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Französische Jugend 1952

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Die Generation, von der ich sprechen will-, sind die 20- bis 30jährigen in Frankreich, :j6ne Jugend, die den Krieg nur passiv erlebt, erlitten hat, ohne in ihm eine Rolle zu spielen, die gezeichnet ist mit. dem Stempel der Traurigkeit, den die Passivität verleiht; jene Jugend, die von ihrer Epoche beeinflußt ist und ihre entscheidendsten Züge durch ihr Alter erhielt… Sie hat den Krieg nicht auf dem Schlachtfeld erlebt, sondern als Besatzung hinnehmen müssen, in Form der Lebensmittelkarten, des Schwarzhandels und des kümmerlichen, freudlosen Lebens — in einem Heim, dem der Vater, der irgendwo in der Feme gefangen war, fehlte und in dem die Mutter, im täglichen Kampf um den Lebensunterhalt sieb aufreibend, keine Zeit mehr zu Zärtlichkeiten fand. Diese Jungen und Mädchen haben wohl eine Familie gehabt, aber kein Heim, und zwar weder im materiellen noch im geistigen Sinne des Wortes. Keine Kohle im Ofen, keine Innigkeit des Familienlebens. In dem Alter, in dem junge Menschen Wärme am meisten brauchen, haben sie sie entbehren müssen. Sie sind in einer Atmosphäre harter Worte und bitterer Sorgen aufgewachsen. Wie können wir uns also über die Traurigkeit wundern, die wir so oft in ihren Augen finden?

Die am stärksten gezeichnet wurden, ergaben sich dem Nihilismus. Hier die Worte eines Jungen:

Ich gehöre zu dieser Jugend, die den Krieg erlebt hat, aber zu jung war, als daß sie Augenblicke des Heldentums hätte erleben können; zu denen, die vor der Zeit geschlagen wurden. Wir haben vom Leben nur die Schreie der Militärs und den Zerfall von Einrichtungen und Systemen kennengelernt, eingeengt zwischen Ruinen und Trümmern … Wir sind durch Schulen und Universitäten gegangen und glaubten, wir könnten in den Traditionen des Denkens Wege de6 Heils finden. Wir mußten aber erkennen, daß dieses kulturelle Erbe, das man uns bot, 6chon in 6einen äußeren Wurzeln die Waffen in sich trug, die unsere Städte verwüsteten und die Felder mit dem Blut junger Menschen düngten. Wir sind Asoziale, wir stehen außerhalb des normalen Lebensbereiches des Menschen.“ Freilich ist dies das Zeugnis eines ins Extrem getriebenen Menschen. Diesen Ton der Verzweiflung finden wir nur bei einer Minderheit, meist in Verbindung mit einem enormen Snobismus. Er machte den Erfolg der existentialistischen Keller aus. Aber Moden halten sich nicht lange in Paris, und diese ist schon im Vergehen.

Auf dem tiefsten Grunde des Existentialismus liegen Traurigkeit, ein Geschmack nach Asche, ein tiefes Gefühl der Nichtigkeit jeglicher Bemühung und der unmittelbaren Bedrohung: der Mensch gleicht einem Gefangenen, der, ohne zu begreifen warum, dazu verdammt ist, mit Ketten an den Füßen immer im Kreis in einer Zelle herumzulaufen, deren Mauern langsam aufeinander zukommen, um ihn schließlich wie ein Schraubstock zu zerquetschen. Ekel und Angst, die den Geschmack der Bitterkeit annimmt, das Gefühl, im Dunkeln ersticken zu müssen, treiben zur Revolte gegen die traditionelle Struktur einer geschlossenen und absurden Welt, in der es nur noch für Mißerfolge Platz gibt. Daher der Erfolg der „Littėratur noire — Salacrou, Camus, Prėvert.

Nun hüten wir uns aber vor gefährlichen Verallgemeinerungen. Der Zug zur Traurigkeit und Bitterkeit ist da, aber nicht die ganze Jugend darf der von Saint-Germain-de-Pres gleichgesetzt werden. Ein weit charakteristischerer Zug der heutigen französischen Jugend ist der Realismus. Sie mißtraut allen Phrasen, sie verachtet das Pathos, das „Glänzen“. Jede Pose ist ihr ein Greuel. Jedes Rednerpult bringt sie zum Lachen oder schlägt sie in die Flucht. Sie ist von Natur aus ohne Respekt vor festgelegten Größen und anerkannten Werten. Freilich ist jede Jugend bilderstürmerisch. Das Spezifische an dieser ist aber, daß sie sich weniger gegen die kanonisierten Größen richtet als vielmehr gegen die Pose an sich. Diese Jugend liebt den Menschen in seiner vollen Wahrheit und in allen seinen Schwächen, entblößt jeglichen Scheins. Sie hält Verhüllungen für eine Maske, und sie haßt Masken über alles.

Aus dem Mißtrauen gegenüber Programmen heraus wendet sich die Jugend auch von der Politik ab, die in ihren Augen nur aus der Ausbeutung von Programmen, Tagesordnungen, Versammlungsbeschlüssen lebt. Die verschiedenen Gewerkschaftsbewegungen haben größte Schwierigkeiten, in den Reihen der jungen Arbeiter Fuß zu fassen. Nur keine Pflicht- und Massenkundgebungen, Aufmärsche, Wimpeln, keinen Gruß, Abzeichen und Uniformen. Während die Älteren die Neugestaltung der Welt beschlossen und dabei zu erwägen vergaßen, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln man das tun könne, kümmern sich die Jungen heute eher um die technische Durdiführung. Man hat den Eindruck, als folge dem Zeitalter der Ideologien das Zeitalter der Technik. Bescheiden und realistisch glauben sie, immer die Mittel zu finden, um etwas Konkretes zu tun. „Sie heilten es für einfacher und klüger, nicht wieder zu versuchen, eine neue Welt oder eine neue Ordnung zu schaffen, sondern den Menschen neu zu schaffen“, sagte vor kurzem ein Geistlicher, der sich sehr um die Jugend bemüht.

Für nichts empfindet sie größere Verachtung als für Dilettantismus und halbe Maßnahmen. Kürzlich war es zwischen Studenten der Pariser Hochschulen in einer Diskussion über Tagesprobleme zu heftigen Debatten gekommen. Unnachgiebig verharrten die Vertreter der verschiedenen Thesen auf ihren Standpunkten, ohne eine Annäherung auch nur zu versuchen. Angesichts dieser Halsstarrigkeit rief der Diskussionsleiter erregt: „Aber meine Herren, wohin wollen Sie kommen, wenn Sie nicht zugeben wollen, daß man gegnerische Meinungen aneinander angleicht?“ „Zur Ehrlichkeit“ — entgegnete einer der Jungen mit verbissenem Mund und leuchtenden Augen …

Die Jugend ist gezeichnet von einem Radikalismus seltener Strenge. Sie schreckt vor allem zurück, was den Menschen „zugänglicher“ machen könnte, vor dem Gekünstelten, vor dem Hübschen. Sie treibt die Abneigung sehr weit — bis zur Brutalität. Die Galanterie wird als etwas Abgeschmacktes abgelehnt, und mit ihr wird oft auch die Höflichkeit oder die gute Erziehung überhaupt über Bord geworfen. Die Rauheit der Sitten, die oft zwischen den jungen Leuten beiderlei Geschlechts herrscht, schockiert die ältere Generation fürchterlich, wenn auch nicht die jungen Mädchen und Frauen, die die lächelnden Opfer dieser Haltung sind.

Der „Odor di femina“, der eine ganze Literatur beherrscht hat (Annunzio), übt keinen Zauber mehr aus. Die verschiedenen Verhaltensweisen der Frau haben ihre „verwirrende“ Macht verloren (selbst dieses Adjektiv ist lächerlich geworden), und ihre Seelenzustände langweilen. Die traditionellen Künste, deren sie sich im Roman oder im Theater von gestern bediente, die Künste aus dem Arsenal der Strategie des Herzens sind verblaßt. An die Stelle dieser Gefühlswelt tritt jedoch der Respekt vor der Kameradschaft. Der junge Mann glaubt an die Kameraden. Er glaubt sogar allein an sie. Er findet sie in der Werkstatt, im Büro, in der Schule, im Lager, in der Bar, im Theater, in den Ferien.

Der junge Mann von heute ist Fatalist. Er lebt von einem Tag zum anderen und kennt das Sparen nicht. Ihm kann man nicht mehr weiswachen, daß Ersparnisse aus 30 Jahren ihm ein Haus einbringen werden. „Er weiß, was auš den Häusern und den Möbeln und den Flügeln wird, wenn heute wieder ein Krieg kommen sollte“, schrieb kürzlich ein Magazin. Das hat auch sein Gutes: die Verachtung für das Materielle, den Komfort, die Geringschätzung alles dessen, was gesichert ist, was den Menschen in eine falsche Sicherheit wiegt und müde macht. Diese Jugend hat den vorangegangenen Generationen eines voraus: sie kann in der Unsicherheit leben.

Soweit das Bild, das so objektiv wie nur möglich gezeichnet wurde. Wenn man auch der Verzweiflungsliteratur erhebliche Bedeutung beimessen muß, so läßt sich doch auch ein weiter Bereich anderer Literatur aufzeigen, die bei der französischen Jugend größten Anklang findet: Bücher, in denen eine männliche Lebenshaltung zum Ausdruck kommt, Lobgesänge auf den Mut und die männliche Tapferkeit, die alle entmutigenden Schlußfolgerungen widerlegen, die aus den Erfolgen der Bücher der Verzweiflung gezogen werden können.

Es ist nicht leicht, dieser Jugend gerecht zu werden. Sie verkrampft sich oft, um nicht weinen zu müssen. Sie hat zu früh das Elend kennengelemt. In ihren Augen spiegelt sich das Drama unserer ganzen Epoche wider. Daß diese Augen doch klar geblieben sind, verdient Hochachtung. Und wenn man objektiv sein will, darf man doch wohl, so scheint es, in ihrem Drang nach Aufrichtigkeit eine Kraft, in ihrer Geradheit ein Versprechen sehen …

(Aus der Europazeitschrift „Aussprache“. Durch Vermittlung des Französischen Informationsdienstes, Innsbruck,)

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