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Albanien ist Weltanschauung

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Die Verfasserin dieses Beitrags, Journalistin des deutschen Fernsehens (ARD) in Wien, ist eine der wenigen Ausländer und gar Journalisten, die in das am stärksten isolierte Land Europas einreisen durften. Was sie sah und hörte, war in mehrfacher Hinsicht überraschend.

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Die Verfasserin dieses Beitrags, Journalistin des deutschen Fernsehens (ARD) in Wien, ist eine der wenigen Ausländer und gar Journalisten, die in das am stärksten isolierte Land Europas einreisen durften. Was sie sah und hörte, war in mehrfacher Hinsicht überraschend.

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Wenige Kilometer vom Flugplatz der albanischen Hauptstadt Tirana entfernt, am Weg nach Girocastra, vergeht einem zunächst die Gemütlichkeit, vor allem wenn man sich in die Lage eines ungebetenen Gastes versetzt: Mit Gewehren trainiert die Klasse einer Mädchenschule auf einem Turnplatz, und Küste und Straßenengen werden gesäumt von Verteidigungsanlagen, die sich sehen lassen können, Halbkugeln aus Beton mit Schießlöchem säumen gut getarnt die Straßen und Felder.

Da das Land wohl immer zu unbedeutend und auch zu gebirgig ist, als daß je eine Atombombe daran verschwendet werden wird, sollte sich auch ein übermächtiger Gegner nicht ohne große Verluste an den Skipetaren vergreifen.

Wer daraus, daß jeder Albaner bereit ist, sein Land bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, aber schließt, aaß es sich um ein aggressives oder auch nur abweisendes und verschlossenes Volk handelt, irrt -auch wenn bisherige Berichte das bestätigen. Meinungen, die über dieses sonderbare Land immer wieder geäußert werden, sind allerdings schon deshalb mit Vorsicht zu genießen, weil die Grenzen weiterhin eine für Journalisten kaum zu überwindende Barriere bilden.

Um so erstaunlicher ist, was man vorfindet Hier funktioniert tatsächlich eine Art klassenlose Gesellschaft, die freilich nur durch die besonderen historischen Voraussetzungen erklärlich ist. Griechen und Römer besetzten die Küsten, Kreuzzüge durchzogen das Land, Türken stürmten an und setzten sich fest, wurden verjagt, kamen wieder. 1939 fielen Mussolinis Soldaten ein und 1943 schließlich kamen die Deutschen und lieferten den bereits starken Partisanen noch erbitterte Kämpfe.

Es war ein kleines dezimiertes Bergvolk, von den verschiedenen Besatzungsmächten immer wieder unterdrückt, das nach langem, verbissenem Partisanenkampf 1944 den albanischen Staat wieder gründete. Sümpfe bedeckten damals die malariaverseuchten Ebenen. Zunächst mit Hilfe der UdSSR, dann mit Unterstützung der Chinesen begannen die Skipetaren langsam eine Industrie aufzubauen, die Sümpfe trockenzulegen, Spitäler und Schulen zu errichten. Gemessen an hochentwik-

kelten Industriestaaten sind ihre Erfolge bis heute bescheiden. Die Fortschritte der 2,7 Millionen Einwohner beeindrucken dennoch.

Anläßlich des 70. Geburtstages des Partei- und Staatschefs Enver Hod-scha wurde in der nach ihm benannten Traktorenfabrik soeben der erste eigene Traktor vorgestellt Die erste Phase des Stahlwerkes Elbassan ist abgeschlossen, er wird produziert und ausgebaut. Das Wasserkraftwerk in Fiersa liefert heute soviel Kilowatt Strom, wie Albanien bisher insgesamt benötigte, weitere Wasser-

feder Grundlage entbehren Gerüchte, die von neuerlicher Annäherung an Moskau sprechen.“

kraftwerke sind geplant. Elektrizität und Erdölprodukte werden exportiert, obwohl das Land selbst immer mehr benötigt. Mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt sich Albanien weitgehend selbst.

Wie seinerzeit die Sowjets sollen diesmal auch die chinesischen Spezialisten alle ihre Unterlagen verbrannt haben, bevor sie das Land verließen. „Sie haben aber auch vorher schon schwierige Situationen heraufbeschworen“, versichern einem die Albaner heute.

„Im Grunde wollten die Chinesen unser Industrialisierungsprogramm schon längst sabotieren. Seit unseren Erfahrungen mit den Sowjets haben wir uns aber ein langfristiges Konzept zurechtgelegt. Wir wollen Handel mit vielen Staaten auf reziproker Basis ausbauen, uns aber nicht durch Kredite abhängig machen, weil wir keine politische Bevormundung akzeptieren. Schulden haben wir nur an China, wir werden sie sobald wie möglich zurückzahlen, wahrscheinlich werden wir dadurch unseren Fünfjahresplan nicht ganz erfüllen.“

Für diese Behauptung spricht, daß heute durchsickert, der ehemalige Verteidigungsminister Balluku, der mit anderen Mitgliedern des Zentralkomitees wegen Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten abgesetzt wurde, habe nicht mit den Sowjets, sondern mit China unter einer Decke gesteckt

Das Interesse Albaniens am Aus-

bau der Handelsbeziehungen mit Jugoslawien, Österreich, der Schweiz und anderen Ländern hat seit dem Bruch mit China merklich zugenommen. Jeder Grundlage aber entbehren Gerüchte, die von neuerlicher Annäherung an Moskau sprechen. Rußland bleibt der imperialistische Erbfeind Nr. 1.

Das weiß in Albanien jedes Kind. Ebenso ist eine gewisse Erleichterung aller über den Abzug der Chinesen spürbar. Es war wohl doch ein sehr fremdes Volk, dessen Experten bis vor wenigen Monaten in den Fabriken aufkreuzten, und der Verdacht, daß sie ihr eigenes Süppchen kochten, auch im Volk nicht erst einige Monate alt.

Fragen wie diese werden tatsächlich auch auf niederster Ebene diskutiert Hier scheint mir auch der Kern der „Demokratie“ eines Landes zu liegen, das Demokratie in unserem Sinne nie gekannt hat. Die Wahlbeteiligung liegt immer bei 100 Prozent. Für die vorgeschlagenen Kandidaten gibt es keine Alternative. Am frühen Vormittag wird der Stimmzettel abgegeben und dann wird landauf, landab gefeiert

Was einem dann aber als „demokratischer“ Prozeß geschildert wird, ist in gewisser Weise auch eindrucksvoll, wenn man nicht zu den Linksromantikern gehört, die das albanische System in allen Staaten der Welt am liebsten morgen einführen würden. Es ist sicher kein geeigneter Exportartikel, unterscheidet sich aber doch wesentlich von der Auslegung des Marxismus in den Ostblockstaaten.

Jeder Bürger hat sich am politischen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen und wird in den Entschei-dungsprozeß eingeschaltet. Er ist innerhalb der „Demokratischen Front“ in seinem Betrieb, seinem Haus und, wenn er das anstrebt, auch noch in der Partei erfaßt.

Die kleinste Zelle bildet etwa ein Wohnblock, dessen Vorsitzender jedes Jahr neu gewählt wird. Er verteilt dann gemeinsam mit einem Komitee die Aktivitäten und schlägt schließlich seinen Nachfolger vor. In irgendein Amt gewählt kann aber nur werden, wer 1. im Betrieb voll seinen Mann stellt, 2. seine Familie in Ordnung hat und 3. interessiert am Allgemeinwohl und bereit ist, dafür etwas zu leisten. Wenn die Arbeiter oder Mitbewohner zu dem Schluß kommen, daß eine dieser Voraussetzungen nicht stimmt, kann der Vorsitzende auch während seiner Amtsperiode abgewählt werden.

Etwa fünf Prozent des Volkes sind Parteimitglieder. Sie genießen eine gewisse Achtung, sonst aber keine

Privilegien. In allen anderen Oststaaten kann man Parteifunktionäre an den Kleidern ihrer Frauen, an der Größe ihrer Autos, an der Ausstattung ihrer Wohnung erkennen. Hier gibt es das alles nicht. Außer ein paar italienischen Villen in Dürres und Tirana, die man fast an einer Hand abzählen kann, gibt es nichts Besonderes.

Ferienheime gibt es dafür genug, so daß jeder Albaner, der will, alle paar Jahre einmal dort seine 14 Tage Urlaub verbringen kann. Wenn man dennoch die Mitgliedschaft in der Partei anstrebt, muß man ein Ansuchen stellen und drei Jahre lang manuell in der Produktion arbeiten, egal, welchen Beruf man erlernt hat. Von der Arbeitsstelle wird dann über den Antrag entschieden. Wenn Parteimitglieder zurück in einen intellektuellen Beruf gehen, enthebt sie

„Privatleben gibt es keines. Was man und wie man es tut, ist einsichtig und geht alle an.“

die Mitgliedschaft auch nicht der Verpflichtung jedes Angestellten, jährlich weiterhin einen Monat in der Produktion zu arbeiten. Das alles aber sind Voraussetzungen für ein erstaunlich ungezwungenes Verhalten jeder kleinen Arbeiterin irgendwelchen Würdenträgern gegenüber.

Privatleben gibt es allerdings keines. Was man und wie man es tut ist einsichtig und geht alle an. Aber vom Verdienst her sind freilich die Möglichkeiten, den Neid des Nachbarn zu erregen, sehr gering. Der Mindestlohn beträgt etwa 550 Lee, der höchste im Lande etwas mehr als das Doppelte. Abzüge für Steuern oder Versicherungen gibt es ebenso wenig wie private Autos.

Ein Kilo Brot kostet 2, ein Kilo Fleisch 14 Lee; einen fertigen warmen Anzug kann man um 600 bis 800 Lee erstehen, billiger kommt es aber, wenn man Stoff kauft und den Anzug um etwa 200 Lee schneidern läßt. Es gibt zwar keine privaten Schneider, aber solche, die im Solde von Staat oder Genossenschaft auch kleine Geschäfte betreiben. Die Miete übersteigt nicht zwei bis drei Prozent des Lohnes, die Häuser auf dem Land aber stehen weiter im Eigentum ihrer Besitzer.

Um eine herausgehobene Schicht leitender Bürokraten zu vermeiden, wurde vor einigen Jahren die Kaderrotation eingeführt Danach werden höhere Beamte an die Basis oder in die Produktion versetzt, zudem stehen die Leiter jedes Betriebes unter

Unbestrittener Herrschen Albaniens Staats- und Parteichef Hodscha

Photo: Votava

Kontrolle der Arbeiter. Das alles kann man sich leichter vorstellen, wenn man bedenkt, daß 30 Prozent der Albaner unter 30 Jahre alt sind, optisch also kaum ein Unterschied zwischen einem Chef und seinem Arbeiter besteht.

Selbst das Thema Religion wird heute gelassener gehandhabt, als man von dem einzigen Staat der Welt annehmen würde, der die öffentliche Religionsausübung verboten hat. Erst 1967 wurden alle Kirchen und Moscheen umgewidmet, niedergerissen oder als Museum ausgestaltet. Die Katholiken im Norden des Landes hatten mit den letzten Besatzern, den Italienern, zu innigen Kqntakt, die Orthodoxen waren immer schon der jeweils herrschenden Besatzungsmacht ergeben, und die Mohammedaner betrachteten Frauen als Menschen minderer Qualität.

Vertreter aller Religionen haben sich zudem heftig gegen die Koüekti-visierung des Eigentums gewehrt und wohl auch die tatsächlichen sozialen Bedürfnisse des Volkes zu spät erkannt. Im Zuge dieses Kirchensturmes sind Dinge passiert, von denen die einen sagen, sie seien schauerlich, die anderen, sie seien notwendig gewesen.

Es gibt natürlich noch Gläubige. Als Christ kann man sich schlechten Gewissens dafür nicht erwehren, daß sie unbetreut bleiben. Vielleicht glauben wir bis heute, Werte verteidigen zu müssen, die am Weg zum Himmelreich eher hinderlich sind. Wenn das Größte und Wichtigste die gegenseitige Hilfeleistung ist, so dürften uns die Albaner in ihrem Verhalten zueinander in manchem voraus sein.

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