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Die Wahl

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Am 8. November wählt Amerika einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten, das gesamte Abgeordnetenhaus, in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten die Gouverneure und dazu noch viele kleinere Ämter, von Landtagsabgeordneten bis zu Gemeindesekretären.

Die Namen der Gewählten werden durch die Wahlmaschine, die in 42 der 50 Unionsstaaten statt des Stimmzettels verwendet wird, sehr schnell ermittelt sein. Was aber Amerika gewählt hat, wird seine Bevölkerung und die Welt erst weit später erfahren: dann nämlich, wenn sich zeigen wird, ob der neue Präsident sich gegen die mächtigen Interessengruppen durchzusetzen vermag, die im Hintergrund stehen und um ihre Macht und um ihre Dollar-Budgetmilliarden zittern. Eine der allermächtigtsten Gruppen dieser Art ist erst in den Jahren des heißen und kalten Krieges entstanden: die Militärbürokratie. Ob der neue Präsident eine neue Politik wird machen können, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es ihm gelingt, sich das Gros dieser teilweise recht schwierigen Herren zu unterwerfen. Dies wird wieder mit davon abhängen, ob er es vermag, führenden Industriekreisen Märkte und weitere Aufbauchancen durch die Umstellung von Produktionen des kalten Krieges auf den wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Ostblock zu verschaffen. Denn die USA verharren momentan In einer „mirtel-schweren Wirtschaftskrise“, wie es eben Otto von Habsburg in einer klugen Analyse der Wahlstimmung in den USA genannt hat, und sind sich nicht sehr sicher, wie es um ihr Welt-prestige steht.

Damit stehen wir mitten in einem der heikelsten Punkte des Rennens zwischen Nixon und Kennedy. Nixon will dem Volke weismachen, daß Amerikas Prestige in den acht Jahren, in denen er der zweite Mann im Staate, im Regime Eisenhower ist, nicht gelitten hat. Kennedy versucht, kühl und wagemutig, das heißeste Eisen anzufassen: die Selbsteinschätzung des US-Amerikaners, eines Menschen, der sich seit den Erfolgen sowjetischer Machtpolitik in Europa und Asien, vor allem seit dem ersten Sputnik, seines Prestiges nicht mehr sicher ist. Um es kurz anzusagen: Dieses Rühren an eben dieses Tabu des nationalen Prestiges kann Kennedy die Präsidentschaft kosten. Dieser tüchtige, kluge Mann kann an Amerikas unbewältigter Vergangenheit scheitern. Vielleicht aber überspielt er sie, so wie er seine eigene Partei überspielt hat, ihren Machtapparat und nicht zuletzt all die einflußreichen, alten, großen Persönlichkeiten der Demokraten, die alle gegen ihn waren: Truman und Frau Roosevelt, Sam Ray-burn und Lyndon Johnson, die Fraktionsführer im Repräsentantenhaus und Senat.

Es ist die Wahlschlacht der jungen Männer, die ein, zwei jüngere Generationen für sich mobilisieren wollen.

Der neue Präsident wird gegen Ende seiner ersten Amtszeit Generale zu ernennen haben, die zu jung waren, um im zweiten Weltkrieg zu dienen. Die Hälfte aller leitenden Posten in der Wirtschaft, deren Durchschnittsalter heute 59 Jahre beträgt, wird dann neu besetzt worden sein, ebenso die Hälfte aller hohen Gewerkschaftsposten. Die Nachfolger werden wahrscheinlich 20 oder 30 Jahre jünger sein. Ein Drittel aller Wähler ist unter 35 Jahren. Das steht in den Betrachtungen über die kommende Wahl, die einer der führenden US-Soziologen, der aus Wien stammende Peter F. Drucker, eben angestellt hat.

Wer wird diese Massen der „Jungen“ gewinnen? Der 47jährige Kleinstädter - er ist in Yorba Lind geboren — und Söhn eines Tankstellenbesitzers und Lebensmittelkleinhändlers. Richard Milhous Nixon, oder der in einem Vorort Bostons, des aristokratischen Zentrums der

USA, geborene 43jährige, hübsche, elegante Sohn aus gutem, reichem Haus, dessen Vater Millionär und Botschafter in London, dessen Großvater mütterlicherseits Kongreßabgeordneter und Bürgermeister der eben genannten, hochgerühmten Stadt Boston war, also John Fitzgerald Kennedy?

Nixon hat mit Vollblutinstinkt seine Chancen wahrgenommen. Dieser vitale Kleinbürger scheut .keine Kosten, um mit den Instinkten dieser Volksschichten in Verbindung zu kommen. Wie ein Boxer boxte er sich nach vorne, mit „treffenden“ Schlagwprten, wie sie die Massen lieben. Also: „Es ist einfach nicht wahr daß unser nationales Prestige gelitten hat. Dieser Mann Kennedy beschmutzt die Ehre der Nation, er ist überhaupt nicht fähig, Präsident zu werden.“ In diesem Sinne und diesem Stil hat Nixon nicht davor zurückgescheut, vor den proletarisiertesten Schichten der Bevölkerung, zu der viele Polen gehörten, das Tabu der Oder-Neiße-Grenzen zu durchbrechen.

Auf wen stützt sich der Senator Kennedy? Als erster USA-Präsidentschaftskandidat hat er sich auf Universitätsboden vorgewagt. Vor 11.000 Studenten sprach er in Illinois. Das ist ein Symbol: Die vorhergehenden US-Regime haben es in Korea, Formosa, Asien, Süd- und Mittelamerika und Europa so lange mit „alten, großen oder zumindest mächtigen Männern gehalten, bis eine sich erhebende Jugend, nicht zuletzt von Studenten, in Korea, der Türkei, in Japan, in Süd- und Mittelamerika diese Männer weggefegt hat oder sie zumindest stark bedroht. Kennedy setzt in seinen kühlen, klugen Reden auf eine intellektuelle Jugend, auf die Intelligenz des Landes, auf jüngere Wissenschaftler, auf die Gewerkschaften: ihnen allen will er zeigen, daß Amerika Selbstkritik dringend nötig hat, um seiner wahren inneren Potenzen und Reserven bewußt zu werden. Deshalb drang er auf die Veröffentlichung eines Washingtoner Geheimberichts über Amerikas Prestige im Ausland. ' Auszüge aus diesem Bericht ergaben denn unter anderem, daß in Großbritannien nur 27 Prozent der Befragten (in Frankreich 38 Prozent) in den USA einen guten Führer der westlichen Welt sehen ...

Amerikas Prestige in der Welt: hier hat der Wahlkampf mehrfach, nicht zuletzt im Streit über eine etwaige militärische Verteidigung der Inseln Quemoy und Matsu, den wundesten Punkt der amerikanischen Weltpolitik berührt: China. Amerikas unbewältigte Vergangenheit wird, nebst einer unauslöschlichen Erinnerung an den Sieg der Nordstaaten über, den Süden, vor allem durch die Niederlage im Ringen um China akzentuiert. Kennedy ließ mehrfach durchblicken, daß die Beziehungen, besser: die Nichtbeziehungen zu Rotchina überprüft werden müßten, sobald die Zeit dafür reif sei.

Kennedy hielt bis zu 14 Wahlreden pro Tag. Wird er nach der Wahl die Kraft besitzen, um, als Sieger, den Kampf mit den im Hintergrund stehenden Machtgruppen aufzunehmen, oder, als Unterlegener, die nächste Runde vorbereiten, so wie er den gegenwärtigen Wahlkampf vor vier Jahren mit 144 Reden außerhalb seines Heimatstaates begann? Dies ist durchaus möglich. Genau so ist es möglich, daß sich Richard Milhous Nixon als Sieger unbekümmert Maximen, Planungen und Vorhaben von seinem Gegner ausleiht. Die USA sind kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten mehr - diese harte Wirklichkeit trägt viel dazu bei, Unsicherheit im Lände zu verbreiten. Vieles und Unerwartetes ist dennoch im neuen Regime junger Manager möglich, das mit den beiden Galeons-figuren Nixon und Kennedy heraufzieht und das allzulange im Sund ankernde Staatsschiff, die USA, für neue Fahrt rüstet: den Sternen im Weltraum zu und über alle Meere dieser Erde.

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