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Kennedy und unsere Zukunft

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Über die Auswirkungen des Kennedy-Attentats auf die Weltpolitik.

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Über die Auswirkungen des Kennedy-Attentats auf die Weltpolitik.

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Im europäischen Schicksalsjahr 1683 — die Türken stehen vor Wien — erscheint ein Werk von W. J. von Wallrabe über Kaiser Karl V.: „Neue historische Beschreibung des Lebens Karls V.“ Ein Exemplar dieses selten gewordenen Werkes besitzt die österreichische Nationalbibliothek in Wien. In diesem Werk befindet sich die berühmte allegorische Darstellung: Der Kaiser trägt, als ein neuer Atlas, den Erdball, der die Inschrift trägt: Quam grave onus. Welch schwere Last! Der Kaiser trägt die Bürde, die Last, die Verantwortung der Menschenwelt.

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In einer Zeit, in der, wie Albert Camus in seiner Dankrede für die Verleihung des Nobelpreises in Stockholm ausführte, sehr viele Menschen von einer untergründigen Todessucht befallen sind und über Nacht Mörder und Selbstmörder werden, hat John F. Kennedy es übernommen, als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika die Last dieser Welt mit zu tragen: als Gebieter über das wohl größte Potential von Atomwaffen, wohl geeignet, diesen Erdball, der zu den Lebzeiten Karls V. noch so ungestört im Weltraum schwamm, zu zersprengen oder gar ins Nichts zu schießen.

Unbeweglich, unheimlich unbeweglich, standen da die beiden Giganten einander gegenüber: die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Union der Vereinigten Staaten von Amerika. Unbeweglich? Drang nicht, so schien es vielen, langsam und unaufhaltsam wie eine riesige Eismasse, die eine neue Eiszeit heranführt, der riesige Koloß aus Eurasien vor? Konnte ihm gegenüber ein anderes Mittel Wirksamkeit versprechen als eben dies: sich einigeln, die Mauern verstärken in der belagerten Festung, Stärke durch Starrheit demonstrieren? John F. Kennedy, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten, hat etwas anderes gewagt.

Als die Nachricht von der Ermordung durch den Äther drang, sammelten sich in West und Ost Menschen auf den Straßen. Der jähe Tod, der diesen jungen Mann aus dem Leben riß, riß eine Schranke ein: eine Schranke, die den Millionärsohn, den Sohn des Glücks und des Erfolges, der da hoch oben an der Spitze einer Gesellschaft des Reichtums und der Macht zu Tisch saß, von den vielen, vielen da unten, die da übersehen werden, trennte. Der Tod riß die Schranke ein: und nun sprangen Wellen einer Identifikation über die Lande, über die Grenzen: „Er war unser.“

Dieser junge Mann weckte die Funken in der Asche: die Funken der gelöschten Hoffnungen, die getöteten Hoffnungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts.

Er war unser: Dieser „junge Mann“, Jahrgang 1917, verkörperte die Hoffnung einer Generation: Nie wieder Krieg, nach zwei Weltkriegen! Dieser junge Mann weckte die Funken in der Asche: die Funken der gelöschten Hoffnungen, die getöteten Hoffnungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Democracy around the world: wave of the future or an idealistic dream? So sagt der Titel eines Aufsatzes in der „The New York Times", der in der Ausgabe vom 23. November 1963 steht, die gleichzeitig die Meldung vom Tod und die ersten Nachrufe auf den Ermordeten bringt.

Demokratie? Licht der Vernunft? Aufklärung? Friede durch Absprache, durch gütliche Vereinbarung? Sind das nicht alles leere Worte, Phrasen in der Welt neuer Massen, von Milliarden Menschen, die durch Hunger, Furcht, Psychosen geführt werden und furchtbaren Führern in die Hände fallen? Hat sich die Demokratie nicht verbraucht in Mammutstaaten, die riesenhafte Planungen und Apparate der Bürokratie bedürfen, um eben auch nur existieren zu können? Kann Demokratie bestehen im Zeitalter Hitlers und Stalins und Maos, im Zeitalter einiger Dutzend kleiner Diktatoren und einiger mehr als halbstarker Tyrannen?

Kurz vor seinem Tod sandte John F. Kennedy dem österreichischen Unterrichtsminister Dr. Drimmel ein Danktelegramm für dessen bevorstehende Rede im Burgtheater zu Ehren Abraham Lincolns — zur 100. Wiederkehr des Tages, an dem Lincoln seine Rede zur Einweihung des Nationalfriedhofs in Gettysburg hielt. Es beginnt mit den Worten: „Die bewegende Idee, die Lincoln in seiner Gettysburger Ansprache so einfach und so beredt ausgedrückt hat, wurde das gemeinsame Erbe derer in der ganzen Welt, die Freiheit und Menschenwürde lieben.“

John F. Kennedy hat sich zu dieser Internationale bekannt, die berufen ist, die Internationalen der Vergangenheit, soweit sie nicht bereits in den Todesmühlen und Kriegen zerbrachen, hereinzuholen und positiv aufzuheben: die Internationale des Menschen, der sich zu Glaube, Liebe und Hoffnung verpflichtet weiß: durch das Licht der Vernunft. Totius libertatis radix est in ratione constituta — aller Freiheit Wurzel ist in der offenen Vernunft — sagt Thomas von Aquin. Offene Vernunft: gottoffen, menschenoffen.

John F. Kennedy wurde von einem Mann, von dem es heißt, daß er einer Linken zugetan war, erschossen, als er daranging, in Dallas, in Texas, eine Rede gegen seine Gegner von rechts zu halten. Diese nie gehaltene letzte Rede Kennedys schließt mit den Worten: „Denn dies ist eine Zeit für Tapfere und eine Zeit der Berufung: weder Konformismus noch Selbstgefälligkeit genügt, weder die Fanatiker noch die Zaghaften werden gebraucht Laßt uns also nicht kleinlich sein, wenn unsere Sache so groß ist; laßt uns nicht untereinander streiten, wenn die Zukunft unserer Nation auf dem Spiel steht. Laßt uns mit erneuertem Vertrauen zu unserer Sache zusammenstehen — vereint in unserem Vermächtnis der Vergangenheit und unseren Hoffnungen für die Zukunft —, entschlossen, daß dieses Land, das wir lieben, die Menschheit zu neuen Horizonten des Friedens und des Überflusses führen soll."

„Dieses Land, das wir lieben “: Kennedy wußte längst — und versuchte es seinen engeren Landsleuten, gerade den Isolationisten und Rechts-Rechten, klarzumachen —, daß „dieses Land“ — god's own country — die ganze Menschheit mitbedeutet. Die Bewegung, die sein Tod auslöste und alle Grenzen von Rassen, Klassen, Ländern, Konfessionen übersprang — hierin durchaus vergleichbar mit der Bewegung nach dem Tode Johannes' XXIII. —, macht darauf aufmerksam, wie provinziell so vieles von dem, was wir für uns allein besitzen und „haben“ wollen, geworden ist.

Die Zukunft soll denen gehören, die — für alle — mitzudenken, mitzusorgen wagen. Wir ehren John F. Kennedy, wenn wir seine Botschaft aufnehmen. Er wollte Amerika und der Welt Wege in eine gute Zukunft für alle öffnen. Das wußten und anerkannten gerade jene harten Gegner Kennedys, die ihm hier in Wien entgegentraten: Chruschtschow und die Männer um ihn.

Eben hat die Ausmünzung seines Todes begonnen. Ein „Linker“ hat ihn erschossen. Ein früherer Kommunist, dann ein Castro-Anhänger, so heißt es.

Sprechen wir also von Kennedy und unserer Zukunft. Eben hat die Ausmünzung seines Todes begonnen. Ein „Linker“ hat ihn erschossen. Ein früherer Kommunist, dann ein Castro-Anhänger, so heißt es; dieselbe Meldung besagte gleichzeitig, daß er in einer Fernsehdiskussion Castro verteidigte und Kennedy gegen Castros Angriffe in Schutz nahm. Wird die kommende Wahl in den USA, wird eine heraufziehende propagandistische Auswertung dieses Mordes im Zeichen einer Kampagne gegen die „linksanfälligen“ Demokraten stehen? Wobei man, günstig für die eigene Parteisache, großzügig übersehen kann, daß man Kennedy als „Kommunistenfreund“, ja als „Verräter an Amerika“ angeprangert hat.

Es ist hier nicht unsere Sache, mit dem Staat Texas anzubinden. Schon deshalb nicht, weil der neue Mann seit hundert Jahren der erste Präsident aus den Südstaaten ist. Auf einige merkwürdige Gebräuche darf jedoch der Österreicher aufmerksam machen. Wenn irgend etwas — und wir glauben, daß dies das einzige verbindende Glied zwischen den beiden Morden ist — den Morden Sarajewo und den Mord in Dallas miteinander verbindet, dann dies: Man hat erst in letzter Zeit aus den Akten das ganze Ausmaß und Übermaß an Fahrlässigkeit ermessen können, das die für den Schutz des Thronfolgerpaares im explosivstarken Südostlande Verantwortlichen begingen. Man kann heute schon einiges von der Fahrlässigkeit ermessen, die Kennedys Fahrt nach Dallas umgab. Man war nicht befähigt, den Präsidenten wie den eigenen Augapfel zu hüten: Nach seiner Ermordung hätte man mit erhöhter Aufmerksamkeit den Mörder in Gewahrsam halten müssen. Die Nation und die ganze Welt haben ein Recht darauf, alles von ihm und um ihn zu erfahren, was ihn zu seiner Tat trieb. Und wenn es vielleicht „nur dies“ gewesen wäre: daß er den Gouverneur von Texas erschießen wollte, der ihm als Marineminister ein Gesuch um Begnadigung abgelehnt hatte.

Rechtsextremismus und Antisemitismus

Der Mörder des Mörders ist, wie die Weltpresse meldet, ein Jude und ein polizeibekannter Mann. Die politische Verwendung dieses Mordes könnte in nicht geringem Maße Sprengstoff liefern; der amerikanische Rechtsextremismus ist mit einem rasanten Antisemitismus liiert.

Der Nachfolger Kennedys, der drei Jahre lang sein Stellvertreter war, Lyndon Johnson, übernimmt eine gewaltige Last an Aufgaben. Amerika bereitet sich auf den großen Wahlkampf vor: Die Republikaner stehen unter der Führung dynamischer, gesunder Männer. Ihr größter Gegner ist gefallen: Kennedy. Kennedy hatte erkannt, daß der große Krieg — der Kampf um mehr Freiheit, mehr Menschenwürde — sich von außen nach innen verlagert: in einem latenten kalten, manchmal heißen Bürgerkrieg. Kennedy wagte es, wie seit Lincoln kein Präsident mehr, in diesen Bürgerkrieg entschlossen einzugreifen. Wird der Texaner Johnson, ein Mann des konservativen Flügels, dies wagen?

Manches spricht dafür, daß er den Schritt verhalten wird. Immobilismus nach innen bedeutet jedoch Starrheit nach außen: Wer sich im Innern nicht frei bewegen kann, weil er bei jedem Wort und jeder Tat Sorge tragen muß, gefesselt, denunziert, beargwöhnt zu werden, kann sich auch nach außen hin nicht freier entfalten. Kennedy wußte: die Vereinigten Staaten werden erst dann ihre reichen Kräfte voll und frei in dieser Welt entfalten können, wenn sie die „revolution“ bewältigen: ihre Integration, die Integration der Neger als in allen Rechten und Pflichten gleichgestellte Staatsbürger. Das — und nicht der Kommunismus in Nordamerika — ist die Achillesferse der USA, der Demokratie in Amerika.

Freiheit, Friede, Liebe; nicht Haß; das ist die Erbschaft, die der Staatsmann John Kennedy uns als Aufgabe hinterläßt. Kennedy war ein Staatsmann mit einem katholisch gebildeten Gewissen. Das ist nicht einfach identisch mit einem Parteigewissen. Dieser erste katholische Präsident der USA wußte, daß der Katholik für Andersdenkende nur glaubwürdig wird, wenn er alle anspricht, für alle handelt, für alle da ist. Vorbildlich hat er es verstanden, seinem großen außenpolitischen Gegner, dem Russen, standhaft entgegenzutreten und ihm klarzumachen, daß er in seinem Widerstand gleichzeitig dessen Standpunkte und Überzeugungen sorgfältig berücksichtigte.

Als er jetzt daranging, sich seinem größten innenpolitischen Gegner zu stellen, dem unversöhnbar scheinenden weißen Süden, wurde er ermordet. Er fiel als ein Soldat, sagte der Staatschef Frankreichs, de Gaulle. Ja, er fiel als ein Soldat: an der Front, an der die schwersten Kämpfe und Konflikte der nahen und ferneren Zukunft auszutragen sind: im Schoß unserer Gesellschaft, in unseren westlichen und östlichen Völkern, in denen jeder wirkliche Schritt zu größerer Freiheit mit dem Leben zu bezahlen ist: mit dem Einsatz des ganzen Lebens, aller unserer Kräfte. Unsere Zukunft: sie wird uns gehören, wenn wir jene Strategie des Friedens lernen, erproben, ausbauen und weiterentwickeln, die John F. Kennedy zu erkunden und zu praktizieren begann: John F. Kennedy, geboren am 29. Mai 1917, erschossen am 22. November 1963.

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