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Gehetztes Europa
Die Völker Europas haben sich von ihrer Dornenkrone, dem Eisernen Vorhang, befreit. Die ÖVP setzte die Initiative eines ersten großen Dialogs. Jetzt wird eine KSZE II immer dringlicher.
Die Völker Europas haben sich von ihrer Dornenkrone, dem Eisernen Vorhang, befreit. Die ÖVP setzte die Initiative eines ersten großen Dialogs. Jetzt wird eine KSZE II immer dringlicher.
Sieg des Westens auf allen Linien: seine Werte, seine Wirtschaftskraft, seine Gesellschaftsform haben den kommunistischen Osten vernichtet, jubeln heute viele in Westeuropa und in den USA. Jetzt kommt für die Oststaaten die „Heimkehr" nach Europa, wie der „Kurier" triumphalistisch schrieb.
Nicht nur der ideologisch-weltanschaulich-politische Gegner liegt am Boden, am Boden liegen auch Abermillionen Menschen, denen eine totalitäre Administration die Luft zum Leben nahm. Befriedigung über die Reformländer, nicht Triumph äußerte daher ÖVP-Bundesparteiobmann und Vizekanzler Josef Riegler über die Vorgänge im Osten, als er bei dem von ihm initiierten „Runden Tisch Europa" auf dem Donauschiff „Mozart" in Wien ein Resümee des Dialogs von 160 Politikern aus Ost und West, insgesamt aus 28 Ländern, zog.
Auf nicht allzu schwankendem Boden, sicher vertäut etwas oberhalb der Reichsbrücke kamen am 11. und 12. Jänner ehemalige und gegenwärtige Oppositionelle aus Mittel- und Osteuropa mit Vertretern bürgerlicher Parteien des Westens zusammen. Wahrscheinlich waren auf dem Donauschiff die künftigen Regierungschefs, Regierungsmitglieder und führenden Politiker sämtlicher frei werdenden Staaten des zweiten Teiles Europas zugegen.
Der Lehren für diese Leute aus demokratieerfahrenem Westpolitikermund gab es gar viele. Urängste vor einem Rückfall in neuerliche Diktaturen diktierten - begreiflicherweise - viele Äußerungen von West-Vertretern. Riegler selbst wurde nicht müde zu warnen, daß es einen „halben Weg zur Demokratie" nicht gebe: Es sei irreführend von der Unumkehrbarkeit der Demokratisierung in osteuropäischen Staaten zu sprechen, „da die Kräfte, die j ahrzehntelang am Werk gewesen sind, ihre Macht nicht so leicht aufgeben".
So war dieser erst- und bisher einmalige Dialog am „Runden Tisch Europa" zwar von Gleichberechtigung, was die Wortmeldungen und das'Gehörtwerden betraf, gekennzeichnet, nicht aber von der Überzeugung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Meinungen von Vertretern des Ostens gegenüber dem Westen. Die Ost-Teilnehmer fühlten sich zwar nicht als „exotische Subjekte", die man bestaunt, sondern durchaus als ernstgenommene Mitarbeiter; als Beobachter konnte man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß hier die Demokratie-Oberlehrer des Westens am Werk waren.
Rainer Eppelmann, evangelischer Pfarrer aus dem Osten Berlins, langjähriger Friedensaktivist und Oppositioneller, jetzt Vertreter der neugegründeten DDR-Partei „Demokratischer Aufbruch", die nach den Wahlen am 6. Mai eine große Koalition aller Oppositionsparteien ohne Beteiligung der jetzt noch regierenden kommunistischen SED-PDS befürwortet, versuchte bei einer Pressekonferenz klarzumachen, daß er seiner 46jäh-rigen Lebenserfahrung in einem totalitären Staat - mit eigener Geschichte und eigenem Selbstbewußtsein - auch Werte abgewinnen könne; daß daher das Zusammenwachsen Europas, am drastischesten in der sogenannten Wiedervereinigung der beiden Deutschländer sinnfällig, nicht in einem Aufsaugen des wirtschaftlich Schmächtigen durch den Potenten vor sich gehen könne.
Es ist nur eine Vermutung, aber vielleicht versuchen mitteleuropäische Länder wie Polen, die CSSR und Ungarn deswegen einen engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß - der stellvertretende tschechoslowakische Ministerpräsident Jan Carnogurs-ky kann sich durchaus eine Konföderation (vorläufig Losungswort) dieser Länder vorstellen - weil man zuerst mit seinesgleichen ins reine kommen möchte; vom Westen bekommen die Reformstaaten ohnehin nur gute Lehren und Bedingungen zu hören unter dem Motto: Erst wenn ihr frei wählt, erst wenn ihr volle Demokratie verwirklicht, erst wenn ihr uns mehr als 49 Prozent wirtschaftliche Mitbestimmung gewährt, gewähren wir euch unsere Hilfe. Carnogursky glaubt, daß für Osteuropas Staaten die Anpassung an Westeuropa „besser zu bewältigen ist, wenn wir zuerst eine engere Zusammenarbeit untereinander pflegen".
Welches Europa schwebt nun über unseren Köpfen, welche Visionen wurden gezeichnet? Das war eines der vier Subthemen des „Runden Tisches" (Demokratische Ordnung für Europa, Neue Wirtschaftsreform, Europas eine Umwelt, Kultur als gemeinsame Grundlage; moderiert wurden die vier Arbeitssitzungen von den jeweiligen österreichischen Fachministern Mock, Schüssel, Flemming und Busek). Grundsätzliche Übereinstimmung herrschte über eine demokratische Ausrichtung von Gesamteuropa, als Einstieg in das Haus Europa wurde der Europarat bezeichnet, der sicher eine Aufwertung erfahren wird. Ungarn hat bereits um Mitgliedschaft angesucht, Jugoslawien und Polen wolen folgen. Ein Europa der konzentrischen Kreise mit einem innersten Integrationskern, desgleichen ein Europa der freien Bürger und ein Europa offener Grenzen wurden als Idealbild gezeichnet. Zweifellos muß das alles erst mühsam organisiert werden. Bei den offenen Grenzen hapert's im Westen ja bereits dann, wenn Bürger aus Oststaaten zu anderen als Einkaufszwecken herüberkommen. Riegler selbst geriet ins Schleudern, als sein Idealbild von einer konkreten Anfrage eines britischen Journalisten bezüglich der zunehmenden Praxis, arbeitssuchende Ost-Bürger bereits an der Grenze auszusondie-ren und zurückzuschicken, scharf hinterfragt wurde. Gegenüber der Türkei überlegt Österreich die Einführung der Visapflicht.
Als wichtiges Resümee der Beratungen am „Runden Tisch" in Wien muß gelten, daß der Humanismus des Christentums wesentlich zum Aufbruch in den kommunistischen Ländern Osteuropas beigtragen hat. Eine der Galionsf iguren des Kampfes um Religionsfreiheit in der Sowjetunion, der russisch-orthodoxe Aktivist Alexander Ogorodnikow, hat im August des Vorjahres eine christdemokratische Partei in Moskau gegründet, natürlich illegal.
Seiner Erfahrung nach hat sich trotz Glasnost und Perestrojka im Sowjetstaat bisher wenig geändert. „Mafiamethoden" nennt Ogorodnikow die Art, wie das KGB gegen alles Oppositionelle vorgeht. Er kritisiert das Fehlen eines Parteigesetzes - „so gesehen ist auch die KP bei uns illegal" - und plädiert für ein Mehrparteiensystem in der Sowjetunion, das sich seit neuestem auch Michail Gorbatschow vorstellen kann.
Ogorodnikows Partei will Antworten geben auf jene Frage, „die in unserem totalitären Staat entstanden sind und die die marxistische Ideologie nicht lösen kann". Ogorodnikow will den demokratischen Prozeß in der Sowjetunion fördern.
Europa wird von raschen Veränderungen gehetzt. Gehetzt wirkten vor allem die ehemaligen Oppositionellen in Osteuropa. Auf dem Motorschiff „Mozart" konnten sie sich der Fragen kaum erwehren. Erwartet wurde von ihnen, Lösungen und Antworten auf alle offenen Probleme parat zu haben. Carno-gursky beispielsweise wurde mit Umweltfragen gequält, von denen er - wie er offen bekannte (das müßten unsere Politiker erst lernen, die zu allem und jedem sofort etwas „Gewichtiges" zu sagen haben) - wenig Ahnung habe.
Man muß dem Europa der Zukunft Zeit geben und Zeit lassen. Wenn der „Runde Tisch Europa" in Wien eines gezeigt hat, dann dies, daß noch viel miteinander gesprochen werden muß (daher wird das nicht der erste und letzte derartige „Runde Tisch" sein, wie ÖVP-Poli-tiker versichern), daß Pläne erst nach einem Dialog gemeinsam entwickelt werden sollten, daß jedes europäische Land Anspruch darauf hat, die Hausordnung Europas, deren erster Teil unter anderen politischen Voraussetzungen vor 15 Jahren in Helsinki mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und bei den Folgetreffen in Belgrad, Madrid und Wien erarbeitet wurde, mitzugestalten. Michail Gorbatschows Idee, die auch vom bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher aufgenommen wurde und der mittlerweile auch Bundeskanzler Helmut Kohl viel abgewinnen kann, eine KSZE II so rasch wie möglich (das kann nur heißen unter den neuen politischen Bedingungen nach den Wahlen in Ungarn, in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Rumänien) vorzubereiten, gewinnt Konturen. Das Europa des EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, Frankreichs Idee einer raschen wirtschaftlichen Integration, bedarf noch vieler äußerst wichtiger Ergänzungen, ohne die Europa nicht existieren kann.
Michael Stürmer, Direktor des Forschungsinstituts der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen bei München, hat recht mit seiner Perspektive für Europa. Im „Europa-Archiv" 24/1989, der Bonner Zeitschrift für internationale Politik, schreibt er: „1992 (das Jahr der Schaffung des europäi-schen Binnenmarktes, Anm.d.Red.) ist durch die Revolutionen Osteuropas von einem wirtschaftlichen Ziel zu einem politischen Ausgangspunkt geworden."
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