland nicht leben kann. Sie wehrt sich gegen jede Möglichkeit einer Radikalisierung und möchte daher bereits die Voraussetzungen dazu beseitigen. Gespräche mit Arbeitern zeigen immer wieder, wie genau diese Menschen die schreckliche Alternative fürchten: entweder Freiheit, gekoppelt mit möglicher Massenarbeitslosigkeit, oder Diktatur, gekoppelt mit sicherer Arbeit, aber niedrigem Lebensstandard. Die instinktive Abneigung gegen jede ideologische Festlegung hat auch hier ihre Wurzeln.

Darum haben tapfere Versuche, wie bei der „Duisburger Kupferhütte“ oder mit neuen Siedlungen, eine über Deutschland weitreichende Bedeutung. Die Massen ahnen nicht nur, sondern sie wissen, daß eine neue Sozialordnung kommen muß, wenn nicht ihre alte Welt in Scherben fallen sol. Der Ausweg aus dem schrecklichen Dilemma „Kommunismus oder Kapitalismus“ kann nur auf der sittlichen Grundlage einer neuen Sozialordnung aus christlichem Geist gefunden werden, die aus dem Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital eine Interessengemeinschaft zwischen Arbeiterschaft und Unternehmer werden läßt. Aber das ist keine deutsche, sondern eine europäische Aufgabe.

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