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Eine Jugend sucht ihren Staat

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Paris, im April 1956

Im Herbst vergangenen Jahres kam es unter den zu den Fahnen gerufenen jungen französischen Soldaten zu beachtlichen Unruhen. Die Einberufungen wurden notwendig, um der schweren militärischen Krise in Nordafrika Herr zu werden. Wenn auch diese Vorfälle nur sporadisch waren, so bewiesen sie doch, daß die Jugend mit Unruhe die Entwicklung in Algerien und Marokko verfolgt. Es ist nicht Mut, der den jungen Leuten mangelt, oder die Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung, im Gegenteil, alle Zeugnisse stimmen überein, daß sich diese Jugend am Platz tapfer und diszipliniert benommen hat. Sie verstand vielmehr nicht die politische Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens und desavouierte die mangelnde psychologische Vorbereitung der militärischen und zivilen Behörden.

Obwohl es sich meistens um junge Ehemänner handelte, die zum Aufbau ihres Hausstandes schwere finanzielle Verpflichtungen eingegangen waren, wurden sie doch ganz plötzlich verpflichtet und der Staat erkannte nicht die Notwendigkeit, sich ihrer Familienangehörigen anzunehmen oder ihnen die Arbeitsplätze zu sichern. Und dann — sollten sie nicht den „Freiheitskampf* der nordafrikanischen Völker unterdrücken und obskure kapitalistische Interessen vei ndigen? Der Staat, der von ihnen schwere Opfer verlangte, war bisher nicht imstande, der Jugend ein neues und echtes Ideal zu geben.

Wo steht nun die französische Jugend? Was denkt sie? Welche politischen Wünsche hegt sie? Kann man es wagen, darauf Antwort zu geben, ohne in den Fehler gefährlicher Verallgemeinerungen zu fallen? Alle politischen Parteien versuchen derzeit die Jugend anzusprechen. Mendes-France läßt sich als ihr Interpret feiern. Auf der anderen Seite waren bei den schweren Unruhen am 6. Februar 1956 in Algerien hauptsächlich Jugendliche beteiligt. Die Massenversammlungen Poujades weisen einen riesigen Zulauf von Jugendlichen auf. Und ist nicht der aktivste und dynamischste Abgeordnete der Poujade-Parlamentsgruppe der erst 26jährige Student L e Pen? Die Kommunisten machen ebenfalls alle Anstrengungen, um ihre Jugendorganisationen wirksamer auszugestalten. Selbst der Konservative P i h a y eröffnete seinen Wahlkampf mit einer Rede an die Jugend.

In diesem Zusammenhang wird es notwendig sein, die soziologische Zusammensetzung der französischen Jugend zu betrachten. 27 Prozent zwischen 20 und 25 Jahren arbeiten in der Landwirtschaft. 47 Prozent als Lehrlinge oder Arbeiter in der Industrie. 7 Prozent sind Angestellte, ein Prozent studiert, der Rest kann nicht entsprechend klassifiziert werden. Es fehlen uns die Unterlagen, um ein annähernd richtiges Bild über die Landjugend zu gewinnen. Wir begnügen uns daher, Beobachtungen und Erfahrungen wiederzugeben, die auf die studierende und Arbeiterjugend zutreffen. Es handelt sich dabei lediglich um Ausschnitte. Wenn auch versucht wurde, ein objektives Bild zu gewinnen, so bedürfen die im letzten subjektiven Eindrücke doch gewisser Korrekturen.

Die Jugend kämpft in erster Linie mit schweren materiellen Schwierigkeiten. Die Frage nach der Wohnung wächst nur zu oft zu einem unlösbaren Problem der Existenz. In vielen Fällen muß dies* Jugend in unhygienischen Zimmerchen ihren Studien oder Berufszielen nachgehen. Nicht nur ein, sondern hundert Abbes Pierre wären notwendig, um hier Abhilfe zu schaffen. Man schätzt, daß allein in Paris mehr als hunderttausend junge Ehepaare bei Schwiegereltern, in Dachkammern oder Hotelzimmern hausen müssen. Es ist nur zu verständlich, daß diese Ehen dadurch sehr gefährdet sind. Unter allen Jugendlichen herrscht Skeptizismus bezüglich der Berufsaussichten. Eine Untersuchung des JOC wies kürzlich nach, daß von 10.000 jungen Arbeitern jeder zweite keinen Fachberuf hat und jeder dritte ihn nicht ausüben kann. Der dringende Appell nach Schaffung von Arbeitsplätzen will nicht verstummen. Es fehlt eine gesunde berufliche Orientierung der Jugend. Sie verliert ihren Elan im Kampf um eine sehr prekäre materielle Sicherheit. Der harte Lebenskampf erzeugt eine innerliche Einsamkeit. Der Professor, der Vonneister im Betrieb sind nicht beratende Freunde. Der Unterschied zwischen den Generationen ist bemerkenswert stark akzentuiert. Man findet beispielsweise unter den jungen Ingenieuren starkes Verständnis für soziale Fragen. Doch die Betriebe sind nicht bereit, ihnen eine wirklich echte Verantwortung zu geben. So verstummt die Klage nicht, daß sie nicht arbeiten können, wie es ihrem Ideal entspricht. Sehr bald entmutigt, verfallen sie in eine Art traditioneller Gleichgültigkeit, ziehen sich zurück und vermeiden den menschlichen Kontakt mit ihren Vorgesetzten. Auch der Jungarbeiter wünscht mehr Verantwortung. Das ungenügende Verständnis der Autoritäten, einschließlich der gewerkschaftlichen, treibt die Jugendlichen nur noch stärker in eine markierte Selbstabgeschlossenheit. Die Gewerkschaften selbst werden lediglich als Instrument zur Erreichung besserer Löhne angesehen. Ein wirkliches Interesse am gewerkschaftlichen Denken ist nur in Ausnahmefällen sichtbar.

Die so erzielte Einsamkeit erzeugt eine gesteigerte nervöse Spannung. Der oberste Studentenrat verlangte eine umfassende psychiatrische Untersuchung der Studenten, um diesbezügliche Unterlagen zu sammeln und Heilmittel zu finden.

Die Masse der französischen Jugendlichen macht sich wenig Gedanken über die Zukunft der Zivilisation. Große politische oder geistige Ideen sind seit Kriegsende kaum aufgetaucht. Der europäische Gedanke hat durch einige Jahre eine gewisse Leidenschaft erzeugt, heute glüht nur noch ein ängstlich behütetes Feuer unter der Asche. Die politischen Ideen werden meistens in kleinen, jedoch aktiven Kreisen diskutiert. Sehen wir von den demagogischen Appellen ab, so finden politische Konzepte nur eine geringe Verbreitung. Der Wunsch geht eher dahin, fachlich-wirtschaftliche Kenntnisse zu erwerben. Ein Hang zur Technokratie ist bemerkbar. Mendes-France, der es liebt, in Statistiken und Wirtschaftsbegriffen zu sprechen, ist eher verständlich als jene Ideologien, die ihre Unwirksamkeit bewiesen haben. „Wirksam sein“ ist das Wort, das die Jugend anzieht. Der Erfolg in seinen verschiedenen Formen wird höher eingeschätzt als eine beharrliche, lang andauernde Arbeit, die nach einer strengen persönlichen Gewissenserforschung bescheidene Früchte trägt. Der Christlich-Demokratischen Partei wird vorgeworfen, daß sie seit 1948 wirkungslos gewesen sei, und das MRP konnte in Paris praktisch unter den Studenten keine wirklich gut funktionierende Gruppe aufbauen.

Man möchte glauben, daß die Anziehungskraft der Kommunisten stark ist. In der Tat sind sie die einzige politische Bewegung, die junge Intellektuelle zu gewinnen versteht. Die kommunistischen Zellen auf den Fakultäten sind rührig, die Opferfreudigkeit ihrer Mitglieder bemerkenswert. Der Kommunismus bietet einen Mythos, der nicht unterschätzt werden darf. Unter der Arbeiterjugend wird die Komm um tische Partei, von der Minderheit abgesehen, mehr als ein Mittel dazu betrachtet, einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Der Wunsch, am technischen Fortschritt teilzunehmen, ist außerordentlich nachhaltig und verbindet sich mit einer Partei, die aus ebendiesem Fortschritt eine Art Religion geschaffen hat. Doch die Ueberlegungen der Jungarbeiter hinsichtlich der Kommunistischen Partei sind nicht irei von Kritik. Sie sind viel weniger dem Mythos verfallen als die Intellektuellen. Die „Fetische“, um mit H e r v e, dem kürzlich aus der Partei ausgeschlossenen Theoretiker, zu sprechen, werden sehr stark diskutiert. Die Villa, die T h o r e z an der Cote d'Azur besitzt, bedeutet für viele Jungarbeiter nicht gerade eine Selbstverständlichkeit.

Für einen Jugendlichen der Arbeiterklasse ist es schwierig, in der Sozialistischen Partei Karriere zu machen. Die allmächtigen Provinz-federationen werden von erprobten alten Parteimitgliedern beherrscht, die nicht daran denken, Jugendliche in die vorderen Positionen rücken zu lassen. Außerdem hat sich der demokratische Sozialismus zu sehr funktionalisiert, um in sich den Hauch einer wahren Revolution fühlen zu lassen. Die Mittelparteien vermögen nur sehr ungenügend ■ mit der Jugend einen echten und organischen Kontakt aufzunehmen. Lediglich Mendes-France hat eine Zeitlang wirkliche Hoffnung erzeugt, die Apathie durchbrochen und die Jugend für die Probleme des Staates eingenommen. „Es geschieht etwas“ war das Leitmotiv vieler Jugendlicher, die in der dynamischen Art des früheren Ministerpräsidenten einen Willen zu durchgreifenden Reformen zu erkennen glaubten. Dazu kommt noch, daß die Umgebung von Mendes-France, vor allem seine politischen Berater, kaum 40 Jahre alt sind. Sein Kabinett war altersmäßig das jüngste der Vierten Republik. Derzeit macht sich eine gewisse Ernüchterung gegenüber Mendes-France bemerkbar. Doch noch immer kann er mit einer relativ hohen Anhängerschaft rechnen. Zahlenmäßig schwach, doch um so lauter gebärden sich die Jugendorganisationen der Rechten. Um „Aspect de France“ oder „Rivarol“ (zwei Zeitschriften) gesammelt, propagieren sie ihren Glauben an die Ordnung durch die Macht. Der Nationalstaat wird zum Idol erhoben, die europäische Integration sei zu bekämpfen, da sie den Untergang der Nationen mit sich bringe. Ein nicht abzusprechender Idealismus verbindet sich mit einem höchst unklaren politischen Programm. Aber eine gewisse Bereitschaft zeichnet sich ab, einem starken Mann zu folgen.

Und wo steht die katholische Jugend, die über ausgezeichnete Organisationen verfügt und Persönlichkeiten für die politische Tätigkeit abgeben könnte? Die einstigen Leiter der JOC oder JEC wurden inzwischen Minister und Würdenträger des MRP. Sie waren gezwungen, in das System einzutreten, und haben nicht jene Revolution durchgeführt, die sie in der Widerstandszeit versprochen hatten. Denn sollte nicht eine neue, eine echte brüderliche, eine antikapitalistische Gesellschaft nach dem Krieg entstehen? Von dem Elend, in dem große Teile der Jugend leben, bewegt, selbst auf das tiefste davon getroffen, Opfer einer Ordnung, die als ungerecht angesehen wird, trifft die katholische Jugend auf ihrem Weg die kommunistische Jugend, die allein sich den Glauben an eine wohl heidnische, aber authentisch revolutionäre Gesellschaftsordnung gewahrt hat. Der Dialog mit dem Kommunismus, die Gewinnung dieser irregeleiteten, aber im Kern gesunden Jugend erwächst damit zur wichtigsten Aufgabe der katholischen Verbände. Daß eine Mission in der angedeuteten Richtung auch schwere Gefahren mit sich bringt, wird meistens nicht erkannt. Die katholische Jugend will links “Stehen, wenn auch dieser Ausdruck vielfach seinen Sinn verloren hat. Sie richtete lebhafte Angriffe gegen einen neuen Feudalismus, der den Staat in seinen Polypenarmen ersticken will. Die Gefahr kommt daher nur von rechts, vom Kapitalismus. Der Morgen wird eine Neuerung sehen, die den Menschen in seiner letzten Bestimmung zu finden weiß. Sicherlich ein großes und ein nobles Ideal. Und doch beschleicht einen die Angst, ob hier nicht eine große Täuschung vorliegt, in der die Freiheit vernichtet und der Staatsomnipotenz geopfert wird. Dem Beobachter wird dann stets geantwortet, der französische Kommunismus hätte nichts Gemeinsames mit dem östlichen. Hier scheint ein Denkfehler vorzuliegen, der unübersehbare Folgen haben kann.

Die französische Jugend ist eine gesunde Jugend. Dem Vergnügen im „Bistrot“ (Alkoholausschank) wird der Sport und der Sonntagsausflug vorgezogen. Der Materialismus ist keineswegs in breiter Front eingedrungen, aber die Jugend erkennt vielfach die gegenwärtigen demokratischen Einrichtungen nicht als die ihrigen an. Sie wartet und ist bereit, jener politischen Kraft zu folgen, die ihr neue Horizonte eröffnet. Sie hofft, eine echte staatliche Autorität zu finden, wünscht eine Verbesserung der materiellen Lage und ist sicherlich bereit, die in den letzten Jahren bezeugte Gleichgültigkeit aufzugeben, wenn es gilt, sich in einer echten Gesellschaft zu erkennen, welche die bisherige Einsamkeit bannt. Sie verlangt, daß die allgemeinen Interessen erkannt und verteidigt werden, und nicht, nur die Privilegien einzelner Berufsstände. Sie fordert nicht eine „gewisse“ Politik, sondern eine Politik der Synthese. Sie will Schluß machen mit den endlosen Kompromissen und erwartet echte Programme, welche Aktionen voraussehen. Noch sucht die Jugend ihren Staat, sucht der Staat auch wirklich seine Jugend?

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