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Ende des 2. Weltkrieges

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Am 13. April 1962 brachte die Pariser katholische Wochenschrift „La France Catholique“ in großen Lettern einen Leitartikel von Jean Daujat: „Der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen“.

Wir sind der Ansicht: der zweite Weltkrieg geht seinem Ende zu. In sehr langwierigen Prozessen, wobei sich die beiden Mammute USA und UdSSR in dieser Zwischeneiszeit wie in der Echternacher Springprozession bewegen: drei Schritte vorwärts, einen 2urück. Unendlich vorsichtig beschnuppern sich die beiden Riesentiere; argwöhnisch witternd nach allen Seiten, nach Freund und Feind spähend, nicht selten ärgerlich schnaubend.

In der Sprache der Diplomatie heißen diese Abtastungen: Berlin-Gespräche zwischen USA und UdSSR und: „nützlicher Meinungsaustausch“. Je nützlicher das Gespräch jeweils zu verlaufen scheint, um so weniger erfährt die Weltöffentlichkeit davon.'

Andeutungen und Indiskretionen haben jedoch seit Monaten die Gazetten, einige Kabinette, etliche Parteigänger und einige Großverbände alarmiert.

Am deutlichsten und am frühesten sprachen prominente Vertreter amerikanischer Industriekreise zeitlich in diesem Frühjahr die drohende „Gefahr“, den Umschlag eines Weltklimas, an: sie warnten die Nation und die Regierung und den Präsidenten Kennedy vor einer Abrüstung: diese könne die amerikanische Wirtschaft nicht ohne schwerste Schädigungen, die unerträglich seien, auf sich nehmen.

Andere amerikanische Wirtschafter und Politiker sind der Ansicht: gerade die Last der Rüstungen sei es, die Amerika an einem großangelegten Einsatz zum Schutz der freien Hemisphäre behindere, ja lähme. Und diese Männer Kennedys können sich auf ein Wort Eisenhowers vom 16. April 195 3 berufen: „Jedes Geschütz, das wir herstellen, jedes Schiff, das vom Stapel läuft, jede Rakete, die wir abfeuern, ist letzten Endes nichts anderes als Diebstahl an jenen, die da hungern und nicht genährt werden, die da frieren und nicht gekleidet werden“. Die Aufrüstung hat zu einer Selbstfesselung geführt; sie entzieht der Außenpolitik Amerikas ihre schlagkräftigste Waffe: Wirtschaftshilfe, groß, weiträumig, wie sie der Marshall-Plan bot. der Westeuropa wirtschaftlich nach dem zweiten Weltkrieg saniert hat. Längst ist ein neuer, noch weiträumigerer, noch elastischerer Marshall-Plan nötig — für Afrika und Südamerika, mit Ausnützung der Erfahrungen des ersten. Für diesen neuen Plan aber fehlen die Mittel. Die Rüstung verschlingt sie.

Das Mammut Amerika muß die Hauptlast der Verteidigung der westlichen Hemisphäre tragen. Dies sehen in letzterer Zeit besonders westdeutsche Kreise in verstärktem Maße ein, zumal sie sich selbst in einer verwandten Lage befinden. Amerikanische Bemühungen, Bonn zu einer verstärkten konventionellen Rüstung zu bewegen, begegnen in Bonn verstärkter Zurückhaltung. Die „Süddeutsche Zeitung“ nennt dafür unter anderem folgende Gründe: Störungen im Wirtschaftsleben wären unvermeidlich, wenn zu viele, junge Männer ihre Arbeitsplätze verlassen und in die Kasernen einziehen müßten. Ernsthafte Störungen könne sich aber die Bundesrepublik nicht leisten. Militärische Verteidigungsanstrengungen verlören ihren Sinn, wenn die Wirtschafts- und Sozialpolitik erheblich darunter litte.

— Dann: Der Verteidigungsetat könne nicht Ins Uferlose ausgeweitet werden. Selbst wenn es- bei den jetzigen Planungen bleibe, müsse der Haushalt

— in diesem Jahr erfordert er bereits 15 Milliarden DM — noch weiter ansteigen.

Nicht minder laut ist das Schnauben des Ostmammuts vernehmbar. Die Landwirtschaft und Industrie des sowjetischen Imperiums bedürfen einer Pflege in Ruhe. Mit großen Plänen, mit groben Drohungen läßt sich heute nichts Rechtes mehr ausrichten: die moderne Wirtschaft verlangt subtile Apparate und selbständig handelnde führende Persönlichkeiten. Und die „Entwicklungsvölker“ warten längst nicht mehr auf die Reden sowjetischer Missionare, sondern auf Geld, Materialien und Taten.

Also verhalten die beiden Mammuts ihren Schritt und sehen, daß sie gar nicht viel Bewegungsfreiheit haben. Tausend Verpflichtungen binden sie.

Man kann Kennedys Regierungszeit als eine einzige Bemühung sehen, die so engbegrenzte Bewegungsfreiheit der USA zu erweitern.

Wer hindert die USA, ihrerseits den zweiten Weltkrieg zu beenden, der nach 1945 zunächst durch Stalin rücksichtslos mit anderen Mitteln weiter vorgetrieben wurde, durch die Gleichschaltung und Unterwerfung Polens, Rumäniens, Ungarns, der Tschechoslowakei, Bulgariens...

Wer hindert die USA, den zweiten Weltkrieg zu beenden? Sehr viel: in den USA selbst eine öffentliche Meinung und ein Klima, in dem Demagogen, die Eisenhower, Kennedy, die amerikanischen Regierungsmänner schlechthin als Söldlinge des Kommunismus angreifen, im Handumdrehen Millionen Dollar verdienen können. Ein Klima, in dem eine europäische Emigration eine bedeutende Rolle spielt.

Wer hindert die USA am großen Vergleich mit den Russen in Europa selbst? Nach einer vulgären Sicht sind es die Deutschen, „der häßliche Deutsche“, wie in Variation auf den „häßlichen Amerikaner“, ein sehr kritisches Buch von 1959, Hans Zehrer in der „Welt“ dieses Zerrbild nennt und gleich durch ein erdachtes Gespräch zwischen Kennedy und Chruschtschow vorstellt. Da unterhalten sich also in einiger Zukunft Chruschtschow und

Kennedy je über „ihre“ Deutschen und finden sie jeder auf seine Weise, ärgerlich, lästig, häßlich.

Die Regierung Kennedy denkt nicht daran, das Bündnis mit Bonn und die Bemühungen um Berlin aufzugeben. Die Regierung Kennedy weiß aber sehr wohl, daß sie wirksam für Berlin und für den Westen nur dann wird arbeiten können, wenn sie ihrerseits den zweiten Weltkrieg beendet: durch eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, des Status quo im Osten, und durch eine zumindest bedingte Anerkennung der Tatsache des ostdeutschen Staates.

Eben das wissen seit Jahren auch führende westdeutsche Politiker, wagten es nur nicht zu sagen, da sie befürchten mußten, von einem sehr rasch entfachten und sehr geschickt gelenkten Entrüstungssturm der „öffentlichen Meinung“ hinweggefegt zu werden. Führende westdeutsche Politiker sehen sich der nicht leichten Aufgabe gegenüber, das Kartenhaus von Illusionen, das sie mit großem Einsatz in mehr als einem Dutzend Jahren aufgebaut haben, jetzt in ein bis zwei Jahren abzubauen. Wer Äußerungen von Franz Josef Strauss, Schröder und zuletzt Dufhues beobachtet, wird diesen Männern die Fähigkeit, sich anders auszudrücken und das Schiff auf einen anderen Kurs zu bringen, nicht absprechen. Der vielgenannte Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Josef Hermann Dufhues, ein sehr strammer Katholik, erklärte bei einem Essen des Bonner Auslandspresseverbandes, die westdeutschen Politiker hätten versäumt, die Bevölkerung auf eventuelle Konzessionen vorzubereiten, die der Westen zur Regelung der Berlin-Krise machen müsse.

Außenminister Schröder packte einerseits fast gleichzeitig mit Dufhues den Stier bei den Hörnern und verteidigte die von Deutschen gern als „weichwerdende“ angegriffene Regierung Kennedy: es sei falsch, die westliche Politik nach Kategorien, wie hart, mittel oder weich, zu beurteilen. Auch in Österreich hat Hitler, wie in so vielen anderm, hier vorzüglich Schule gemacht: es entspricht einem rassistischen politischen Biologismus und Technizismus (Hitlers Motto für die Hitler-Jugend!), die hochkomplexe politische Planung, Haltung und Aktivität mit solchen denunziatorischen

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oder „lobenden“ Attributen wie „hart“ oder „weich“ abzustempeln.

In der Bundesrepublik kann man also heute bereits recht prominente

Männer hören, die „vielverdächtigte Wahrheiten“ (ein Begriff Dantes) offen auszusprechen wagen, die noch vor kurzem nur vielverdächtigte mutige einzelne auszusprechen wagten.

Inzwischen hat in der USA eine Entängstigungsoperation bedeutenden Ausmaßes begonnen. Erinnern wir uns kurz: Das Ansteigen des Rechtsradikalismus und verwandter Tendenzen wurde in den letzten Jahren in den USA durch nichts so sehr gefördert wie durch den Sputnik-Schock. Für USA-Normalbürger stürzte hier der Himmel ein: der Himmel des „amerikanischen Jahrhunderts“, ein Himmel amerikanischer technischer Überlegenheit über alle Völker dieser Erde. Nur in diesem Himmel schien sich die Flagge mit den fünfzig Sternen der USA-Staaten frei und fröhlich, lebens-und zukunftssicher entfalten zu können. Das Schreckgespenst eines roten Himmels, roter Monde, roter künstlicher Planeten rund um die USA verdüsterte immer mehr den ganzen Kontinent.

Nun haben viele Millionen Amerikaner den sowjetischen Kosmonauten Titow gesehen, in Natur und im amerikanischen Fernsehen. In einer gemeinsamen Fernsehsendung mit Oberst Glenn erklärte Titow, er würde es begrüßen, wenn die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ihre Vorbereitungen für einen bemannten Flug zum Mond zu einem gemeinsamen Projekt vereinigen würden; am liebsten würde er es sehen, wenn Amerikaner und Russen in einem gemeinsamen Raumschiff zum Mond flögen. Wir wissen nicht, wer diese Äußerungen Titows arrangiert hat, sie entsprechen jedoch genau einem Konzept, das die amerikanische Bevölkerung durch das Wunschbild einer gemeinsamen Kos-mokratie entängstigen möchte.

Gleichzeitig mit Titow weilte Bundeskanzler Gorbach in Amerika und hatte Gelegenheit, mit Kennedy nützliche Gespräche zu führen, Kennedy ließ keinen Zweifel übrig: die Regierung der USA wünscht keine zu enge Bindung Österreichs an die EWG. Eine solche käme einem kalten Anschluß gleich — was unsere FPÖ genau weiß, woran „Die Furche“ beizeiten «rinnerte, nicht jedoch bis heute einige Politiker in anderen Parteien. Der große Zusammenhang ist~ offensicht-lieh: eine amerikanische Regierung, die sich auf einen Ausgleich mit der UdSSR vorbereitet, kann nicht wünschen, daß Österreich in eine so starke Abhängigkeit durch den westlichen militärisch-politischen Block gerät, wie es die EWG ist und immer noch mehr werden soll, daß es keine Brückenfunk-tipn mehr erfüllen kann. So ist heute die fast groteske Situation entstanden! unsere Politiker haben in einem Dutzend Jahren viel Worte und Phrasen über Österreichs Funktion als einer Brücke verloren, diese sehr anstrengende und sehr verpflichtende Aufgabe aber nicht genug durchdacht. Jetzt werden wir zuerst von Washington, und wahrscheinlich morgen, bei Gorbachs Besuch in Moskau, an diese unsere reale Funktion erinnert: dieses Europa besteht nämlich aus zwei Teilen. Wer einen von ihnen übersieht, gibt beide dem Chaos preis.

Da stehen wir heute. Und nun erinnern wir uns nochmals des Leitartikels von „La France Catholique“, vom 13. April 1962: „Der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen“. Dieser gefährliche Titel steht über einer recht sinnvollen Einleitung zu einer Artikelserie über das Thema: der Kornmunismus in aller Welt, und die Gefahren, die mit seiner dynamischen Aktivität verbunden sind. — Bei dem Kongreß der Europäischen Kulturstiftung in Brüssel, der unter dem Vorsitz des Prinzen Bernhard der Niederlande, vom 25. bis 28. April, dem Thema „Europäer von morgen“ gewidmet war, war dem Schreiber dieser Zeilen das Grundsatzreferat über das Problem: „Erziehung des Europäers zu Europa“, übertragen worden. Das Leitmotiv dieser Brüsseler Rede war: gerade wir Europäer müssen lernen, in Konflikten zu leben. Sehr große Weltgegensätze lassen sich nicht „auflösen“, nicht liquidieren.

Auf Österreich heute und morgen angewandt, heißt das: mehr echte, aktive und produktive Rücksicht auf beide Mammute und beide Teile Europas zu nehmen als bisher. Wir haben nicht weniger Illusionen zu verlieren, als manche Deutsche. Es ist an der Zeit, auch i n u n s den zweiten Weltkrieg wirklich zu beenden und uns wach auf die großen Schwierigkeiten des beginnenden Weltfriedens vorzubereiten.

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