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Wer lädt zum Ost-Ost-Gespräch?

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Seit dem Salzburger Gespräch „zwischen Christen und Marxisten“ muß ich oft an die klugen Worte des deutschen Naturwissenschaftlers Prof. Schaefer aus Heidelberg denken, der in seinem Einleitungsreferat gewarnt hat: „Wir brauchen, um richtig schließen und handeln zu können, viel mehr noch als der Journalist, eine genaue Kenntnis der Tatsachen. Dies trifft für beide Teile zu ... Rationalität und Senkung der Emotionalität haben es nun insbesondere mit der Durchdenkung der Begriffe zu tun. Ehe uns nicht klar ist, was wir mit unseren Begriffen meinen, werden wir auch nicht klar darüber werden, wie wir zu handeln haben.“

Gerade im Interesse der in den letzten Jahren sich so stürmisch entfaltenden polyzentrischen Entwicklungstendenzen innerhalb der einstigen Blöcke, im Interesse der Anbahnung echter Kontakte zwischen West und Ost, muß man von Zeit zu Zeit eine begriffliche Begrenzung oder Klärung vornehmen oder zumindest eine solche versuchen. Einer der wenigen Kenner des Kommunismus in den Vereinigten Staaten, der frühere Moskauer und Belgrader US-Botschafter George Kennan, der oft von der offiziösen Linie des State Departements abweichende Meinungen vertritt, erklärte mit Recht in seinem Einleitungsreferat, nichts sei für einen Wissenschaftler so erschreckend, wie Begriffe zu diskutieren, die verschiedene Dinge für verschiedene Menschen bedeuten. Es gebe westliche Nationen, die sich auf der „östlichen“ Seite befinden und vice versa. In der Tat wäre nichts irreführender, als wenn man die im Tages Journalismus noch unerläßlichen Bezeichnungen „West“ und „Ost“ in dem Sinne interpretieren würde, daß etwa die Türkei und Griechenland zum „Westen“, dagegen die Tschechoslowakei und Ungarn zum „Osten“ zu zählen seien.

Dies bedeutet freilich nicht, daß die politische Trennungslinie — Pluralismus versus Diktatur — nicht existent wäre. Gerade darin besteht aber das oft verblüffend wirkende Paradoxon der sechziger Jahre, daß trotz der ideologischen Verpflichtungen und der vielschichtigen Auswirkungen der militärisch-politischen Bündnisse, im Hinterland der großen weltpolitischen Fronten Bestrebungen nationaler Emanzipation — nicht selten in Form einer verdeckten nationalen Isolierung — immer stärker zum Zuge kommen. Um ein konkretes Beispie} zu nennen, erweist sich 'der mit handfesten wirtschaftlichen Ambitionen verbundene eigenständige Kurs

Rumäniens keinesfalls als dämpfend, wenn man den grundlegenden sozio-politischen Gegensatz zum westlichen Pluralismus in Betracht zieht. Nicht umsonst warnte Ministerpräsident Maurer kürzlich einen westlichen Besucher, der Westen solle keine Illusionen hinsichtlich der kommunistischen Zielsetzungen und des Charakters des Regimes hegen. Dennoch bleibt die im Westen weit verbreitete Ansicht weiterhin gültig und legitim, daß die unabhängige Politik der Bukarester Regierung zur Entstehung eines neuen Europa — „Einheit in Vielfalt“ — beitrage. Ebenso berechtigt erscheint aber der Einwand, den der Besucher in Warschau und Budapest unverblümt hört, die von den Rumänen vertretene Politik des „nationalen Egoismus“ schwäche den Zusammenhalt des in innerer Wandlung begriffenen sowjetischen Lagers und habe mit dem vielgepriesenen „proletarischen Internationalismus“ nichts zu tun. Was schließlich Bukarest selbst betrifft, so ist das, was die anderen Genossen als „egoistische Eskapaden“ brandmarken, die lebensnotwendige Erhaltung der eigenen Entscheidungsfreiheit und die maximale Ausnützung des Westens wiewohl der nie unterbrochenen Kontakte mit Peking als zugkräftiges Argument in dem selbstgesteuerten Prozeß der „Ent-satellitisierung“ gelten mag.

Allein diese grobe Skizzierung des jeweils in verschiedenem Licht erscheinenden Problems Rumäniens, falls es von drei Warten aus betrachtet wird, zeigt die Fragwürdigkeit einer pauschalen Bejahung oder Ablehnung des „Brückenbaues zwischen West und Ost“. Ebenso wie im Inneren der einzelnen kommunistisch regierten Staaten haben wir auch auf internationaler Ebene mit einer „Verwirrung der Begriffe“ zu ringen. Eine begriffliche Klärung erweist sich nicht zuletzt deshalb als außerordentlich schwierig, weil die herkömmlichen Begriffe wie „Kommunist“, „Revisionist“, „Dogmati-ker“, „Stalinist“ oder „Feind“ statt einer Standortsbestimmung immer mehr, vom jeweiligen Stand der Entwicklung abhängend, zu leeren Phrasen werden und außerdem die Träger der unter den kalten Kriegern auf beiden Seiten des durchlöcherten Eisernen Vorhanges so beliebten „Decknamen“ selbst ihre Positionen mindestens einmal (manche sogar viel öfter) geändert haben.

Es geht heute nicht nur darum, daß auch innerhalb der einzelnen kommunistischen Parteien jeder einzelne seine Vorstellungen und Hoffnungen vom Gange der Welt hat, daß sich immer mehr ein Zug zur Individualität und zur innerparteilichen ideologischen Koexistenz abzeichnet, sondern auch um die den Rahmen des „Lagers“ sprengenden Entwicklungen. Wenn Kennan in seinem weit ausholenden Plädoyer für ein wiedervereintes Europa, ohne zu enge Anlehnung an die beiden rivalisierenden Weltmächte meinte, sogar der gegenwärtige Status quo wäre besser und sicherer als ein „Disengagement“ mit einer Wiedergeburt der absoluten nationalen Souveränität und daß die Gegensätze in der Ideologie und im Gesellschaftssystem auf lange Sicht die Entstehung einer neuen europäischen Ordnung, ja sogar jene Vereinigter Staaten von Europa nicht aufhalten können, so wirkt diese Vision angesichts der

Entwicklungstendenz in Osteuropa allzu optimistisch und beinahe irrelevant.

Der kommunistische Nationalismus ist keine konstruktive Ordnungsidee und birgt sogar größere Gefahren in sich als der Nationalismus klassischer Prägung oder die gaullistische Weltpolitik.

In Ungarn und in Polen, die im westlichen Sprachgebrauch als „liberal“ gelten, steht die offizielle Bündnistreue und Blockdisziplin ebenso im augenfälligen Kontrast zu dem fehlenden Blockbewußtsein wie in Bulgarien und in der Tschechoslowakei, die dagegen angeblich noch von „Stalinisten“ geführt werden. Diese Länder sind stramme Mitglieder des Warschauer Paktes und des COMECON, aber ein Besucher aus dem Westen muß immer wieder die Schlußfolgerungen ziehen, daß die Entwicklungen in den anderen Ostländern kaum nennenswertes Interesse finden. Einzig und airein in Jugoslawien — mit dem COMECON assoziiert, aber noch immer „blockfrei“ — verfolgt man mit wachem Interesse die widerspruchsvolle Tendenzen in allen mittel- und südosteuropäischen Ländern.

Die häufigen Besuchsaustausche auf höheren Partei- und Staatsebenen zwischen den einzelnen Bündnispartnern dürfen über die Tatsadie der geistigen Abmauerung und politischen Isolierung keinesfalls hinwegtäuschen. Von Zeit zu Zeit beschweren sich die Redakteure der Preßburger, Warschauer und Budapester literarischen Blätter über „die unsichtbaren Mauern“, aber es bleibt alles beim alten. Sogar die Öffnung der Grenzen zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn führte hauptsächlich zu einer gegenseitigen unwillkommenen Touristeninvasion (das Hotel-und Gastgewerbe beider Länder bevorzugt Schilling und DM gegenüber Forint und Krone) und einem sprunghaften Boom im Naturälien-austausch — ungarische Salami für tschechische Nylonstrümpfe —, aber fand keinen entsprechenden Niederschlag auf geistiger Ebene. Immerhin ist zwischen diesen beiden Ländern ein Abbau gewisser Vorurteile zu beobachten.

Die Zivilisationsideale und Lebenserwartungen der gesellschaftlichen Elite der sich sozialistisch nennenden Länder sind durchaus westlich. Als Anhänger einer mehr oder weniger unpolitischen Konsumideologie mit einem Minimum von Idealen sind die meisten tonangebenden Vertreter des geistigen Lebens hauptsächlich an den neuen Strömungen in der westlichen Literatur und Geisteswissenschaften interessiert, während die Technokraten die neuen AutoT und Maschinenmodelle studieren und bei den internationalen Messen die Stände der großen westlichen Firmen bewundern. Sogar die Wortführer der retardierenden Kräfte haben den hoffnungslosen Versuch aufgegeben, die Sowjetunion als Modell der industriellen Entwicklung, der blühenden kollektivierten Landwirtschaft und des „sozialistischen Realismus“ hinzustellen.

Die bewußte oder unbewußte, offene oder schuldbeladene Vergöttlichung des Westens, wobei man in keinem Falle die Wiederherstellung des Vorkriegssystems und die Entstaatlichung der Grundindustrie erhofft, geht Hand in Hand mit der

Isolierung vom „Osten“. Ein bezeichnendes Beispiel: Die neuen Werke der tschechoslowakischen und polnischen Schriftsteller werden in der Regel viel schneller in der Bundesrepublik Deutschland gedruckt als etwa im benachbarten Ungarn oder in Bulgarien.

Im literarischen Wochenblatt „Napjaink“ in der großen westungarischen Stadt Miskolc habe ich am 4. April dieses Jahres eine scharfe Glosse gelesen, in welcher der Verfasser sich beschwert, daß die gesammelten Dramen des großen kroatischen Schriftstellers Krleza noch immer nicht in ungarischer Sprache herausgegeben worden sind. Auf den möglichen Einwand, ein südslawischer Schriftsteller hätte sowieso keinen Markt bei uns, antwortet der Kritiker: Die Propaganda für die übersetzten südslawischen Bücher hat nicht einmal die Werbung für ein mittelmäßiges Werk eines westlichen Durch-schnjttsautors erreicht. Sodann weist er darauf hin, daß sogar die in Jugoslawien in ungarischer Sprache gedruckten neuen Werke der Schriftsteller der ungarischen Minderheit weder in den Budapester Buchhandlungen noch in den Provinzstädten gekauft werden können. „Es würde sich schon einmal lohnen, wenn das bereits einen Spalt geöffnete Fenster ganz aufgemacht würde, um zu spüren, welche Luft aus dem Ausland hereinströmt. Immerhin wird nach unserem besten Wissen auch dort bei den Nachbarn — so wie bei uns — der Sozialismus gebaut...“ Obwohl fast alle osteuropäischen Führer lautstark die Versöhnung mit den Ketzern in Belgrad verkündet haben, schwelt das tiefe Mißtrauen gegen die „gefährliche Experimentierlust“ der Jugoslawen überall weiter.

Mühelos könnte man Vergleiche der gegenseitigen Ignoranz auf den

Gebieten der Ästhetik, Philosophie und Nationalökonomie anführen. Die periodischen Monsterkonferenzen ändern an der Tatsache kein Jota daran, daß die anregendsten Werke der osteuropäischen Wissenschaftler und Literaten erst, wenn überhaupt, Jahre nach ihrer Erstpublikation in den anderen osteuropäischen Ländern veröffentlicht werden, daß man sich nicht einmal zur Herausgabe einer repräsentativen internationalen Zeitschrift aufraffen könnte und daß die Öffentlichkeit noch immer überwiegend von den westlichen Rundfunksendern über die neuen Entwicklungstendenzen in den einzelnen Oststaaten informiert wird.

Der Nationalismus kommunistischer Prägung, man denke etwa nur an die Spannungen um die ungarische Minderheit in Rumänien, ^ie territorialen Streitfragen zwischen Rumänien und Sowjetrußland usw., ist deshalb potentiell noch gefährlicher als die vergleichbaren Tendenzen im Westen, weil mit dem Autoritätsschwund Moskaus jede ' der herrschenden Parteien den unausgesprochenen Anspruch erhebt, für die eigene Bevölkerung der einzige legitime „Hauptverwalter ewiger Wahrheiten“ zu sein. Der Riß zwischen Moskau und Peking mag unheilbar sein; aber auch die Kluft zwischen den einzelnen Weggenossen Moskaus wird tiefer, der Brük-kenbau schwieriger. Eine dem Wiener Europagespräch ähnliche Veranstaltung, aber mit dem Titel „Brücken zwischen Ost und Ost“, ist in einer beliebigen osteuropäischen Hauptstadt kaum denkbar. Dieser Tatbestand zeigt jene Kehrseite der polyzentrischen Entwicklung des Ostens, die im Kreis der „Brückenbauer“ auf dieser Seite, sei es wegen lauter Begeisterung, sei es wegen mangelnder Kenntnisse, übersehen wird.

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