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Ein neuer Klassenkampf

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Es kommt vor, daß man in den Zeitungen Dinge liest, deren Ungeheuerlichkeit einem erst hinterher zu Bewußtsein kommt. Das liegt' daran, daß man den Ton gewohnt ist — bloß die Dosierung ist etwas zu stark: Man spürt die Absicht, und man wird verstimmt. So ging es uns kürzlich beim Uberfliegen der Titelseite der „Zeit“. Unter dem Titel „Buhlen um das Publikum“ wurden dort die Bemühungen einer

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Es kommt vor, daß man in den Zeitungen Dinge liest, deren Ungeheuerlichkeit einem erst hinterher zu Bewußtsein kommt. Das liegt' daran, daß man den Ton gewohnt ist — bloß die Dosierung ist etwas zu stark: Man spürt die Absicht, und man wird verstimmt. So ging es uns kürzlich beim Uberfliegen der Titelseite der „Zeit“. Unter dem Titel „Buhlen um das Publikum“ wurden dort die Bemühungen einer

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Schlagersängerin um ihr Publikum mit den Appellen von zwei Politikern an ihre Wähler verglichen: „Das Publikum ist der Souverän. Schausteller und Politiker wissen das — und richten sich danach. Mit sentimentalen Appellen buhlen sie um die Gunst des Publikums. Das ist gewiß eine hohe Kunst. Aber sie demokratisch zu nennen, wäre sicherlich ein Mißverständnis.“

Das geht einem zunächst so runter, man schmunzelt vielleicht sogar einen Moment über die Gleichstellung von Show-Business und Politik. Doch dann stutzt man. Was soll denn überhaupt „Publikum“ in der Politik? Publikum darf bekanntlich Eintritt bezahlen, es darf sich auch in Grenzen amüsieren, neuerdings wird es beschimpft — aber es hat nicht zu bestimmen, welches Stück gespielt wird. Das liegt vielmehr in der Hand einiger Auserwählter, der Intendanten, Kritiker und städtischen Kulturreferenten. Gilt dieses Modell auch für die Politik, für die Beziehung des Wahlvolkes zu seinen Vertretern? Man könnte es meinen, wenn man sieht, wie unverfroren hier der Grundsatz jeder Demokratie (also jeder Volksherrschaft), „das Volk ist der Souverän“, in das höhnische „Das Publikum ist der Souverän“ umfunktioniert wird. Und was heißt „sentimentale Appelle“? Jeder echte Appell an einen anderen Menschen richtet sich an diesen als ein Ganzes, also auch an sein Gefühl. Das spiegelt sich schon darin, daß diejenigen, die alle „Emotionalität“ verurteilen, meist durch haß- und leidenschaftsverzerrte Gesichter sich selbst widerlegen.

Das tollste Stück elitärer Arroganz

in diesem „v. K.“-signierten Artikel auf der Show-Seite der „Zeit“ ist aber das Wort „buhlen“. Dem adeligen Verfasser scheint es geradezu etwas Obszönes zu sein, daß ein Politiker eine größere Zahl von Menschen zu überzeugen, für sich zu gewinnen und hinter sich zu scharen sucht. Was normaler Überlegung als ein demokratischer Vorgang par ex-.cellence erscheinen muß, wird sauersüß allenfalls als „hohe Kunst“ anerkannt: „Aber sie demokratisch zu nennen, wäre sicherlich ein Mißverständnis.“ Was also ist nach diesem Herrn kein Mißverständnis? Wenn in der Sprache noch irgendeine Logik gelten soll, so kann der Sinn des zitierten Artikels nur der sein: Undemokratisch ist, was die Mehrheit will; als demokratisch kann nur bezeichnet werden, womit sich eine Minderheit in Gegensatz zur Mehrheit stellt. Und damit steht der Verfasser des Artikels keineswegs allein. Seit einiger Zeit überschwemmen uns die Massenmedien mit Verlautbarungen, in denen, mehr oder weniger verhüllt, nur noch das als „demokratisch“ akzeptiert wird, was dem Willen, dem Geschmack und dem Sittlichkeitsgefühl der Mehrheit der Staatsbürger kraß zuwiderläuft. Das wird in Kunst, Literatur, Theater nur am sichtbarsten, es ist keineswegs auf diesen artistischen Bereich beschränkt. Es gilt für alle Bereiche des Lebens. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Mehrheit zum mindesten nach dem Mund geredet wurde. Wir stehen vor dem eigenartigen Phänomen eines neuen Klassenhasses: Was viele woller, ist schlecht; gut ist nur, was kleine Minderheiten anstreben.

Die milchbärtigen Revolutionäre

sind nicht deshalb komisch, weil sie von Klassenkampf sprechen. Sie sind es vielmehr, weil sie ihn dort suchen, wo es ihn gar nicht mehr gibt. Wenn die marxistischen Schemata je der Wirklichkeit entsprochen haben, dann nur während einer recht kurzen historischen Periode. Vor allem gilt es zu sehen, daß der Klassenkampf nicht immer von

oben nach unten durchgeht — also etwa so, daß eine Oberschicht eine Mittelschicht dazu benützt, eine Unterschicht auszubeuten. Es gibt auch den Klassenkampf in Form der Einkreisung einer Mittelschicht durch eine Koalition von Ober- und Unterschicht. Musterbeispiel dafür im 19. Jahrhundert ist Disraelis „Tory-Demokratie“; in ihr fanden sich die alte Herrenschicht und die neue Industriearbeiterschaft in ihrer Ablehnung des liberalen Besitzbürgertums zusammen.

Oer heutige Klassenkampf

scheint wieder eine solche Einkreisungsbewegung zu vollziehen. Aber die Mitspieler haben sich verändert. Es gibt kein liberales Bürgertum mehr, keine Arbeiterschaft im Sinne des 19. Jahrhunderts und selbstverständlich auch keine feudale Herrenschicht. Von alldem blieben nur einzelne Attrappen zur Verwirrung stehen. Was ist an ihre Stelle getreten? Der entscheidende soziale Vorgang innerhalb der westlichen Welt ist in diesem Jahrhundert die allmähliche Herausbildung einer neuen breiten Mittelschicht, in der sich die Unterschiede zwischen Arbeitern, Angestellten und Managern mehr und mehr abschleifen; eine Schicht, in der es noch große Unterschiede des Einkommens geben mag, aber keine starre Schranken, sondern Durchlässigkeit für den Tüchtigen nach oben, bei fast gleichen Ausgangschancen für alle. Diese recht homogene Schicht ist die soziale Form, welche sich die Leistungsgesellschaft nach ihrem endgültigen Sieg über die alte Standesgesellschaft geschaffen hat (ein Sieg notabene, der in Deutschland bloß drei bis vier Jahrzehnte zurückliegt und in Frankreich überhaupt erst teilweise errungen wurde). Ihr vorgelagert sind eine Keihe von Spielgärten, welche sie stoßsicher machen sollen: einer, in dem sich die Jugend vor ihrer Eingliederung in die harte Disziplin der Leistungsgesellschaft noch austoben soll; einer, in dem Reste der alten Feudalgesellschaft für die Kameras der Illustrierten noch ein wenig „high life“ markieren; und nicht zuletzt der Spielgarten der Künste und des freien Geistes, den man sich als Naturschutzpark für freie Stunden ausersehen hatte.

Die Anarchorevolte

Diese Rechnung ging bekanntlich nicht auf. Gerade in diesem Randbereich ist der Leistungsgesellschaft eine Opposition von zumindest theoretischer Unerbittlichkeit erwachsen. Nach den Vorgängen in den USA spricht man bekanntlich von einer „schweigenden Mehrheit“, die von einer fanatischen „artikulierten Minderheit“ berannt wird — also einer wortbegabten und agitationstüchtigen Minderheit. Diese Opposition gegen eine als öd, grau und entbehrlich angesehene Leistungsgesellschaft setzt sich bekanntlich aus solchen zusammen, die sich in der Wirklichkeit der industriellen Zivilisation noch nicht behaupten mußten — den Jugendlichen —, und solchen, die die Vorteile dieser Zivilisation zwar ausnützen, sich aber wenigstens geistig auch wieder aus ihr zu entfernen vermögen — als Bohemiens und ein gewisser Schlag von Intellektuellen. Ihre wirksame gesellschaftliche Einbettung aber hat diese Opposition erst durch einen

d Zustrom von dritter Seite erhalten. e Unter dem Einfluß der immer unbe-e dingter sich ausformenden Lei-t stungsgesellschaft hat sich das, was r von der alten Großbourgeoisie übrig-t geblieben ist, gespalten. Ein Teil von i ihr ordnet sich der Leistungsgeseil-r schaft ein; ein anderer Teil aber, s zahlenmäßig nicht unbedeutend, i schließt sich dem Aufstand gegen e das „kleinbürgerliche“ Leistungs-r ethos an und sucht sich, soweit er - nicht von Ererbtem leben kann, Erwerbsquellen mit Hilfe von „Beziehungen“ und von „Spieler“-Instinkt zu schaffen. Diese „Schickeria“ muß als andere Seite der sozialpathetischen Revolte von heute erkannt werden; die Ubergänge von den Redaktionsstuben der linken Gazetten “ in die Hotelbars von St. Moritz sind fließend. Sieht man von den Agenten

auswärtiger Mächte und Ideologien einmal ab, die all das natürlich für ihre Zwecke zu kanalisieren suchen, so setzt sich die Anarchorevolte aus folgenden drei Typen zusammen: aus störrischen Jugendlichen, aus überheblichen Intellektuellen und aus lässigen Playboys. Daß jeder dieser Typen die Leistungsgesellschaft in anderem Stile ablehnt, ändert an ihrer durch den gemeinsamen „Feind“ geschaffenen Einheit nichts.

Nixons Revanche

Amerika ist immer die Probe aufs Exempel. Was dort passiert, bekommen wir ja zwei bis drei Jahre später am eigenen Leibe zu spüren. Der Niedergang der dortigen „Demokraten“ ist zugleich der Niedergang einer Herrschaftsform: derjenigen nämlich, in der sich Mitglieder der alten Herrenschicht — etwa Patrizier wie die Roosevelts, die Rockefetlers oder die Kennedys — mit allen möglichen Minderheiten, von den Polen und Italienern bis zu den Negern, gegen die amerikanische Mittelschicht vorwiegend angelsächsisch-protestantischen Ursprungs verbündeten. Die dem Kennedy-Mythos und ähnlichen Einflüssen nicht unterworfenen Amerikakenner haben denn auch deutlich festgehalten, als was der Sieg Nixons und etwa die Niederlage

Lindsays anzusehen sind: Jene arbeitsame Mittelschicht, welche den übergroßen Teil des amerikanischen Steueraufkommens einbringt, ist es müde, die kostspieligen Operationen zu finanzieren, die dem Zusammenspiel der Milliardäre mit den farbigen Einwanderern entspringen. Und die Zangenbewegung derer ganz oben und derer ganz unten gegen die Mittelschicht haben dieser zu unerwartetem Blutstrom verholten: Etwa die erwähnten italienischen und polnischen Minderheiten gliedern sich mehr und mehr der Mittelschicht ein, der sie sich näher fühlen als der Koalition zwischen dem Waldorf-Astoria-Hotel und den Slums.

Natürlich ist in Europa und insbesondere in Deutschland einiges anders. Zum großen Mißbehagen jener unheiligen Dreieinigkeit aus „frustrierten“ Jugendlichen, utopistischen Intellektuellen und Schickeria gibt es in Deutschland — um hier einmal den deutschen Sonderfall herauszugreifen — keine farbige Minderheit, die man von unten her gegen den verhaßten deutschen „Spießer“ in Bewegung setzen könnte. Also muß sich diese Opposition damit begnügen, sich mit allen erdenklichen Feinden Deutschlands gegen die Mehrheit ihrer deut-

sehen Mitbürger zu verbünden. Vorerst ist das ein immer noch recht wirksamer Terror. Er kann jedoch bald an Gewalt verlieren — so etwa, wenn Rotchina den russischen Nachbarn so intensiv an den sibirischen Sohlen kitzelt, daß die Sowjetunion im Westen einlenken muß. Die deutschen Arbeiter aber sind längst keine Parias mehr, die man für ihnen so fremde Ziele wie diejenigen der „Neuen Linken“ in Bewegung setzen könnte. Im Gegenteil: Sie sind die gegen solche Verlockungen immunsten Menschen in Deutschland.

Manipulation mit dem Schuldgefühl

Gerade in Deutschland läßt sich das aber für die Gegner der Leistungsgesellschaft verschmerzen, weil sie auf einen wichtigen Verbündeten zählen können: die „Vergangenheitsbewältigung“. Solange die Deutschen mit ihren Schuldgefühlen zu manipulieren sind, ist für die „Neue Linke“ die Schlacht nicht verloren. Solange man den Deutschen einreden kann, daß der Mißbrauch einer guten Sache auch diese gute Sache selbst diskreditiere, ist der Kampf gegen die Leistungsgesellschaft noch nicht verloren. Beispielsweise hat Hitler das Verantwortungsgefühl vieler Deutscher mißbraucht. Folglich ist jeder Appell an das Verant-

wortungsgefühl abzulehnen, weil es nach dieser Logik ja zu einem neuen Auschwitz führen muß. Das Verantwortungsgefühl aber Ist der eigentliche Motor zur Leistungsgesellschaft. Die industrielle Zivilisation ist keineswegs eine Lebensform, die Automatenmenschen voraussetzt. Im Gegenteil: Die von ihr aufgebaute Apparatur ist so verletzlich, daß das freiwillige Mitmachen jedes einzelnen — freiwillige Disziplin — ihre Voraussetzung ist. Damit ist auch schon gesagt, wo der Konfliktstoff in diesem neuen Klassenkampf zwischen disziplinierter Mehrheit und anarchistischer Minderheit aufgehäuft ist. Die Mehrheit wird es eines Tages satt kriegen, für ihre Arbeitsdisziplin, von der auch jeder APO-Jüngling lebt, als „Spießer“ beschimpft zu werden. Solange APO-Häftlinge ihre Zellen mit ihrem Kot ausmalen und auf dem Tisch des Untersuchungsrichters ihre Notdurft verrichten, wendet man sich mit Ekel ab. Sollten aber Attentate auf die Nervenknoten der Leistungsgesellschaft zielen und jene „potenzierende Wirkung“ haben, wie sie etwa beim Ausfall einer elektrischen Zentrale für eine ganze Region möglich ist — nun, dann wird auch der unvermeidliche Gegenschlag der Leistungsgesellschaft die gleiche „potenzierende Wirkung“ haben. Und wer genügend Phantasie hat, sich einen solchen Gegenschlag auszumalen, wünscht ihn sich auch bei größter Abneigung gegen Wohlstands- und Langeweilerevolte nicht herbei.

Antiakademikeraffekt

Kommt noch hinzu, daß der neue Klassenkampf zwischen einer von elitärem Wahn besessenen Bohe-mienminderheit und einer arbeitsamen, verantwortungsbewußten Mehrheit noch von einem ganz besonderen Ressentiment angeheizt wird: dem Antiakademikeraffekt, der längst zu einem internationalen Phänomen geworden ist Der ist mindestens so treibstoffgeladen wie früher der Haß auf Fürsten und Kleriker. Und er ist natürlich eine ebenso ungerechte Verallgemeinerung wie jene. Aber obwohl jeder einzelne, der von ihm angesteckt ist, soundso viele durchaus vernünftige Akademiker kennt, sieht man einen neuen Popanz des „Akademikers“ sich bedrohlich aufbauen. Um ihn auf eine Formel zu bringen: Früher hatte man Ressentiments gegen den Akademiker, weil er gescheiter war als man selber; die heutigen Ressentiments beruhen darauf, daß er offensichtlich dümmer ist. Wie ist das gemeint? Nun, es gibt heute im Bereich der technischen Zivilisation keine andere Gesellschaft als die Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Auch wer gegen sie wettert, lebt noch als Parasit von ihr. Und es ist keine andere Art von Gesellschaft mehr möglich, weil keine andere mehr die Zahl der Menschen zu ernähren vermag, die es heute gibt (und vor allem, die es morgen geben wird). Diesem Tatbestand gegenüber kann man sich auf zweierlei Art verhalten. Man kann ihn entweder ignorieren, wie das heute leider so viele Produkte unserer Hochschulen tun; das erlaubt dann die Hervorbringung recht kunstvoller und hochherziger, aber letzten Endes völlig beliebiger Utopien. Oder aber man läßt sich auf diese Wirklichkeit ein und sucht innerhalb ihr zu bestehen. Das macht es dann allerdings unmöglich, noch mit solchen kunstvollen Luftgebilden zu glänzen. Mit anderen Worten: Ein 25jähriger Arbeiter oder Angestellter hat heute in der Regel mehr Wirklichkeitserfahrung als ein gleichaltriger Akademiker. Er weiß besser als jener, wie die Welt konstruiert ist und wie man ihr zu begegnen hat. In dieser Lage muß er sich unweigerlich früher oder später fragen, welchen Sinn es hat, mit seinen Steuern Hochschulen zu finanzieren, die eine anspruchsvolle Elite züchten, welche dümmer ist als er selber.

Jene Minderheiten, die mit so viel elitärer Arroganz die Mehrheit schulmeistern, sollten sich warnen lassen. Sie sollten ruhig etwas „buhlen“ um ihr „Publikum“ — sie könnten dabei einiges lernen. Tun sie es nicht, so lassen sie sich auf einen Klassenkampf ein, den sie nicht gewinnen können. Nicht, weil die andern mehr sind. Sondern, weil sie Boden unter den Füßen haben.

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