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Ruf nach dem „Superman“

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Die ewige Streitfrage, ob zuerst das „Fressen“ kommt, oder die „Moral“, scheint sich in diesem Herbst gegen das „Fressen“ zu entscheiden. Denn niemand kann mehr bestreiten, daß es in den USA nun wieder wirtschaftlich aufwärts geht; aber dessenungeachtet kann auch niemand die Malaise übersehen, die sich über das große Land gebreitet hat.

Die Arbeitslosigkeit sinkt langsam — vielleicht zu langsam —, und die Spirale der Preise hat sich bei etwa 7 Prozent eingependelt. Das ist etwa die Hälfte der Inflationsrate von 1974. Die Produktion steigt langsam, und die Handelsbilanz dürfte einen Uberschuß von 10 Milliarden erreichen. Selbst wenn die New Yorker Finanzkrise zum finanziellen Kollaps der Weltmetropole führen sollte, würde dieser Zusammenbruch etwas Gesundes mit sich bringen: das Bewußtsein nämlich, daß man nicht mehr Geld ausgeben soll als man hat. Denn auch dem Dümmsten ist es jetzt klar geworden, daß zumindest in New York soziale Projekte nur das Aushängeschild für politische Ambitionen waren.

Da aber gerade ein wirtschaftlicher Aufstieg für gewöhnlich starke moralische Impulse auslöst, ist die weitverbreitete Malaise sicher nicht ökonomisch bedingt.

Aus vielen Interviews mit Durchschnittsbürgern in allen Teilen des Landes beginnt sich ein Bild zu formen, das einige gemeinsame Motive aufweist. Gemeinsam ist allen Befragten ein Gefühl der Ungewißheit und Unsicherheit, was die Zukunft betrifft.

Eltern verlieren den Kontakt zu ihren Kindern; sie können nicht für ihre Zukunft planen, weil die Kinder selbst keine Zukunftsvorstellungen haben. Der bisher immer so ausgeprägte Glaube an das unbeschränkte wirtschaftliche Wachstum, das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten, solange Fleiß und gesunder Menschenverstand eingesetzt werden, scheint verlorenzugehen. Das ist auch mit ein Grund für die viel zu langsame Erholung von der wirtschaftlichen Depression. Unternehmer haben die Lust am wirtschaftlichen Risiko verloren. Sie stoßen überall an die Schranken wachsenden Gewerkschaftseinflusses und bürokratischer Einengung. Selbst auf die Beziehungen zur Sowjetunion nimmt der Gewerkschaftsbund AFL-CIO Einfluß!

Der Wohlfahrtsstaat ist auch in den USA im Vormarsch und verusacht Unbehagen und Desorientierung. Im klassischen Land des Leistungslohnes, in dem der materielle Erfolg vom Fleiß und persönlichen Einsatz abhing, in dem man während der aktiven Berufstätigkeit für seine späteren Tage vorsorgte, gewinnen Renten und Pensionsschemata immer mehr an Bedeutung. Die medizinische Vorsorge nähert sich immer mehr den europäischen Vorbildern, weil die Kosten für den einzelnen nachgerade prohibitiv geworden sind.

Aus anderer Sicht gesehen, waren die Wirtschaftszyklen der letzten Dekade zu kurz. Perioden des Anhei-zens und der Abkühlung folgten einander in so schnellen Abständen, daß der Bürger, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, sich auf die Entwicklung nicht richtig einstellen konnte.

Der Substanzverlust durch Inflation und Börsenbewegungen war gewaltig. Die Erinnerung ist noch zu frisch, als daß man von heute auf morgen auf Optimismus umschalten könnte.

Der moralische Verfall, vor allem in den Großstädten, ist von den Plakatwänden und Zeitungskiosken ablesbar. Eine längere Studie der New-York-Times weist nach, daß die Mafia sich nunmehr der Gebiete Pornofilm und Pornoliteratur bemächtigt hat; und die Mafia hat noch nie falsch investiert.

Wenn auch auf Schulen und Universitäten zur Zeit Ruhe herrscht und es den Anschein hat, als ob die Jugend studieren und nicht demonstrieren, wollte, werden die Schulen doch in den Wirbel sozialer Forderungen von Lehrern und Professoren hineingezogen. Vor allem die Großstädte, die fast ausnahmslos in tiefen finanziellen Schwierigkeiten stecken, werden ständig von Schulkrisen erfaßt. „Warum sollen die Studenten an den öffentlichen Universitäten New Yorks umsonst studieren, wenn Ich in Lansing (Michigan) für mein Studium selbst zahlen mußte?“, stellte Präsident Ford kürzlich die rhetorische Frage. Er hätte hinzufügen müssen: weil die Stadt eben kein Geld mehr hat, um solche Leistungen zu finanzieren. Früher arbeitete man als Werkstudent, um sich sein Studium zu verdienen, heute wird der Anspruch auf ein kostenloses Universitätsstudium fast schon von jedermann gestellt. Früher mag man gegen Farbige bei der Aufnahme in die Hochschulen ungerecht gewesen sein, obgleich bei den Farbigen meist die akademische Qualifizierung fehlte. Heute diskriminiert man Weiße zugunsten der Farbigen, selbst wenn alle Qualifikationen vorhanden sind, als ob es gälte, die Erbsünde zu tilgen.

Ein breiter Strom der Empörung und des Unwillens richtet sich gegen das Justizwesen. Die Gerichte werden mit der steigenden Kriminalität nicht fertig, übertrieben liberale Gesetze und Mangel an finanziellen Mitteln setzen Kriminelle vielfach auf die Straße, ohne daß ihre Verbrechen jemals geahndet werden. Neue Verbrechen werden oft unmittelbar nach der Freisetzung begangen. Der Fall der Patty Hearst — der entführten und nachher freiwilligen Revolutionärin — wird da zu einem wichtigen Testfall. Wird das Gericht ihre Beteiligung an Raubüberfällenv so ahnden, als wäre sie ein Mitglied einer Verbrecherbande, oder wird es dem Argument folgen, daß Gehirnwäsche vorliege und wird es die Untaten der jungen Milliardärstochter „psychologisch“ wegeskamotieren? Hier steht mehr als die Gleichheit vor dem Gesetz auf dem Spiel, schon gar, weil Nixons Begnadigung durch Präsident Ford vor einem Jahr dieses Prinzip zu verletzen schien. Und dann — wer sind diese revolutionären Guerilleros eigentlich? Sind es politische Fanatiker mit idealistischen Motiven, oder sind es Menschen, die aus Haß gegen die Gesellschaft morden und plündern? Soll man Menschen, die angetreten sind, um die Demokratie zu zerstören, durch demokratische Sanktionen bekämpfen? Ist hier die Demokratie nicht überhaupt schon am Ende ihrer Funktionsfähigkeit angelangt?

Alle diese Fragen, auf die eine noch dazu humorlose Nation keine Antwort weiß, schaffen ein Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit. Man spürt, daß eine Ära zu Ende geht, man weiß aber nicht, was nach ihr kommen soll. Amerika ist kein grundsätzlich konservatives Land. Aber es läßt sich nicht gerne in Abenteuer ein.

Hier ist es nun, wo die Führungs-persönlichkeit des Präsidenten fehlt. Nach dem Sturz Nixons hat das Land einen hochanständigen, Heißigen, durchschnittlich begabten Politiker zum „Chief executor“ erhalten; aber eben deshalb geht von Ford die gleiche Unsicherheit, die gleiche Hilflosigkeit vor den wechselnden Phänomenen aus, wie von der Nation selbst. Ein Präsident, der dem Durchschnittsbürger gleicht — das ist gut in Zeiten, in denen die Geschichte nach einem vorbestimmbaren Kurs abläuft. In Zeiten aber, in denen alle Werte in Frage gestellt werden, blicken alle Augen nach Washington. Vom Weißen Haus erwarten sie Antwort. Entscheidungen, aber keine Gemeinplätze. Es geht dabei weniger um das intellektuelle Niveau, es geht um den Inhalt, um die Vision. Das Land ist mit Ford nicht zufrieden, weil er keine Antworten hat und dort, wo er welche hätte, fällt ihm der Kongreß ins Wort; eine Einrichtung, die in der Öffentlichkeit immer tiefer bewertet wird.

Aber auch im gegnerischen Lager, bei den Demokraten, zeichnet sich kein Kandidat von Vision und Profil ab. Das Wischi-Waschi ist schon zu sehr zur Amtssprache der amerikanischen Politik geworden, als daß sich ein Individualist durchsetzen könnte oder wollte. Das Land ist reif für eine Persönlichkeit, die von außerhalb der Politik kommen könnte, wie damals, als General Eisenhower allen Politikern obsiegte. Daß er dann selbst den schwächlichen Stil der Tagespolitik annahm, steht auf einem anderen Blatt. Aber auch damals war der Ruf nach einem „Superman“, einem über der Tagespolitik stehenden Kandidaten, überwältigend; es fragt sich, wer diesem Ruf Folge leisten wird. Wird es nochmals ein Repräsentant der alten politischen Garde sein, oder wird ein „neuer Typ“ in dieses Vakuum stoßen?

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