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Kein neuer Roosevelt

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Man hatte den Eindruck einer an Euphorie grenzenden Stimmung, nicht nur in demokratischen Kreisen der USA, sondern auch in demokratischen Kreisen, die der gleichnamigen amerikanischen Partei keineswegs angehören: Fast schien es, als sei nicht das Team Präsidentschaftskandidat/Vizepräsident-schaf tskandidat fixiert, sondern der Präsidentschaftskandidat selbst, ja, als stünde der Präsidentschaftskandidat nun sozusagen bereits vor den Stufen des Weißen Hauses.

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Man hatte den Eindruck einer an Euphorie grenzenden Stimmung, nicht nur in demokratischen Kreisen der USA, sondern auch in demokratischen Kreisen, die der gleichnamigen amerikanischen Partei keineswegs angehören: Fast schien es, als sei nicht das Team Präsidentschaftskandidat/Vizepräsident-schaf tskandidat fixiert, sondern der Präsidentschaftskandidat selbst, ja, als stünde der Präsidentschaftskandidat nun sozusagen bereits vor den Stufen des Weißen Hauses.

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Allerdings — so ist es nicht. Zweifellos i hatte Humphrey, als er gegen Nixon antrat, weitaus bessere Gewinnchancen als nun McGovern — auch wenn er dann verlor. Jedenfalls waren seine Gewinnchancen besser, wenn man sie auf Grund aller erfahrungsmäßigen Faktoren bemißt und die Spekulation auf ein Wunder außer acht läßt — freilich auch alle Elemente einer sozusagen wunderträchtigen Situation, einer Nation, die sich im Tiefsten erschüttert, eines Landes, das sich unmittelbar vor einer Wende fühlt. Oder besser: In dem ein freilich statistisch kaum erfaßbarer Teil der Bevölkerung so fühlt.

Man muß aber eben auch, Kennedy-Charisma (bei Shriver) hin, Pilgerväter- und Moralistencharisma (bei McGovern) her, immer die Tatsache in Betracht ziehen, daß in den USA seit Menschengedenken kein regierender Präsident abgewählt wurde. Seit Menschengedenken heißt seit den dreißiger Jahren, seit der Erlassung jenes Gesetzes, das eine dritte Kandidatur nach zweimaliger Präsidentschaft ausschließt.

Fast scheint es, als hätte jeder amerikanische Präsident den Gutschein auf eine zweite Präsidentschaft bereits zusammengefaltet in der Tasche, Johnson hat bekanntlich verzichtet, diesen Gutschein auf die Probe zu stellen — er verzichtete auf eine zweite, durchaus mögliche Wiederwahl.

Nixon kann weitere Positiva in- die politische Schönheitskonkurrenz des kommenden Herbstes einbringen. So vor allem sein Bemühen, den Vietnamkrieg zu beenden — jedenfalls wird ihm die Ehrlichkeit dieses Bemühens von der Nation, aber auch von der Weltöffentlichkeit, anstandslos abgenommen.

Nixon hat dann einen weiteren, viel schwerwiegenderen Gutpunkt: E r ist es, der nach Peking und Moskau fuhr und den großen Ausgleich der Weltmächte in die Wege leitete, wenn auch e r es war, der seinerzeit jeden, der ähnliches im Sinne hatte, in Grund und Boden verteufelte.

Er hat mit Mao konferiert und mit Breschnjew gespeist — die Farbbilder, in denen sie im Kreise der Großen abgebildet sind und mit denen österreichische Kandidaten auf höchste Ämter so gern im Wahlkampf auf die Reise gehen, sie wirken auch und gerade in den USA.

Wenn alles so weitergeht, wie es (angeblich) immer vonstatten gegangen ist, zieht Nixon mit erheblicher Mehrheit in das Weiße Haus ein. Wenn alles so weitergeht — das heißt unter anderem: Wenn beispielsweise Bemühungen um den Frieden in der Wählergunst mehr wiegen als Erfolge bei solchen Bemühungen, und Nixons Gegner sagen: Wenn optische Maßna 'hmen mehr wiegen als die Realität.

Die Realität heißt: Unter Nixon wurden in Vietnam mehr Bomben abgeworfen als je zuvor. Unter Nixon wurde nicht nur Nordvietnam, sondern auch ein großer Teil Südvietnams wieder und wieder von den Bomben durchgepflügt, und der Erklärung, auf chemische Kriegführung künftig verzichten zu wollen, steht als Realität ein ökozid, ein Landschaftsmord größten Ausmaßes, gegenüber.

Für Nixon könnte viel davon abhängen, ob in den Wochen vor seiner Wiederwahl mühsam errichtete Deiche halten. Einerseits politische Deiche. Immerhin hat Nixon es fertiggebracht, assistiert von seinem trefflichen Kissinger, man könnte es freilich auch umgekehrt sehen, den Vietnamkrieg weltpolitisch zu isolieren. Amerikas Engagement in Indo-china erfolgt heute unangefochtener -denn je, was die östliche Seite betrifft. (Dafür wächst die Empörung über Vietnam im Westen, nicht nur in Schweden.)

Anderseits Deiche im buchstäblichen Sinne. Der Hinausschmiß eines hohen Luftwaffengenerals, der bombte, obwohl Nixon die Einstellung der Bombardements befohlen hatte, läßt es fraglich erscheinen, ob die Zerstörung zahlreicher Deiche in Nordvietnam mit oder gegen Nixons Willen erfolgte, aber davon, ob die Reparatur dieser Deiche rechtzeitig gelingt, könnte Nixons politisches Schicksal abhängen.

Denn Hunderttausende Tote durch eine Flutkatastrophe, für die die ganze Welt den USA die Schuld zuschreiben müßte und zuschreiben würde, wären wahrscheinlich mehr, als Nixon überstehen kann.

So hängt auch McGoverns Schicksal an diesen Deichen. Ob McGovern, wenn er verliert, haushoch oder knapp unterliegt, hängt mehr denn je in einer amerikanischen Präsident-schaftswaJü nicht davon ab, wie gut der Gegenkandidat des amtierenden Präsidenten aussieht, wie gut er argumentiert, es hängt mehr denn je davon ab, wie die Nation auf eine Krise reagiert. McGovern zu wählen, wird nicht heißen, den besseren Mann zu wählen oder den Mann, den man für den besseren hält. Es wird heißen: Die Umkehr zu wählen. Den Weg zurück zu den Ursprüngen des amerikanischen Bewußtseins. In einem gewissen Sinn sogar den Weg zurück zu einem gewissen Isolationismus. (Darum haben so viele Europäer Angst vor einem Wahlsieg dieses Mannes.)

McGovern zu wählen hieße auch: Sich zu entscheiden für eine Renaissance jener „amerikanischen Naivität“, der der Europäer in den USA nur begegnet, wenn er in die „Provinz“ fährt (oder wenn amerikanische Studenten in Wien an seine Tür klopfen, um ihn zum Glauben der Zeugen Jehovas zu bekehren). Für eine Naivität, die man vorwiegend aus der Literatur kennt — sie bricht heute, sehr aus der Tiefe kommend, wieder hervor. Amerikas Linke war immer gespalten in eine marxistische Linke und eine sozial-utopiseh-sozialreformerische, messianische, naive Linke. Viel deutet darauf hin, daß MoGovern diese „Linke“ viel stärker verkörpert als das, was der Europäer unter einer Linken versteht.

Auf den Schild gehoben haben ihn freilich alle Linken. Er war auch der einzige, den sie auf den Schild heben konnten.

Die kommende Wahl wird unter anderem zeigen, ob diese amerikanische Jugend, die sich für McGovern exaltiert, einen großen Teil der Nation verkörpert. Wie groß das Unbehagen an Vietnam, aber auch an den inneren Krisen, an der Unsicherheit in den Städten, an den Rassen-und Sozialproblemen wurde.

Auch hinter McGovern stehen Reaktionäre, stehen Rassisten, nicht weniger wahrscheinlich als hinter Nixon. Würde er gewinnen, würde er zweifellos starke Abstriche von seinen bisherigen Programmen machen — er müßte sie machen.

Sollte Amerika McGovern wählen, so hätte es damit in der Tendenz einen neuen Roosevelt gewählt, den großen Neuerer, den Mann der Umkehr. Doch wenig deutet darauf hin, daß dieser Wunsch in Erfüllung ginge. Ein neuer Roosevelt ist heute nicht mehr möglich, und McGovern hätte wohl auch nicht das Zeug dazu. Er wäre, im günstigsten Falle, ein kleinerer Kennedy.

Mit dem langen Gerangel um seinen „Vize“ hat er sich allerdings die Chancen verschlechtert. Sein Sieg wäre ein Wunder. Allerdings eines jener Wunder, die zwar alles andere als wahrscheinlich, aber die doch möglich — und manchmal fällig sind.

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