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Im Jahre „Sputnik I“..

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II. Entfremdung und Versöhnung*

Es bleibt ein schwer erklärliches Phänomen geschichtlicher Entwicklung, wie die noch aus der Zarenzeit stammende russische Intelligenzia die anderthalb ersten Jahrzehnte des Sowjetstaates nicht nur überdauert, sondern darüber hinaus noch der neuen sowjetischen Intelligenzia weitgehend das ihr eigentümliche Gepräge gegeben hat. Denn die Schicht der Gebildeten im zaristischen Rußland war außerordentlich dünn. Es wäre darum für die neuen Machthaber etwas Leichtes gewesen, sie ganz auszurotten. Daß sie jedoch die schweren Jahre überdauert hat, kann man vielleicht nur damit erklären, daß eben die Gebildeten des alten Rußland eine unter sich verschworene Gemeinschaft bildeten, die überhaupt nur dadurch existieren konnte, weil sie von den unteren Schichten der Bevölkerung als fremd, ja als eine andere Nation empfunden wurde, auf jeden Fall als ein Teil der Oberschicht und gleichgestellt mit dem verhaßten bürokratischen Apparat, anderseits aber selbst infolge ihrer geistigen Einstellung in beständiger Opposition zum zaristischen Staat und seiner Bürokratie stand. Es ist ja bezeichnend, daß alle großen russischen Schriftsteller und Dichter, mit ganz geringen Ausnahmen, sei es Puschkin, Lermontow, Tolstoi oder Dostojewski, beständige Repressalien durch die zaristische Regierung zu erleiden hatten. In der ersten Sowjetzeit wurde das noch Weit schlimmer. Die Liste der Dichter, die das sowjetische Regime vernichtet hat, ist um vieles länger als die derer, die die Zaren deportiert und eingekerkert haben. Wenn die russische Intelligenzia diese weit schlimmere Drangsal doch noch einigermaßen überstanden hat, so ist dies darauf zurückzuführen, daß sie von der zaristischen Zeit her gewohnt war, einem ihr feindlichen Staatsdruck zu widerstehen oder wenigstens auszuweichen.

Wohl waren die Urheber der bolschewistischen Revolution mehrheitlich Intelligenzler. In ihrer Mehrheit jedoch lehnte vor vierzig Jahren die russische Intelligenzia das neue Regime des Bolschewismus ab. Lenin und Konsorten wurden von ihr als Renegaten betrachtet. Entsprechend wurde sie von den Herren des neuen Regimes behandelt. Diese machten kein Hehl daraus, daß sie die ihnen widerstrebenden Gebildeten mit Gewalt sich dienstbar zu machen entschlossen waren. Zum Teil tobte sich dabei der ganze Haß der Renegaten aus, zum Teil war es Nachgiebigkeit den aufgewühlten Massen gegenüber, die in den Gebildeten nichts anderes als Angehörige der verhaßten Herrenklasse sahen.

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Indes kann keine Gesellschaft und kein Staat auf die Arbeit der Gebildeten, der Aerzte, der Ingenieure, der Professoren und Lehrer verzichten. So zwang man in den ersten Jahren des bolschewistischen Regimes die Intellektuellen mit Brachialgewalt, für das ihnen feindliche Regime zu arbeiten. Wer keinen Posten annehmen wollte, wurde der Sabotage beschuldigt und riskierte sein Leben. Aber auch dem, der arbeiten wollte, stellte das Mißtrauen des Regimes einen oft völlig ungebildeten Kommunisten, einen Proletarier, zur Seite, der auf ihn aufzupassen hatte. Auch nur der Schein, auch nur der Wahn dieses Aufsichtsorgans führte oft zum Tode des Spezialisten. Auf den Schulen und Hochschulen wurde die Lehrerschaft völlig entmachtet. Sie stand unter einem doppelten Druck. Die Leitung der Schulen wurde Kommunisten übertragen, die mit schärfstem Mißtrauen die alte Lehrerschaft überwachten. Gleichzeitig wurden Schüler und Studenten aufgehetzt. In den Schüler- und Studentenräten hatten die damaligen Jungkommunisten das erste Wort. Ein unbedachtes oder mißverstandenes Wort des Professors bedeutete oft seinen Tod. Ja, sogar ein rein privater Zusammenstoß mit einem der Studenten konnte zum Verhängnis werden. Dazu war die materielle Lage der Gebildeten absolut unerträglich. Die Diktatur des Proletariats wurde auch dahin verstanden, daß der Arbeiter zuerst, und wenn es nicht anders ginge, allein zu essen bekam. So erhielten das Maximum an Lebensunterhalt die Handarbeiter. Wenn auch etwa in der Industrie nominell ein Ingenieur in Geld ein größeres Gehalt erhielt als der Arbeiter, so war dies nur Schein. Denn bei der Verteilung von Lebensmitteln wurde der Handlanger vor dem Ingenieur bevorzugt. Bis dieser an die Reihe kam, war meist nichts mehr vorhanden, so daß er sich auf dem Schwarzen Markt gegen schweres Geld notdürftig eindecken mußte.

Das bolschewistische Regime machte kein Hehl daraus, daß es die alte Schicht der Gebildeten, die es bourgeoise Intelligenzia nannte, vernichten wolle und sich ihrer nur so lange zu bedienen beabsichtige, bis eine neue „proletarische“ Intelligenzia herangezüchtet sein würde. Um das zu erreichen, wurden damals die berüchtigten Arbeiterfakultäten geschaffen, die in Schnellsiedekursen erwachsene Analphabeten hochschulreif machen sollten. Bald überschwemmten diese Leute die Hochschulen und Universitäten. Das Niveau der Hochschulbildung sank erschreckend. Die auf diese Weise gezüchteten Spezialisten waren jedoch praktisch nicht zu gebrauchen. Ein anderer Weg war ebenso erfolglos, bedeutete jedoch eine neue Belastung der noch vorhandenen Intellektuellen aus der Zeit des zaristischen Regimes. Tausende von Arbeitern und kleinen Angestellten, welche die Parteiorganisationen hierzu für befähigt hielten, wurden in wissenschaftliche Institute, Laboratorien und Aemter entsandt. Sie sollten in möglichst kurzer Frist den alten Intelligenzlern ihr Wissen und Handwerk abschauen. Das führte überall zu schier unerträglichen Zuständen.

Man stelle sich damals die Lage eines Intellektuellen vor, z. B. eines Arztes. Seine Wohnung hatte er schon lange nicht mehr. Was ihm geblieben war, war höchstens ein Zimmer. Dort mußte er mit seiner ganzen Familie hausen,

während die übrigen Räume der Wohnt“1? dicht gedrängt von Arbeiterfamilien besiedelt waren, Arbeiterfamilien nicht etwa europäischen Gepräges, sondern von Leuten, die noch gestern im russischen Dorf gelebt hatten, die in kürzester Zeit das Badezimmer unbrauchbar machten, es nicht verstanden, die Toilette zu benützen, und mit denen die Arztfamilie die Küche teilen mußte. Dazu kam noch, daß diese neuen Mitbewohner den alten Inhaber der Wohnung als Vertreter der Bourgeoisie noch nach Möglichkeit schikanierten. Jedes Wort der Beschwerde war gefährlich. Jeder Hinweis darauf, daß geistige Leistungen bei einer solchen Lebensweise beinahe unmöglich seien, wurde mit Hohn als Anmaßung abgetan. Unter solchen Umständen mußte nun der Arzt noch dazu Uebermenschliches leisten. Er konnte nicht zu Hause bleiben. Er war gezwungen, mehrere Posten zu bekleiden. Den ganzen Tag mußte er von einem Ambulatorium zum anderen reisen, entweder zu Fuß oder an der überfüllten Trambahn hängend, mußte dann noch zu Hause

Sprechstunden abhalten und die Kranken seines Reviers besuchen.

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Bei dieser primitiven Drangsalierungspolitik gegen eine Intelligenz, die man bald durch eine neue und nach der eigenen Ideologie ausgerichtete ersetzen zu können hoffte, jedoch bis zu diesem Zeitpunkt rücksichtslos auszunützen gedachte, legte das bolschewistische Regime eine raffinierte Bauernschlauheit an den Tag. Erschien z. B. ein Techniker ob seines besonderen SpezialWissens dem Regime als besonders nützlich oder besaß ein Wissenschaftler einen internationalen Ruf, an dem die Sowjetunion interessiert war, so stand er gewissermaßen außerhalb des Gesetzes. Ihm war vieles erlaubt, was bei anderen unweigerlich den Tod nach sich gezogen hätte. Vor der Oeffentlichkeit verborgen, wurden ihm allerlei Privilegien zugeschanzt. Es war unter anderem auffällig, daß bei den vielen Prozessen gegen Intellektuelle das Leben von berühmten Aerzten und genialen Ingenieuren geschont wurde. Tausende wurden erschossen. War jedoch ein hervorragender Techniker darunter, so konnte man sicher sein, daß er zu einer Freiheitsstrafe begnadigt wurde, und schaute man genauer hin, dann war er auch nie im Gefängnis gewesen. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1930 gab es den Prozeß gegen die sogenannte Industriepartei. Der bekannte Wärmetechniker Professor Ramsin, in der zaristischen Zeit Stadtrat von Moskau und Professor an der technischen Hochschule, hatte mit anderen Ingenieuren tatsächlich eine geheime Verschwörung angezettelt. Diese Ingenieure, lauter große

Namen, wollten die Sowjetregierung stürzen. Sie hatten sogar nachweislich versucht, bei Abkommandierungen ins Ausland über prominente antisowjetische Emigranten Kontakt mit den Geheimdiensten Frankreichs und Englands zu bekommen. Natürlich wurden Professor Ramsin und seine engsten Verschworenen zum Tode verurteilt, doch wurde für Ramsin und Genossen die Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt, wobei sie die Strafzelle nie zu sehen bekamen. In der Umgebung Moskaus befindet sich die luxuriöse Villa „Schwarzer Schwan“, einst vom Multimillionär Rjabuschinsky erbaut. Nun gehörte sie der Geheimpolizei und wurde von ihr tadellos instand gehalten. Da büßte Professor Ramsin mit anderen Mitverurteilten seine Haft ab, im Genuß einer beinahe luxuriösen Verpflegung. Im Sommer fuhr der „Sträfling“ Ramsin einen Monat in Urlaub nach Sotschi. Das russische “Publikum sollte das natürlich nicht wissen. Daher wurde Ramsin in einem Hotel untergebracht, das ausschließlich für ausländische Diplomaten und hoch : ahlende aus-

ländische Touristen eingerichtet war und wo um bare Dollars alles erhältlich war. Drei Jahre nach seiner Verurteilung wurde Ramsin begnadigt und vier Jahre später erhielt er den Lenin-orden.

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Noch auffallender war die Behandlung des weltberühmten Physiologen P a w 1 o w. Pawlow war seiner Ueberzeugung nach ein scharfer Gegner des Kommunismus. Er war ein ausgesprochener Monarchist. Ungeniert gab er jedem seine Meinung preis. Er blieb seinem Zaren treu und nannte die Bolschewiken offen Mörder. Trotzdem wurde er wie ein rohes Ei behandelt. In Leningrad stand ihm ein riesiges Laboratorium zur Verfügung, er erhielt für seine Arbeit riesig viel Geld und lebte auch materiell wie ein großer Herr. Sein Haushalt mutete wie ein Museum an. Denn es gab dort noch all die Dienerschaft, wie sie einst die russischen Großgrundbesitzer besaßen. Wegen seines internationalen Rufes verzieh man Pawlow seine monarchistischen Marotten. Auch daß er fromm war, übersah man gnädig. Er pflegte die Messe in einer kleinen Kirche zu besuchen, die in der Gasse seiner Wohnung lag. In der Zeit des großen Kirchensturmes nach 1928, als Tausende von Kirchen geschlossen und abgebrochen wurden, wurde auch diese kleine Kirche geschlossen, und man begann sie abzutragen. Das erweckte den Unwillen Pawlows. Er verließ nicht mehr

seine Wohnung und kam nicht mehr ins Laboratorium. Erst dadurch erfuhr man in Moskau überhaupt vom Abbruch der kleinen Kirche. Der zuständige Beamte wurde sofort seiner Stellung enthoben, weil er aus Mangel an Feingefühl den Sowjetstaat schwer geschädigt hätte. In aller Eile wurde die Kirche wieder restauriert, prachtvoller, als sie gewesen war, und ein Geistlicher angestellt. Der alte Gelehrte war zufrieden, und lange Zeit wurde mit dem ganzen Pomp der byzantinischen Kirche der täglichen Gottesdienst für einen' einzigen • Besucher abgehalten, den Wisenschaftler Pawlow.

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Diese vereinzelten Erscheinungen kündigten als erste Anzeichen gewisse Wandlungen an. Stalin, der Schustersohn und der Zögling des Priesterseminars in Tiflis, der sich nicht zur Intelligenzia zählte, hatte eine andere Einstellung zu ihr als die „Renegaten“ Lenin oder Trotzki. Er ließ sich ausschließlich von realistischen Erwägungen leiten. Er sah ein, daß die katastrophale Wirtschaft der Sowjetunion sich nur durch einen soliden technischen Fortschritt sanieren läßt. Technischer Fortschritt setzt jedoch gründliche wissenschaftliche Arbeit voraus. Solche vermag jedoch nur eine Intelligenzia zu leisten, die in einigermaßen geordneten Verhältnissen lebt und sich einer gewissen Freiheit erfreut. Hier setzte Stalin zunächst ein. Neben den Spezialläden, wo die Leute des Regimes und nicht zuletzt die der Polizei zusätzliche Lebensmittel kaufen konnten, wurden nun solche auch für die intellektuellen Berufe eingerichtet. Damit war die russische Intelligenz wenn noch nicht schon moralisch rehabilitiert, so doch der bittersten und alles lähmenden materiellen Not enthoben.

Wäre es bei der Leninschen Politik gegenüber der Intelligenz geblieben, dann hätte Rußland heute keinen „Sputnik“, ja es hätte auch keine solche Industrie, wie es sie heute besitzt, und wahrscheinlich hätte es den zweiten Weltkrieg auch nicht durchgestanden.

Es ist heute interessant, festzustellen, daß eine Reihe ausländischer Beobachter in Moskau damals die Tragweite dieser Reformen sogleich erkannte. In ihren Artikeln haben sie nidit nur die Entstehung der neuen Funktionärsklasse signalisiert, sondern auch die wichtige Rolle, welche die Intelligenzia innerhalb dieser Klasse zu spielen begann. Ihre Artikel wurden im Westen gelesen — und wieder vergessen. Die Staatskanzleien nahmen davon keine Kenntnis. Erst vor zehn Jahren begann Churchill von der Sowjetintelligenz zu sprechen. Lind erst jetzt, nachdem der „Sputnik“ am Firmament erschienen ist, erkennt der Westen die Gefahren, die ihm von dieser Seite drohen.

(Fortsetzung '-iVvi in der nächsten Folge der „Furche“: „Die neue Hierarchie.“)

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