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Titos „eigener Weg”

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Ebenso wie eine zum Wesen vordringende Betrachtung der jugoslawischen Außenpolitik führt auch die Kenntnis der inneren Zustände der von Belgrad aus geleiteten föderativen Volksrepublik dazu, in ihr einen Staat zu finden, den alle entscheidenden Merkmale dem kommunistischen Osten einordnen. Ja wir werden feststellen, daß mindestens in drei Hauptpunkten die jugoslawische Wirklichkeit mehr mit den Verhalt-

nissen in der Sowjetunion und in den dieser stets gehorsamen Satellitenländern übereinstimmt als bei den Polen die formell dem Warschauer Pakt, dem vom Kreml gelenkten Block, angehören und deren gegenwärtige Machthaber auch im Moment der sęharfsten Spannung der Beziehungen zur UdSSR nicht daran dachten; sich der Dritten Kraft anzugliedern.

Zunächst gibt es in Jugoslawien kein zweites Kraftzentrum außer dem von Tito seinerseits autoritär geführten herrschenden „Bund der Kommunisten”, das auf das öffentliche Leben den leisesten sichtbaren Einfluß ausüben könnte, während in Polen Gomulka ständig zwischen einer ihm persönlich vertrauenden und die realen Gegebenheiten beachtenden, doch im Grund dem gesamten marxistischen System feindlichen Volksmehrheit, seiner eigenen, in der Theorie orthodoxen kommunistischen Ueber- zeugung und der Rücksicht auf Moskau lavieren muß. Tito kann heute eine Triumphfahrt durch die Sowjetunion unternehmen und die unverbrüchliche Treue zu diesem Vater- und Mutterland des Leninismus feiern, morgen mit den Amerikanern kokettieren und seine Abneigung gegen jederlei Spaltung der Welt in einander feindliche Blöcke verkünden: es wird ihm niemand widersprechen. Wer es dennoch tut, dessen harrt das Schicksal Djilas, • seines einstigen Kampfgefährten, oder das noch schlimmere Los der unbekannten kleinen Leute, die wegen unerwünschter Aeußerungen auf lange, wenn nicht für immer hinter Kerkermauern oder Stacheldrähten verschwinden. Kritik am System, an den obersten Parteigewaltigen ist in Jugoslawien nur in dem Maße erlaubt wie, in der UdSSR oder in den Muster-Volksdemokratien Tschechoslowakei und Kädär-Ungarn. Tito verfügt sogar, gegenüber Chruschtschow oder den derzeitigen Parteikoryphäen etwa in Rumänien, Bulgarien, Albanien, über das sehr schätzbare Plus, daß er nicht vor einer stets lauernden Schar von Rivalen im höchsten kommunistischen Gremium auf der Hut sein muß. Eine Handbewegung des Belgrader Diktators und schon sind die Djilas, De- dijer oder wen es sonst nach der Palme eines mehr oder weniger erträglichen Martyriums gelüsten mag, aus der politischen Existenz ausgelöscht. Gefährliche Kraftproben, wie bei derAuseinandersetzung Chruschtschows mit der „parteifeindlichen Gruppe” Molotow-Kagano- witsch-Malenkow, hat er nicht auszufechten.

Er wird selbst dann der unbestrittene Herr und Gebieter bleiben, wenn er, worauf manche Anzeichen deuten, allmählich einen Teil seiner Aemter ąn seine wichtigsten Mitarbeiter abtritt. Angeblich soll Edvard Kardelj Präsident des Bundesvollzugsrats werden, Aleksander Rankovič den Posten des Generalsekretärs des jugoslawischen Kommunistenbundes übernehmen und Tito sich auf seine Funktionen als Präsident der Republik zurückziehen. Das hieße nichts anderes als ein Entschweben in höhere Regionen, wobei der Hinblick auf das Alter — der äußerlich noch immer Kraftstrotzende steht im 66. Jahr — und auf die seit einiger Zeit geschwächte Gesundheit eine Rolle spielen mögen. Die Autorität Titos würde durch derlei Entbürdung keineswegs berührt. Kardelj, Rankovič, zusammen mit ihrem dritten Kollegen in der Vizepräsidentschaft des Bundesvollzugsrats, dem in Wirtschaftsfragen und besonders auf dem Sektor des Handelsverkehrs mit dem Ausland maßgebenden Vuk- manovič, mit dem heutigen Verteidigungsminister Gošnjak, dem in Kulturfragen führenden vierten Vizepräsidenten Rodoljub Čolakovič, dem noch weiter aufsteigenden Stern Außenminister Koča Popovič und einem zweiten Popovič des Vornamens Milentije, der innere Kreis um Tito, bezeigen keine Aspirationen, sich wider ihren Meister aufzulehnen. Dre Situation Jugoslawiens erinnert in dieser Hinsicht — möge uns der Verglichene den Vergleich mit dem Verblichenen verzeihen — an die der UdSSR unter Stalin. Erst der Tod des Allgewaltigen könnte, würde, müßte Diadochenkämpfe auslösen.

Zweites Hauptcharakteristikum der inneren Lage, neben der unerschütterten, .unerschütter- baren Allmacht des Staatsoberhaupts, die andauernden Nöte der Bevölkerung, die größer sind als in der Sowjetunion und die das Land auf einem kümmerlichen Daseinsniveau nieder- halten, das weit unter dem tschechischen, vielfach sogar unter dem polnischen beharrt.’ Statt leerer Worte mögen Ziffern sprechen./ Ganz Jugoslawien hat derzeit über 18 Millionen Einwohner; es waren ihrer 17 Millionen bei der Volkszählung von 1953. Der jährliche Geburtenüberschuß beträgt rund eine Viertelmillion. Für diese Bevölkerung ‘verfügt man über

68.0 Spitalsbetten und etwa 9000 Aerzte — das durch Kriege schwer heimgesuchte Finnland hatte zu derselben Zeit, bei viereinviertel Millionen Einwohnern 34.000 Krankenbetten, Oesterreich mit sieben Millionen Einwohnern

72.0 Spitalsbetten und 7900 Aerzte. Dabei ist noch folgendes zu beachten. Die ehemals zur Habsburgermonarchie gehörenden Teile Jugoslawiens, die etwas weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Föderativrepublik bewohnt, haben ihren kulturellen, wirtschaftlichen Vorrang bewahrt. So besitzen Slowenien und Kroatien nur 2 beziehungsweise 9 Prozent Analphabeten männlichen, 2 Vi und 22 Prozent weiblichen Geschlechts, während die entsprechenden Ziffern für Serbien 15 und 40 Prozent, für Mazedonien 23 und 48 Prozent lauten. Diesen Bildungszuständen sind auch die wirtschaftlichen gemäß. Während 17 Prozent der Wohnungen angeblich Baderäume haben, sind in Mazedonien nur 7 Prozent mit diesem Luxus bedacht. 32 Prozent der Wohnungen der Föderativrepublik, doch nur 15 Prozent Mazedoniens haben sich zum Vorhandensein eines Aborts aufgeschwungen. Zwei Prozent der Wohnungen umfassen mehr als fünf Räume (beileibe nicht: Zimmer), gegen 5 Prozent in Polen, 20 Prozent in Westdeutschland, 52 Prozent in Großbritannien. Auf einen Raum entfallen durchschnittlich in Jugoslawien 2,3 Personen, in der Schweiz 0,7 Personen. 14.664 Personenkraftwagen stehen, städtische Taxi mit eingeschlossen, selbstverständlich fast ausschließlich der „Neuen Klasse” zur Verfügung; ungefähr soviel wie eine größere französische oder englische Provinzstadt ihr eigen nennt; Kanada, das zwei Millionen Einwohner weniger zählt, sieht gegen drei Millionen Personenwagen auf seinen Straßen. Die Einkommen der Werktätigen betragen in Jugoslawien zwischen 7000 und 30.000 Dinar monatlich, Ruhegehälter liegen zwischen 5000 und

20.0 Dinar. Ein tüchtiger Durchschnittsarbeiter dürfte etwa 12.000 Dinar, ein Akademiker mittleren Ranges 15.000 Dinar Monatseinkommen haben. Dafür kann er 16 und 20 kg Butter oder 40 und 50 kg Rindfleisch oder 2 A und 3 m Wollstoff kaufen. Was meinte dazu ein Schweizer Professor oder ein eidgenössischer Beamter, dessen Monatsbezüge dem Einkaufswert von 50 bis 80 m Wollstoff gleichkommen?

In Jugoslawien herrscht nach wie vor ein streng antireligiöser Kurs, dessen volle Schärfe die als Feind Nr. 1 gehaßte katholische Kirche zu spüren bekommt. Man vergleiche die Stellung Kardinal Wyszynskis im offiziell dem Ostblock anhängenden Polen mit der des noch immer in einem kleinen Dorf internierten Kardinals Stepinac! Kaum ein Monat vergeht, ohne daß nicht Geistliche als Staatsverbrecher abgeurteilt würden. Jede persönliche Beziehung zwischen dem Regime und der Hierarchie ist abgebrochen. Von einem regelmäßigen Religionsunterricht ist keine Rede. Es wäre vollends undenkbar, daß ein untadelig kirchentreuer Katholik, wie in Polen der Dichter Zawieyski, Mitglied des korporativen Staatsoberhaupts wäre, daß sich Millionen bei Wallfahrten um den Episkopat scharten. Günstiger haben sich die Verhältnisse der orthodoxen serbischen Kirche gestaltet. Hierbei wirkt sich, wie sonderbar dies klingen mag, die Rücksicht auf die Sowjetunion aus. Man kann nicht gut den Belgrader Patriarchen Vinkentije schief anblicken, wenn der illustre Prälat den Besuch des Patriarchen aller Reußen, Aleksiej, erhält, der im Regierungsflugzeug aus Moskau anlangt. Und die „rechtgläubige” Hierarchie ist möglicherweise nicht so recht gläubig: den rechten, das heißt den linken Glauben an Tito hat sie jedenfalls unter besseren Beweis gestellt als die bösen „Lateiner”, die dem römischen Papst gehorchen. Minder herzlich gestalten sich dagegen die Beziehungen zu den evangelischen Bekenntnissen und zum Islam.

Dabei spielt wiederum die Außenpolitik hinein. Den Protestanten wird die Gemeinschaft mit Deutschland zum Verhängnis, die ihnen bei jeder Verschlechterung des Kontakts Bonn-Belgrad vorgeworfen wird. Die Mohammedaner aber sind im Herzen Türken geblieben; sie werden gehätschelt und lassen sich das behagen, wenn und solange Tito mit den Erben Kernai Ata- türks im Bunde ist; und der Freundschaft ist ein Ende, sobald die türkisch-jugoslawische Allianz zu wanken beginnt. Uebrigens bleibt für die Stellung der Konfessionen wie für die der nationalen Minderheiten — Albaner, Madjaren, Türken, Slowaken und Tschechen, Deutsche, Rumänen, Bulgaren, Italiener — noch das Wirtschaftliche von Bedeutung, das zudem eine, mitunter beträchtliche Auswirkung auf die gesamte Richtung der Innenpolitik hat.

Jugoslawien ist in jeder Hinsicht auf fremden Beistand angewiesen: um Kredite, Rohstoffe, Maschinen, Kriegsmaterial, weithin auch Nahrungsmittel zu erhalten und um seine eigenen Exportgüter abzusetzen. Der fünfjährige Zwist mit dem Kreml hat da eine, im Westen Illusionen weckende Wendung hervorgerufen. Noch vor zwei Jahren standen die Deutsche Bundesrepublik und Italien an der Spitze der Länder, in die Jugoslawien ausführte; die Sowjetunion fand schnell den dritten Platz wieder, gefolgt von den USA, Großbritannien, Oesterreich und der Schweiz. Die Einfuhr kam aus den USA (etwa 27 Prozent des Gesamtvolumens), aus der UdSSR (15 Prozent), der Bundesrepublik Deutschland (10 Prozent), Frankreich, Großbritannien, Italien, Oesterreich und der Schweiz. Unter den Volksdemokratien war nur die Tschechoslowakei mit knapp 2 ‘A Prozent an achter Stelle zu verzeichnen. Die Umkehr in der jugoslawischen Außenpolitik verändert nun den Stand der Dinge auf dem Außenhandelssektor. Die UdSSR gewinnt an Platz, die Volksdemokratien, neben der Tschechoslowakei auch Polen, aber auch China und andere exotische Staaten rücken vor. Noch unabsehbar sind die Auswirkungen, die vom Abbruch der deutsch-jugoslawischen Beziehungen auf die Wirtschaft ausgehen werden. Daß der Wandel auf diesem Gebiet tief die Route beeinflussen wird, die Titos „eigener Weg zum Sozialismus” nimmt, ist jedenfalls außer Zweifel.

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