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Jugoslawische Endlösung ?

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In Agram wurden die Karten neu verteilt. Nachdem Tito selbst den „Resten von Nationalismus und Chauvinismus in Jugoslawien“ das letzte Gefecht angesagt hatte, das demnach die neu gestraffte Partei führt, schwemmte nunmehr eine Woge von Aktionen „Abweichler, Opportunisten, Sektierer, Nationalisten und Chauvinisten“ fort: alles Staats-, Partei- und Armeefunktionäre, die noch bis vor kurzer Zeit sowohl in der Partei als auch im Volk in hohem Ansehen standen. Nun sitzen „Neue“ auf den Stühlen und an den Schalthebeln der Macht. Zum Teil so neu, daß man außerhalb der engereen Parteizirkel ihre Namn bisher nie genannt hatte.

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In Agram wurden die Karten neu verteilt. Nachdem Tito selbst den „Resten von Nationalismus und Chauvinismus in Jugoslawien“ das letzte Gefecht angesagt hatte, das demnach die neu gestraffte Partei führt, schwemmte nunmehr eine Woge von Aktionen „Abweichler, Opportunisten, Sektierer, Nationalisten und Chauvinisten“ fort: alles Staats-, Partei- und Armeefunktionäre, die noch bis vor kurzer Zeit sowohl in der Partei als auch im Volk in hohem Ansehen standen. Nun sitzen „Neue“ auf den Stühlen und an den Schalthebeln der Macht. Zum Teil so neu, daß man außerhalb der engereen Parteizirkel ihre Namn bisher nie genannt hatte.

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Diese Entwicklung kulminierte an jenem Punkte, wo sich der Streik der Agramer Studenten über Kroatien hin auch in andere Teilrepubliken auszubreiten drohte. Doch dieser Streik kam nicht von ungefähr. Schon lange war die Harmonie unter den Teilrepubliken gestört, deutlich klangen im alljugoslawischen Orchester separatistische Dissonanzen auf. Dafür gab es mehrere Gründe.

Die neue Wirtschaftsverfassung hatte eine stärkere Dezentralisierung von Produktion, Finanzwesen, Ex- und Importgeschäften und eine weitere Aufwertung der genossenschaftlichen Betriebsautonomie einerseits und der administrativen Halbsouveränität der Teilrepubliken anderseits mit sich gebracht. Zugleich ging die „führende Rolle der Partei auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens“ in bemerkenswerter Weise zurück. Das wiederum ärgerte nicht zuletzt die ohnedies schon sehr besorgten alten Veteranen der Revolution und des Partisanenkrieges, die dem Aufstieg neuer junger Männer und neuer, ganz unorthodoxer Ideen mißtrauisch und verdrossen zusahen.

Weitere „separatistische Impulse“ gingen von der neuen Staatsverfassung aus, durch welche Tito seine Nachfolge zu regeln und den „inneren Ausgleich“ zu stabilisieren gedachte. Das inaugurierte Gremiuim mit regelmäßig rotierendem Vorsitz und ebensolcher Mitgliedschaft nahm in den Augen der „Optimisten“ die Züge eines Symbols an. Aber eben nur eines Symbols, unter welchem sich die Teilrepubliken „auf eigene Art“ kräftig würden entfalten können.

„Wie die Ukraine“

Doch diese vermehrte Aktivität und Souveränität der Teilrepubliken war den alten, hier vor allem den alten serbischen Kommunisten von jeher ein Dorn im Auge. Sie fühlten sich als die revolutionären Wächter des „All-Jugoslawischen-Staates“ und wollten solche Extratouren nicht hinnehmen. Denn schon erhoben sich in Agram Stimmen, die nach eigenen konsularischen Vertretungen im Ausland verlangten und nach einer kroatischen Vertretung bei der UNO, „so etwa, wie die Ukraine“.

Diese Entwicklung der Dinge blieb nicht nur auf Kroatien beschränkt, obwohl sie dort am weitesten gedieh; aber auch in Mazedonien und unter den Skipetaren begann es sich zu regen. Immer stand da am Anfang das Begehren nach „kultureller Autonomie“, doch dabei blieb es nie.

Zur kulturellen (Landessprache, Volksbräuche) gesellte sich auch die Religionskomponente und sogleich zeigte sich, daß die uralten Gegensätze zwischen Katholiken, Pravo-slawen und Mohammedanern längst nicht überwunden waren, ja, zur allergrößten Überraschung vieler Theoretiker auch unter Teilen der jungen und jüngsten Jahrgänge, die das Gemetzel während des Weltkrieges nie erlebt hatten, wiederum lebendig wurden.

Weitere Unlustgefuhle befielen die entweder industriell oder landwirtschaftlich reicheren Gebiete, vor allem aber jene, in welchen seit Jahren der Touristenboom Geld anschwemmt, weil sie stets einen großen Teil des wirtschaftlichen und finanziellen Wachstums an die oft total unterentwickelten und wirklich armen Gebiete abtreten müssen; viele Bürger, aber auch Gemeindeverwaltungen und regionale Administrationen sehen sich dadurch um einen Teil ihrer Hoffnungen gebracht. Einerseits beseelt diese Leute das oft nicht sehr kritische Empfinden, einfach tüchtiger zu sein als „die anderen“ („Chauvinismus“), anderseits die Absicht, „endlich einmal für uns selbst zu sorgen“ („Nationalismus“). Ein Gefühl, das aus mannigfachen historischen Gründen gerade in Kroatien die stärkeren Wurzeln hat. Die Slowenen beispielsweise halten es da eher mit den Serben.

600.000 Arbeitslose

Man muß noch von einem ganz anderen emotionellen und ökonomischen „Druck auf das System“ sprechen, will man einigermaßen Vollständigkeit erreichen. Rund 600.000

Arbeitslose leben im Staate, natürlich vorwiegend in den armen Gebieten oder in den Ballungszentren. Darüber hinaus arbeiten fast 2 Millionen (manchmal sogar mehr) Jugoslawen im Ausland, die wohl in Jugoslawien selbst kaum Arbeit fänden, sollten sie nicht wichtige Spezialisten sein. Diese „Fremdarbeiter“ werden ganz allgemein mit sozialen und ökonomischen Lebensumständen bekannt, die sie zu kritischen Vergleichen anregen. Die Kroaten unter diesen aber kommen zudem mit den zahlreichen und immer noch straff organisierten Emigrantenzirkeln in Berührung, was zusätzliche Spannungen erzeugt, die dann in die Heimat importiert werden.

Alles, was daraus hervorquoll, ließ es Tito geboten erscheinen, eine säubernde Gegenaktion zu starten, die naturgemäß am „festesten Punkt“, also in Kroatien, ansetzen mußte. Doch das aliein hätte nicht genügt, die Aktion so sehr zu verschärfen. Noch ganz andere Umstände traten hinzu.

Der Besuch Breschnjews machte Tito deutlich, daß die Sowjetunion ihre eigene Kalkulation anstellte. Im Scblußkommunique fand sich dann unter vielen anderen beziehungsvollen Sätzen auch der, daß die Freundschaft der beiden Länder darauf beruhe, daß sie „sozialistische Länder“ sind und daß „am Sozialismus“ von niemandem gerüttelt werden durte. Mit anderen Worten: Moskau akzeptiert gewisse „Abweichungen vom rechten Wege“, also das, was man „Titoismus“ nennt, unter der einen Voraussetzung: daß Titos Staat nicht plötzlich ideologisch aus dem sozialistischen Lager entweicht. Eine strengere Beurteilung, was darunter zu verstehen sei, mag auch auf persönliche Erlebnisse des sowjetischen Parteichefs an Ort und Stelle zurückzuführen sein. Gegen die ursprünglichen Intentionen seiner Gastgeber besuchte er auch Industriebetriebe. Dort diskutierte er mit Arbeitern und schilderte ihnen die Vorteile der sowjetisch-sozialistischen Planwirtschaft. Er erntete damit aber statt des erhofften Beifalles entweder hämisches Schweigen oder lautes Gelächter. Für beide, für Breschnjew sowohl als auch für Tito, mag das ein Alarmzeichen gewesen sein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Rückgriff auf den Urtyp der Revolution

Es kann nun bloß Zufall sein, daß unmittelbar danach sich die Entwicklung in Agram — und nicht nur unter den Studenten — zuspitzte. Doch manche meinen, da könnten sowohl „Angehörige des sozialistischen Lagers“ aus der Nachbarschaft als auch orthodoxe Kommunisten, vor allem aus Serbien, „nachgeholfen“ haben. Die einen, um Tito das Näherrücken der Gefahr eines wie auch immer gearteten „Eingreifens“ von außen vor Augen zu führen, die anderen, um einen Anlaß zu haben, die „Gefahrenherde“ zu löschen, sei es nun, um die in Rückstand geratene Partei wieder hervortreten zu lassen, sei es, um alles mit einem Schlage abzudichten, was zu unerwünschten Komplikationen mit dem „sozialistischen Lager“ führen könnte.

Tito bediente sich, darin vor allem aus Belgrad freudig unterstützt, des Rückgriffes auf den „Urtyp der Revolution“: aller teilstaatlichen, regionalen und kommunalen Autorität sowohl vor- als auch nachgeschaltet ist nun wieder die Partei. Sie legt den Ausgangspunkt und das Ziel aller Maßnahmen und Überlegungen fest — Jugoslawien wird „re-ideologisiert“, weil eben nur in der über Chauvinismus, Nationalismus und teilrepublikanischen Separatismus erhabenen „sozialistischen Idee“, für die nicht der Staat, sondern nur die Partei zuständig ist, die Klammer über alle Schwierigkeiten und Gegensätze hinweg zu [Inden ist.

Diesem Druck mußte zunächst die administrative, dann die Parteispitze Kroatiens weichen, anderswo gab es kleinere Teilsäuberungen. Selbstverständlich mußte man sowohl etlicher „irregeführter Mitläufer“ als auch der „Anstifter“ national-chauvinistischer Aktionen habhaft werden, um an ihnen ein allen sichtbares Exem-pel zu statuieren. Schon sehr bald aber erhoben sich, diesmal sogar in Serbien selbst, Stimmen, die dem operativen Eifer zur Mäßigung rieten. Sehr schnell war nämlich sichtbar geworden, daß unter den neuen Verhältnissen manche Altrevoilutio-näre, auf die man längst vergessen hatte, noch einige besondere Rechnungen zu begleichen suchten. Plötzlich trat auch vor die Augen radikal all-jugoslawischer Politiker, die für Autonamistisches nicht das geringste übrig haben, die Gefahr, es könne in einem Aufwaschen auch mit dem ganzen Titaismus und vor allem mit der neuen Wirtschaftsverfassung aufgeräumt werden; mit dem Ziele, einer re-ideologisierten sozialistischen Gesellschaft auch die re-ideo-logisierte sozialistische Planwirtschaft wiederzugeben. Es mag sein, daß die Gerüchte recht haben, die behaupten, man habe Tito diese Aussichten ebenso wie die Konsequenzen anschaulich vor Augen geführt. Die Konsequenz lautet nach diesen Quellen so: ein sozialistisch-Dianwirtschaftliches Jugoslawien werde zu seinen schon bestehenden „Umstellungs- und Wachstumsschwierigkeiten“ noch weitere züchten oder angezüchtet bekommen, die dann einerseits die Wirtschaftsbeziehungen nach dem Westen nahezu auflösen würden, was dann anderseits nur durch ein Einschwenken in das COMECON kompensiert werden könnte. Dort einmal angelangt, würde jedoch vom „Titoismus“ zuletzt wenig übrig bleiben.

Jedenfalls geht die „Säuberung“ jetzt subtiler vor sich. Einmal in dieser Gemeinde, dann in jener, oft unvermutet und scheinbar ohne Anlaß, weil doch bisher „alles ruhig“ gewesen. Gleichsam um deutlich zu machen, daß jede störrische „Gegengewalt“ nutzlos wäre, weil sie nicht als politische, sondern als kriminelle Tat bewertet werden müßte, verlieren Funktionäre und Abgeordnete ihre Mandate, ihre Immunität und schließlich ihre Freiheit. Regelmäßig lautet die Anklage auf „Verbrechen gegen das Volk“ oder „gegen den Staat“, örtliche Parteileitungen werden en bloc wagen „Opportunismus“ abgesetzt, woraus man entnehmen kann, daß sie offenbar mit der noch vorherrschenden Volksstimmung gemeine Sache machten oder nichts unternommen hatten, das Volk umzustimmen. Studenten werden verhaftet und in raschen Verfahren zu — übrigens nicht sehr strengen! — Strafen verurteilt, weil sie „feindliche Propaganda“ verbreitet, „chauvinistische Lieder“ gesungen oder „die Nation geschmäht“ haben.

Verläßliche Serben

Auch hier gehen Gerüchte um, nicht jede „feindliche Propaganda“ habe sich des teilrepublikanischen Chauvinismus schuldig gemacht; auch solche Täter befänden sich unter den Eingelochten, die den Titoismus kritisierten oder Vorwürfe artikulierten, die man seit jeher auch im „sozialistischen Lager“ gegen Jugoslawien erhebt.

Weit stiller ging ein anderer Prozeß vor sich. Die Staatsarmee war stets fest in den Händen ideologisch gesicherter Titoisten, größtenteils von Serben. Die Landesarmeen (Milizen) der Teilrepubliken aber hatten, insbesondere in Kroatien, eine etwas differenziertere Struktur angenommen. Hier wurde mit einem Ruck und ohne jedes Zartgefühl umgeschaltet. Sehr häufig im Zuge einer Postenrotation, die verläßlichere Serben auf vordem nicht ganz so verläßlich besetzte kroatische Positionen brachte.

Wie man täglich beobachten kann, ist der Prozeß in vollem Gange und noch lange nicht abgeschlossen. Oft erkennt man auch eine gewisse Hektik. Sie ist wohl auf den Umstand zurückzuführen, daß Tito alles noch selbst „erledigen“ will. Er allein genießt auch das Ansehen, die Re-Aktion über die Runden zu bringen. Denn was nach ihm käme, u-agt feoi-naivasea (Brst.recht nisht, öffentlich, und viele-wagen es nicht einmal zu denken.

Das Heranrücken der Spannungen im Mittelmeer. wo nun Griechenland und Zypern wieder zu Brennpunkten zu werden versprechen, die erkennbare Konizessions'bereitschafl Rumäniens an den Warschau-Pakl und an Moskau, seit man in Pakistan sehen konnte, wovor die Freundschaft Chinas schützt und wovor nicht, die zunehmende „Stell-vertreter“-Kritik an den „sozialistischen Outsidern“ just aus Prag, das alles treibt und drängt den Gang der Dinge weiter. Das mag auch ein Grund dafür sein, weshalb es Jugoslawien und Rumänien mit dei europäischen Sicherheitskonferenz so besonders eilig haben: nicht bloß um damit Moskau gefällig zu sein, sondern wohl auch in der Hoffnung, zu einem neuen Garantiepapier zu gelangen, das Konfliktdrohungen besänftigt oder beseitigt.

Nicht ohne Sorge blickt man da sowohl in Belgrad als auch in Agram nach der „neuen Politik“ Nixons Und man fragt sich, ob diese nicht zwar eine Annäherung an das sehr ferne China, aber dafür neue Differenzen mit dem viel näherer Moskau mit sich bringen könnte, Solche Differenzen müßten aber die Sowjetunion viel empfindlicher für alle Vorgänge in ihrer nächsten, noch dazu ideologisch gleich oder ähnlich stimulierten Umgebung machen. Und mitunter tritt da eine Vision ein, die niemand auszudenken wagt: eine Spielart „Balkan-Vietnam“, die alles, was bisher im Lande und ringsum gewonnen wurde verschlingen müßte.

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine solche Vision Realität bekäme — unmöglich ist indes gar nichts. Das aber ist just der Punkt, an welchem man nicht nur in Agram zu schweigen beginnt. Und nachzudenken, ob das nun nur ein Zwischenspiel ist, wie so oft in der Geschichte des Landes und ganz Jugoslawiens, oder ob dahinter eine Lösung sichtbar wird. Welche aber, fragt man voller Sorge, könnte das sein? Die Antwort darauf müßte alle Nachbarn interessieren — auch uns Österreicher!

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