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Sturmvögel aller Revolutionen

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Daß Jugend keine Tugend kennt, ist allerorts als Weisheit derer, die nicht mehr jung sind oder die das niemals waren, dem Schatz politischer Erfahrungssätze einverleibt. Studenten aber waren und sind zu allen Zeiten Sturmvögel der Revolution gewesen, wenn es nämlich darum ging, der Freiheit eine Gasse zu bahnen. Daß hernach, nur zu oft, statt der Gasse die Gosse zum Mittelpunkt des Umsturzes wurde, das gehört zu den immer wiederkehrenden Tragikomödien der Weltgeschichte; aus denen dann die glücklich Sitzenden und bisher die Macht Besitzenden neue Argumente für die Wahrheit des oben zitierten Leitsatzes schöpfen.

Die polnischen Studenten sind ein besonders eindrucksamer Schulfall des eben geschilderten Ablaufs. In einem Lande, das stets der Romantik gehuldigt hat und wo die Grenzen zwischen Dichtung und Staatskunst häufig verschwammen, wo der Poet zugleich als Prophet und damit als begnadeter Lenker der Nation galt, wo endlich seit fast zweihundert Jahren die schönsten und die traurigsten, die glorwürdigsten und die furchtbarsten Seiten der Geschichte erfüllt sind von Kämpfen verschworener Gemeinschaften gegen fremde Unterdrücker und gegen deren Handlanger im eigenen Volk: dort trifft man die Jugend allezeit in den vordersten .Reihen. -

Die Weltverbesserer, und , Vorbilder einqs neuen, besseren, glücklicheren Geschlechts, sie sind im wirklichen Leben arme Teufel, die sich mühsam durchhungern, die früh an Lungenschäden sterben und die ihr Elend mit Alkohol hinunterspülen, was wiederum zur Ursache des frühen Todes Unvollendeter wird. Daran hat sich seit den Tagen der „Positivisten", im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nichts geändert. Die Studenten darbten am Vorabend des ersten Weltkriegs, als der dämonische Kasprowicz, die utopischen Sozialisten Žeromskį und Strug, der genialische Säufer Przybyszewski ihre literarischen Abgötter waren; sie litten arge Not während des Völkerringens und in den Jahren der ihm folgenden Inflation, und es erging ihnen, das heißt ihrer Majorität, nicht besser unter Pilsudski und dem Legionärregime. Sogenannte „Korpo- ranten", Söhne reicher Gutsbesitzer oder beamteter Koryphäen aus dem Regierungslager, lebten zwar im Stil der deutschen Korpsstudenten, und es war ihnen wohl wie weiland ihren Kollegen in Auerbachs Keller. Doch der Grundtyp des Hochschulbesuchers war wie zuvor: arm, verträumt, kampflustig, Gegner der bestehenden Ordnung — entweder von ganz rechts her oder aus sozialistischer, bald auch aus kommunistischer Sicht, dabei in merkwürdiger Inkonsequenz dem Willen nach katholisch, mit Hang zu mystischer Häresie und freigiebiger Selbstdispens vom sechsten Gebot., Die Leute kamen spät an Universität und Technik, blieben dort mitunter ein volles Jahrzehnt; in ihren Studien durch den Zwang zum. kümmerlich entlohnten Nebenvetdienst gehemmt. Ihrem ererbten Mut ließen sie in der Teilnahme an Verbotenen oder zumindest an rauflustigen radikalen Organisationen die Zügel schießen. Während des Siebzehntagefeldzugs 1939 strömten sie begeistert zu den Waffen. Wer nicht in die Gefangenschaft wanderte oder den Tod gefunden hatte, der stieß hernach zu den drei unterirdischen Kampfscharen.

Nach der Errichtung eines „volksdemokratischen“ Regimes unter sowjetischem Schutz und unter kommunistischer Leitung wandte sich die polnische Hochschuljugend fast einmütig wider die neue Ordnung und wider die neuen Herren. Die Kommunisten und deren spärliche Mitläufer waren an den Universitäten und an den Techniken in verschwindender Minderheit obzwar sich ihnen besonders günstige Aussichten auf raschen Aufstieg boten. Die Masse der Studenten verhielt sich feindselig passiv und benützte nur jeden Anlaß, um ihre Gefühle den nun Gebietenden zu bezeigen. Viele aus dieser nicht zu kaufenden Jugend förderten heimlich die Untergrundbewegung, das „Podziemie“, in dessen Scharen sich zweifellos Tausende von Studenten befanden. Seit etwa 1948 wandelte sich die Situation insoferne, als der bewaffnete Widerstand gegen die Warschauer Machthaber fast völlig erlosch und an ihm, den man mitunter von Banditentum kaum unterscheiden konnte, jedenfalls keine Studenten aktiven Anteil nahmen. Das regierungsfreundliche Element an den Hochschulen wurde von Jahr zu Jahr durch Zufluß von Söhnen der Arbeiterschaft und des Bauerntums verstärkt, während die Kinder der Intellektuellen und der sonstigen einst privilegierten Schichten durch einen Numerus clausus ferngehalten wurden. Trotzdem blieben die Hochschulen, zumal die Krakaus und Posens, im Kommunistenjargon „Hochburgen der Reaktion“. Die zuströmenden Kinder des Proletariats und des Landvolks wurden vom Geist angesteckt, der in ihren Kollegen aus der Bourgeoisie waltete. Sie waren zudem von heißem Nationalgefühl durchdrungen, das sich unter den Aera Bierut-RokoBsowskrleidenschaßt- Kch gegen die Russen kehrte und das auch bei dem Sozialismus geneigten jungen Menschen die Solidarität mit dem fremden Zwingherrn untergrub, mochte dieser als Hort der marxistischen Lehre auftreten oder ’ sich einfach auf die Höherwertigkeit der sowjetischen Wissenschaft und Kultur berufen.

Wir sagten, daß sich die Studenten nicht kaufen ließen. Das stimmt, denn ihre gesamte. Denkensweise war der fein materiellen ferne. Immerhin kommt dazu, daß Staat und Partei einen gar bescheidenen Preis boten. Wohl bekamen 1955 56 von 116.848 Studenten an offiziell geförderten Hochschulen — zu denen zum Beispiel die Katholische Universität in Lublin und die Katholische Theologische Akademie nicht zählten — 84.934 Barstipendien und 56.056 wohnten in behördlich verwalteten Heimen. Allein die Stipendien bewegten sich um monatlich 300 bis 400 Zloty (Kaufkraft rund 180 bis 240 S; Preis eines Kilogramms guter Butter 55 Zloty, eines Meters Wollstoffes 640 Zloty!), und über die Zustände in den Akademikerheimen zitieren wir am besten als neueste Quelle „Žycie Warszawy“ vom 2. Oktober dieses Jahres:

„Mit den Plätzen steht es . noch immer nicht aufs beste. Aus flüchtiger Umschau geht hervor, daß die Ursache davon nicht so sehr an der ungenügenden Zahl der Plätze liegt, sondern an der Mißwirtschaft. Zwar gibt es Heime, deren Wohnverhältnisse geradezu luxuriös sind — o armseliger Luxus, der sich aufs Vorhandensein englischer WC und auf Zimmer mit nur zwei bis vier Betten beschränkt! —, doch andere sind so überbelegt, daß sie den primitivsten Anforderungen der Hygiene Hohn sprechen. So hatten bis gestern — am Vorabend der Eröffnung des akademischen Jahres — viele Studenten noch kein Dach über dem Haupt."Es ist leicht zu erraten, in welcher Laune die Jugend zu den Zeremonien sich drängte, bei denen die Würdenträger des Regimes, den prächtigen Limousinen entstiegen, väterliche Mahnungen an die Versammelten richteten. Vordem hatten sich die Studenten noch durch sie be- grobende Pedelle hindurchschlängeln müssen, die Schlag 10 Uhr die Tore der Alma mater sperrten und das akademische Viertelstündchen als bürgerliches Ueberbleibsel verwarfen; weshalb dann manche Aula halbleer blieb.

Die Antwort auf diesen Jahresbeginn, der so wenig von den Hoffnungen des in erster Linie von den Studenten erkämpften „Polnischen Oktobers“, des gepriesenen „Frühlings im Herbst", verspüren ließ, bestand in den Kundgebungen, die von jener Technischen Hochschule den Ausgang nahmen, wo die Pedelle zwei Tage früher so streng stalinistisch ihr Amt versehen hatten. Wie zum Spott war gerade zu Beginn des akademischen Jahres das aus einem Studentenblatt zum Hauptorgan des Kampfes um die geistige Freiheit und gegen die wieder sich breitmachende Lüge gewordene „Po Prostu“ verboten worden. Die Empörung dar-

über rief Tastende von Hochschülern auf die Straße, dann zu einer Protestversammlung. Sie mußten aber eine weitere üble Lektion einstecken. Von der Polizei wurden sie mit großer Rücksichtslosigkeit auseinandergejagt und die Dinge wurden noch ärger, als man Arbeitermilizen heranzog. Dabei kamen nicht nur die Manifestanten, sondern auch viele unbeteiligte Zuschauer zum Handkuß, das heißt zu ausgiebigen Prügeln. Ob man auf diese Art der geistigen Elite der polnischen Jugend die Liebe und die Treue zum jetzt bedenklich wieder hin zu Moskau strebenden Weg des volkseigenen Sozialismus einbläuen wollte?

Damit hatte es aber nicht sein Bewenden. Unterrichtsminister und Rektoren drohten mit den schärfsten Strafen jedem, der sich fernerhin zu offenem Widerspruch gegen Maßnahmen der Regierung oder gegen die herrschende Partei verleiten ließe. Die Redakteure des „Po Prostu“ wurden aus der PZPR ausgeschlossen und Gomulka kündigte in eigener Person, bei seiner großen Programmrede vom 24. Oktober, eine gründliche Säuberung der Kommunistenpartei an, wobei in erster Linie die unbotmäßigen Intellektuellen ausgeschieden werden dürften. Den Führer der Krakauer Hochschüler hat dieses Los bereits erreicht. Die Volksrepublik Polen hat zwar, zum Unterschied von der Französischen Revolution, Gelehrte nötig und also auch Studenten, aus denen künftig Wissenschaftler werden sollen, doch bleibt Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und gegen die sozialistischen Prinzipien, Treue zum Sowjetbündnis, nicht nur des „geistig Schaffenden" — wie der ihm übergeordneten Arbeiter und Bauern — Schmuck, sondern auch seine unabdingbare Eigenschaft. Mut, dem Regime zu trotzen, mögen die Mamelucken haben. Wer aber auf dreimal dreißig Stufen zu steilen Höhen aufsteigen möchte, der bringe demütig das Opfer seines Intellekts dar. Wenn er ihn nämlich hat. Denn in Polen sind die meisten mit ihm Bedachten nicht willens, ihn zu opfern, und die Opferbereiten …

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