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Brief an einen Studenten

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Lieber junger Freund!

Am kommenden 27, Jänner geht es auf den österreichischen Hochschulen seltsam zu. Für 24 Stunden ruht das akademische Leben. Hörsäle verwandeln sich in Wahllokale, aus einem cand. phil. wird ein Wahlkommissionsvorsitzender, während ein stud. med. vor den Toren der Alma mater Stimmzettel verteilt, Kein Wunder: Statt des historischen Proseminars oder der physikalischen Übungen stehen an diesem Tag Hochschulwahlen auf dem Vorlesungsverzeichnis.

Alle zwei Jahre wählen die österreichischen Studenten ihre Wortführer. Seit den „Sturmwahlen“ des Novembers 1946, als kommunistische Demonstranten den Abbruch der Wahlen erzwingen wollten und eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Studenten tätlich angegriffen wurde, ist es ruhig geworden um die Studenten und ihren Urnengang. Den im „Wahlblock Österreichisoher Akademiker“ vereinigten christlichdemokratischen Verbänden und Fachlisten konnte der 'Führungsanspruch seither nie ernstlich streitig gemacht werden, Die Erwartungen des „Ringes freiheitlicher Studenten“ erfüllten sich nicht. Es gab keine „Normalisierung“, keine Rückkehr zu den dubiosen Zuständen . der“, Zwischenkriegszeit. Die Zeiten der dominierenden Stellung der nationalen Korporationen und völkischen Vereine auf österreichischem Hochschulboden sind Vergangenheit. Endgültig. Die sozialistischen Studenten bilden mit ungefähr neun Prozent eine Minderheit, während die Kommunisten aus den Hörsälen und Instituten überhaupt so gut wie verschwunden sind.

Lieber junger Freund! Wir kennen uns noch nicht lange. Ich habe Sie vor einigen Monaten anläßlich einer Diskussion in einer studentischen Gemeinschaft kennengelernt. Damals fiel mir Ihr waches Interesse auf, das nicht nur an der Grenze Ihres Fachgebietes haltmachte. In der Diskussion wagten Sie sich sofort nach vorne. Ihre Art, Fragen zu stellen, und Ihr Mut, „heiße Eisen“ nicht zu scheuen, hob Sie angenehm ab aus Ihrer ein wenig gelangweil-ten Kollegenschar, die deutlich zu verstehen gab, daß politisch Lied für sie nach wie vor ein garstig Lied sei. Nach dem Vortrag und der Diskussion hatten wir noch Gelegenheit, das eine oder andere Wort über die Studenten von heute, ihre Sorgen und Probleme, aber auch über das Bild, das Sie und Ihre Kollegen sich von unserer Gesellschaft und vom Österreich der Gegenwart machen, zu sprechen. Tragen wir dieses Thema einmal in die Öffentlichkeit. Vielleicht interessiert es auch einen größeren Personenkreis. Die kommende Hochschulwahl ist kein schlechter Anlaß, einmal ein wenig über jene Generation zu meditieren, die sich anschickt, im Windschatten der gegenwärtigen geistigen und politischen Situation durch die Hörsäle und Institute herauf sich der Verantwortung für Staat und Volk zu nähern — einer Verantwortung, der sich bis jetzt noch keine akademische Generation entziehen konnte.

Generation im Windschatten?

Seien Sie mir nicht böse wegen dieses Wortes, junger Freund. Sie nicht und auch nicht Ihre Kollegen. Aus ihm spricht keine negative Wertung oder gar Geringschätzung. Eher zunächst vielleicht so etwas wie ein wenig Neid. In dem Alter, als Sie und Ihre Altersgenossen das erstemal Ihre „Nationale“ ausfüllten und stolz akademische Bürger wurden, bevölkerte eine andere Generation die Schlachtfelder des zweiten Weltkrieges. Ihre Vertreter kämpften vor Welikije Luki oder Monte Cassino. Sie starben bei Bastogne oder im Weichselbogen. Und wenn Sie vielleicht schon demnächst oder erst in ein, zwei Jahren bei der Promotion ein feierliches „Spondeo“ sprechen, so denken Sie — Hand aufs Herz — bestimmt nicht an jene, die vor nun schon bald wieder zwei Jahrzehnten in damals eiskalten, überbelegten Hörsälen sich zunächst ein wenig- ungeschickt wieder mit Büchern und Skripten vertraut zu machen begannen oder sich gar erst in einem sogenannten „Überbrückungskurs“ mit der nachzuholenden Reifeprüfung abplagten.

Die, von denen ich spreche, bildeten die österreichische Studentengeneration des Jahres 1945. Eine merkwürdige „Generation“, meine Generation. Familienväter mit zwei und mehr Kindern saßen neben Achtzehnjährigen, die als Flakhelfer gerade noch davongekommen waren, auf einer Studierbank. Es wurde viel diskutiert in jenen Jahren — und auch studiert. (Professoren stellten das schmeichelhafte Zeugnis aus, daß kaum vorher so intensiv gearbeitet wurde wie in jenen Jahren.) Das war auch kein Wunder bei dem „Nachholbedarf“. Das größere Wunder war vielleicht schon, daß nicht wenige damals neben ihrem Fachstudium mit Feuereifer ans Werk gingen, mitten zwischen den geistigen Trümmern — sie waren vielleicht noch größer als die materiellen — die Grundlagen für ein neues akademisches Leben zu schaffen. Und es war ein kraftvolles, ein pulsierendes Leben in jenen Jahren. Seine äußeren Formen haben den Aufenthalt der Generation von 1945 auf Hochschu'lboden überdauert.

Akademische Generationen altern rasch. Nur wenige Jahre ist ihnen Frist gegeben. Dann müssen sie abtreten. So ein „Schichtwechsel“ geht freilich nicht von heute auf morgen vor sich. Eher ähnelt er Haydns berühmter „Absohiedssymphonie“. Wenn nun ein Vertreter der „Alten“ — wie rasch man im akademischen Raum zu einem Repräsentanten der „alten Generation“ avancieren kann —, sei es auf der Hochschule, sei es bei einem Besuch in seiner früheren studentischen Gemeinschaft, den Jungen begegnet, so wird er bald merken, daß deren Gedanken und Vorstellungen doch etwas andere sind, als man sie selbst vor zwei Jahrzehnten hegte und pflegte. Sie haben bestimmt auch kein sorgenfreies Leben, die Studenten des Jahres 1965. Das haben Studenten' in Österreich zu keiner Zeit gehabt. Aber ihre Sorgen gelten neben den Prüfungen und der späteren Karriere ausschließlich dem eigenen Fortkommen. Dabei ist die klassische Ausgabe des „Werkstudenten“ — nach 1945 der dominierende studentische Typus — seltener geworden. Seinen Platz hat der Kollege eingenommen, der sich von Zeit zu Zeit durch einen — wie man heute gerne sagt — „guten Job“ einige hundert oder auch tausend Schilling verdient. Ein Doppelleben als Nachtwächter oder Babysitter ist daher nicht so häufig mehr ein letzter Ausweg für den sich ständig durch* Leben schlagenden Studenten. Wir sehen ihn vielmehr mitunter zum Beispiel als Croupier an der Hochsaison in Vel-den oder Badgastein auftreten. Auch hat eine stärkere soziale „Differenzierung“ eingesetzt. Drängte sich vor einem Jahrzehnt noch ein jeder, gleichgültig ob Hofratstochter oder Kleinbauernsohn, in den verschiedenen Mensen, so finden wir doch heute — wiewohl das Schlagwort vom „sozialen Numerus clausus“ durch die Statistik einwandfrei widerlegt wird — auch so etwas wie einen bescheidenen Wohlstand unter den „Studenten“. Der neuartige tägliche „Farbenbummel“ der Motorroller verschiedenster Typen vor der Rampe der Universität spricht für sich. Daß ein Student sogar im Auto zur Vorlesung fahren könnte, wäre einmal als Scherz aufgenommen worden. Heute ist es in Einzelfällen Wirklichkeit — wenn auch das Auto, um der Wahrheit die Ehre zu geben, zumeist das des Herrn Papa ist.

Blickt man in die studentischen Gemeinschaften hinein, so wird einem noch deutlicher, daß hier mit dem Einzug der „Nachkriegsgeneration“ ein nicht unbeträchtlicher Wandel stattgefunden hat. Trumpf ist das gesellschaftliche Leben! Klubabende mit Tanz verfehlen ihre Anziehungskraft nie. Sie füllen todsicher die verschiedenen Heime und „Buden“. Es ist auch beachtlich, welche Mühe und Sorgfalt für ihre Ausgestaltung aufgewendet wird. Viel weniger Gedränge herrscht schon, wenn irgendeine Diskussion angekündigt ist. Wie ist es aber, wenn ein politisches Thema — oder was darnach aussieht — auf der Tagesordnung steht? Warum es verschweigen? Damit haben vor allem jene Verbände, die kein „hochoffi-ziell“ kennen, nicht selten ihre liebe Not. Nicht, daß unsere jungen akademischen Bürger in der Regel etwas gegen die Politik oder gegen Politiker haben i— aber das Thema „greift“ einfach wenig an. Zuhören, ja vielleicht noch. Aber selbst — sei es auch nur im kleinen Rahmen — etwas aus eigener Initiative und eigener Verantwortung beginnen: das ist zuviel verlangt. Das Bedürfnis aller früheren jungen Generationen der letzten Jahrzehnte, gleichgültig, ob diese unter linksextremen, rechtsradikalen oder demokratischen Fahnen antraten, sich selbst eine Welt zu bauen, ist weitgehend unbekannt. Man übernimmt die von früher geschaffenen Formen, Verbände und Institutionen, man richtet sich in ihnen halbwegs gemütlich ein. Im Windschatten. Lieber junger Freund: Hier ist es wieder, das ominöse Wort. Dabei sprechen wir von keinem österreichischen Sonderfall. In seinem Buch „Die letzten dreißig Jahre“ gibt der Erlanger Geisteswissenschafter Prof. Dr. Hans Joachim Schoeps folgende Impression einer Begegnung mit der studentischen jungen Generation Deutschlands wieder:

„Es fällt mir bei den heutigen Jugendjahrgängen immer wieder das Ausmaß der seelischen Vereinsamung auf. Wenn man sich des schöpferischen Uberschwangs erinnert, der die alte Jugendbewegung ausgezeichnet hat, empfindet man die Jungen heute als nicht sehr jung. An die Stelle der einstigen Hochgestimmtheit ist eine ülusionslose Nüchternheit getreten, die oft als Vorzug angepriesen wird, im Grunde aber eher einen Kalorien' mangel der Seele von recht beträchtlichem Ausmaß offenbart. Die größte Sorge aber, die der Umgang mit diesen jungen Menschen eingibt, ist ihre weitverbreitete Abneigung, aus eigener Bestimmung und vor eigener Verantwortung das Leben gestalten zu wollen, wenn das Erfordernis einer Stellungnahme an sie herantritt, die über das Private hinaus ins Öffentliche und- Gemeinschaftliche hinüberreicht. Intellektuelles Interesse, das häufig vorhanden ist, auch an politischen Dingen, führt noch keineswegs zum Engagement.“

Diese Abstinenz gegenüber dem politischen Engagement mag vielerlei Erklärungen haben. In Österreich kommt eine hinzu: Eine der Tugenden der heutigen studentischen Generation ist besonders Wachheit. Dieser konnte es nicht verborgen bleiben, daß die akademische Generation vor ihnen in der Wirtschaft, der Verwaltung und auch in der Publizistik ihren festen Platz eingenommen hat, daß aber die österreichische Politik offenbar keinen allzu großen Bedarf an Akademikern zu haben scheint. Niemand anderer als der frühere Unterrichtsminister Dr. Drimmel gab gelegentlich einmal freimütig seiner Überzeugung Ausdruck, daß bei der gegenwärtigen Konstruktion unseres Parteiwesens ein Mann des Geistes wie Ignaz Seipel nie hätte den Weg in die Politik finden können. Ihr Jungen seid Realisten. Mit dem Kopf gegen eine unsichtbare, aber nicht weniger harte Wand anzurennen kommt für euch nicht in Frage.

Noch eine letzte Frage habe ich an Sie, lieber junger Freund, und an die junge akademische Generation, die heute die österreichischen Hochschulen bevölkert. Die Gretchenfrage: Wie haltet Ihr es mit Österreich? Sie schütteln den Kopf? Sie verstehen die Frage nicht? Sie weisen stumm auf die Ergebnisse der studentischen Wahlgänge der letzten Jahre? In ihnen wurde tatsächlich jedesmal jenen Gruppen, die überständigen Leitbildern folgten, ihre Grenze gezeigt. Österreich ist für die jungen Akademiker kein Diskussionsgegenstand mehr. Österreich ist eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so. Generationen, die im Kampf für und leider auch oft gegen Österreich reif und etwas gescheiter geworden sind, möchten sich gerne dieses Geisteswandels freuen. Als vom Schicksal etwas unsanfter behandelte Kinder können sie es jedoch nicht, ohne mit der Genugtuung auch eine Hoffnung zu verbinden: die nicht ausgeschlossene Probe aufs Exempel möge dasselbe Ergebnis zeitigen wie die Beobachtungen des Tages.

Einmal kommt für jede Generation der Tag, an dem sie aus dem Windschatten heraustreten muß. Und wenn dies nicht in einem dramatischen „großen Auftritt“ geschieht — ich persönlich hoffe, daß er Ihnen und Ihren Freunden erspart bleiben wird —, so wird es der Alltag, der graue, schäbige Alltag sein, der Sie einfordern wird. Von Ihnen, lieber junger Freund, und Ihren Kollegen wird es in gar nicht so ferner Zukunft weitgehend abhängen, wie sehr oder wie wenig grau und schäbig eben dieser Alltag, dieses Österreich von morgen sein wird. Auch oder gerade um in ihm zu bestehen und ihn zu gestalten, braucht es nicht wenig Verstand, Engagement und Kraft. Vielleicht sollten wir alle, jüngere und jung gebliebene Akademiker, daran gerade an jenem Tag denken, an dem am Schwarzen Brett nicht mehr und nicht weniger als eine Studentenwahl angekündigt ist.

Mit allen guten Wüsnchen für Sie, für uns alle

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