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Korrupt auf leisen Sohlen

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MARKENKAMERAS EINER AUSLÄNDISCHEN Produktion werden seit kurzem mit einem Rabatt von 42 Prozent verkauft, immer noch mit Gewinn, versteht sich. Wie hoch mag der Profit vorher gewesen sein? Kleingeister gibt’s, die suchen in derlei Manipulationen einen Wurm. Sie gehören zur selben atavistischen Rasse, die sich empört, sobald anläßlich der Saisonausverkäufe eigens hiefür erzeugte Waren auf den Markt geworfen werden, die zwar nichts wert sind, jedoch im Käufer das Hochgefühl erwecken, schlau gespart zu haben. Stoffe, die beim Waschen Form und Farbe verlieren, Schuhe, die sich bei Regen auflösen, Geschirr, das zerbricht, sobald man es scharf anblickt. Nur keine Emotionen, bitte! Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, was unter anderem bedeutet, daß alles, was nicht verboten wird, erlaubt ist.

Immer noch gibt es eine Menge Narren, die nicht ahnen, wieviel bequemer es sich mit einem Schuß Korruptheit im Blut lebt. Die Armen! Sie stehen mit ihren verjährten Illusionen über Fairneß, Ethik und Sittlichkeit auf dem Aussterbeetat. Glücklicherweise ist unser Alltag, sind zahlreiche Leitbilder in Gestalt von Namen der heimischen und internationalen Welt und der Großteil der Massenmedien emsig am Werk, die nach Beispielen suchende Jugend mürbe zu walken, so daß sie, zur Verantwortung herangewachsen, kaum vor moralischen Dilemmata stehen wird. Die Käuflichkeit aller Dinge ist der Trumpf, der heute sticht. Wer sich dagegen auflehnt, macht sich selbst zum Outsider.

WIR MEINEN NICHT DIE GROSSE kriminelle Korruption, die Neid erweckt, solange sie Millionen einbringt, und Amüsement, sobald sie bestraft wird. Nicht von Glücksrittern, Hochstaplern und Hasardeuren sei die Rede, die verwegen ihre Existenz einsetzen und entweder reich, im Zuchthaus oder auf dem Galgen enden, sondern von der sanften Korruption, die auf Katzenpfoten durch unser Dasein schleicht, allgegenwärtig ist und daher oft kaum mehr erkannt wird.

Die Usancen, von denen wir sprechen, gelten nicht allein dem Handel mit Industrieprodukten, sondern mit schöner Folgerichtigkeit auch der Ware Mensch. Einige Texte, entnommen der Seite 64 einer Tageszeitung:

„EIGENINSERAT! Großer, lediger Kaufmann, Hotelfachmann, katholisch, brünett, gut aussehend, übernimmt Hotelrestaurant, sechzigbet- tig, auch Cafe-Restaurant, Umsatz 600.000 D-Mark, Großverdienst, sucht große, hübsche, vermögende Dame, 22 bis 39, Bildzuschrift, baldige Ehe.”

Dem Mann, vermutlich einem Mittvierziger in voller Expansion, kann geholfen werden; vielleicht hat er, während diese Zeilen erscheinen, seine Ehe, katholisch, sechzigbettig, mit Großverdienst, längst perfektioniert. Er kennt die richtige Tour, aber deswegen braucht man doch, wie eine Annonce nebenan zeigt, nicht gleich zu heiraten:

„HERR mit Geschäft, 43, sucht hübsche Freundin bis 30, der er ein Geschäft bis 100.000 Schilling anvertrauen kann. Bildzuschrift.”

Es sind nicht allein Leute über 40, die aus dem Krieg mit einem Sinn für forschen Realismus heimkamen, auch die Jugend beherrscht schon die Spielregel:

„EINEM ARZT bieten sich prachtvolle Berufsaussichten in Ehe mit hübschem 25jährigem Mädchen. Näheres unter: Riesiger Besitz.”

Wer das prachtvolle Mädchen nicht nimmt, ist ein Esel. Da darf unser akademischer Nachwuchs nicht zurückstehen, sonst wäre es um die Elite von morgen schlecht bestellt: „ZWEI JUNGE, gutaussehende, sportlich-schlanke Studenten, blond, 188, dunkel, 186, ersehnen Liebe von zwei attraktiven Damen, vielleicht mit Wohnung.”

Köpfchen muß man haben! Staatsund Gemeindeinstanzen sollten mit diesen schlanken Wohnfachleuten jetzt Verträge schließen, auf daß sie nach Erwerbung des Doktorhuts den Wohnbau mit neuen Ideen reformieren. Wem die studentische Ausdrucksweise zu weitschweifig ist, kann es auch lakonischer haben: „SUCHE wohlhabende Schönheit.” Punkt. Aus. Dem Mann gebührt ein Lorbeerkranz für prägnante Stilistik. Nun. wer sieh in diese merkantile Gesellschaft verirrt, ohne von Geld und Gut zu sprechen, macht sich von vornherein der Abwegigkeit verdächtig: „KUNSTSCHAFFENDE, modern, sensitiv, verläßlich. 37. sucht Gleichgesinnte. Unter: Lebenshöhen.” Sensitivität ohne Honorar auszubieten, ist denn doch wohl reichlich weltfremd. Oder sollte hier, gerade hier, ein Vorkriegscharakter verborgen sein?

DASS ZWISCHEN MERKANTILISMUS und unserem Thema ursächliche. ja urtümliche Zusammenhänge bestehen, meinte schon die Antike, als sie Hermes/Mercurius mit gesundem Sinn für Wahrhaftigkeit zum Gott des Handels wie des Diebsvolks erhob. Wie fortschrittlich sind demgegenüber wir! Wir installieren keinen Diebsgott, wir sperren die Diebe ein, denn unsere Reputation ist uns heilig. Zugegeben, damit ist das oberste Menschheitsproblem ungelöst, das da lautet: „Wie bringe ich den Besitz meines Nächsten in meine eigene Tasche?” Wahrlich, ein Thema, tiefster Versenkung wert, und allein die Heuchelei, die an etlichen Hohen Schulen mitunter waltet, verhindert es, daß Dissertationen freimütig unter solchem Titel verfaßt werden. Nun, es geht auch anders, man kann zum Beispiel über neuzeitliche Werbung dissertieren. Des Pudels Kern liegt seit urvordenklicher Zeit darin, den böhmischen Zirkel bis zur Legitimität zu modifizieren, und tatsächlich hat sich der menschliche Geist auf keinem anderen Gebiet erfinderischer erwiesen, als auf diesem. In den Säkula, da homo sapiens noch den offenen Raub bevorzugte, mußten Sippen-, Stammes-, Ritter-, Konfessions- oder weibliche Schönheitsideale herhalten, die Aneignung fremden Guts heroisch zu verbrämen Doch diese Bräuche sind infolge des strapaziösen Verlaufs der jüngsten Weltkriege etwas in Verruf geraten und dürfen deshalb allein in den Territorien unterentwickelter Völker ohne Prestigeverlust zelebriert werden. In unseren Breiten sind Reklamekampagnen weniger riskant als bewaffnete Feldzüge.

ZU SAGEN, WERBUNG SEI Diebstahl, wäre eine arge Simpliflkation wie die Behauptung des Gegenteils. Jeder Kaufmann hat naturrechtlich die Pflicht, für die Qualität seiner Ware einzustehen. Dieses Einstehen ist, mit je mehr Nachdruck es geschieht, bereits Werbung. Doch von da bis zur Suggestion überflüssiger Bedürfnisse ist ein weiter Schritt. Wir haben ihn, über die Korruptionsgrenze hinweg, mit frappanter Geschwindigkeit zurückgelegt. Der unverhohlene Kaufzwang reicht heute, auf daß einen der Nachbar nicht scheel ansieht, vom tausendfältigen teuren Krimskrams des Make-up-Basars, je nach den Kreisen, in denen man lebt, über die Villa im Exklusivviertel und den Straßenkreuzer bis zur Freundin ä la mode du jour. So wechseln täglich ungeheure Summen ihre Besitzerlist es nicht wirklich ein echter Fortschritt, daß all dies ohne die Anrufung nationaler, religiöser oder sonstiger Idealismen schlicht auf der Basis des einzig sakrosänteri Ego vor sich geht? Uns will auch scheinen, daß die plündernden Horden von den Philistern über die Hunnen und Janitscharen bis zur jüngsten Vergangenheit naive Leute waren. Nicht nur liefen sie stellenweise Gefahr, erschlagen zu werden, überdies hatten sie noch die Plage, das Raubgut über Länder und halbe Kontinente heimzubefördem. Heute, im Zeichen des bargeldlosen Bankverkehrs, wird jegliche Beute spesenfrei auf das gewünschte Konto umgebucht. Unsere ‘ katzenpfötige Korruptheit hat quantitative wie qualitative Kategorien. 10.000 Plakate für eine Ware in einer mittelgroßen Stadt bedeuten eine Empfehlung, 30.000 eine Pression, 100.000 massiven psychologischen Zwang, gegen den sich nur Ausnahmenaturen behaupten. Ein Mädchen im Badetrikot auf einem Plakat für Badetrikots ist solang legitim, als die Formen des Mädchens nicht, das Trikot überbordend, dieses zum Relikt degradieren.

Hier kann die Verfremdung des Mittels zum Zweck, eine Korruptheit perse, leicht zur Verfehlung der Werbewirkung mißraten. Und ein Plakat wie letzten Sommer das weder Frauenfleisch noch Trikots, sondern ein helle Möve vor blauem Wasserhintergrund als Propaganda für Badekleidung zeigt, den Vogel des allgemeinen Interesses abzuschießen — einzig, weil es dem trivial ausgeleierten Trend nicht folgt. Ähnliches gilt von der jüngsten Werbung für einen Bodenbelag, die ausnahmsweise nicht Partygirls und Photomodelle einsetzt, sondern die einfachen Gesichter gewöhnlicher Menschen, wobei es dem Betrachter überlassen ist, den Charme, den unregelmäßige, unreglementierte Gesichter ausstrahlen, zu entdecken.

IM ÜBRIGEN ABER HAT DAS spärlich bekleidete Weib als Werbezugpferd für schlechthin alles, seien es Herrenschlipse, Kunstdüngermittel oder Computersysteme, die Konkurrenz anderer Blickfänge weit aus dem Feld geschlagen. Wohl infolge der Binsenweisheit, daß heute der Sex dominiert. Auch hier Fortschritt über Fortschritt, keine Spur von Puritanismus, Prüderie oder falscher Scham. Einige Filmtitel aus derselben Zeitung, der wir obige Inserate entnahmen: „Blonde Fracht für Sansibar”, „Das leichte Geld der Liebe”, „Fremde Bettgesellen”, „Die Nonne und die Sünderin”, „Liebende Paare”, „Ganz ohne, Strip-tease…”, „Weiße Sklavinnen”, „Nackte Jugend”, „Die Triebhaften”, „Sklavin des Orients” und schließlich lapidar: „Sex x Sex!” Psychologen, die eruiert haben, daß die noch immehr zunehmende Crime-and-Sex- Welle ein Indiz für die geheime Triebschwäche einer in Beton sich eingemauert habenden Zivilisation darstellt, mögen nicht unrecht haben — recht haben aber auch die Rechner, die feststellen, daß Erotik in jeder erdenklichen Form feil ist.

Feil, hm. Tja, das bißchen Korruptheit im Blut — leben wir nicht glänzend mit ihr? Ist sie nicht der eigentliche Motor unseres Wohlstandes? Gelänge es düsteren Fanatikern, sie schlagartig zu eliminieren — ein unvorstellbares Wirtschaftschaos wäre die Folge, gleich dem Zusammenbruch eines Hauses, dern jeder zweite Ziegelstein entnommen wird. Also scheint es hoch an der Zeit, dem Epitheton „korrupt” den fatalen Beigeschmack, der ihm trotz allen Fortschrittes anhaftet, zu nehmen. Wer Worte ändert, ändert Welten. Frech etwa bedeutete einst eine mediokre Eigenschaft. Seit nun, im Äon der Impertinenz, „frech wie Oskar” ein salonfähiges Lob wurde, stehen wir an der Schwelle einer Periode, da auch der Ausdruck „korrupt wie Paul” dekorativ gleich einem Orden wirken wird. Recht so — in unserer Welt, in der zum Beispiel immer mehr für den Zigarettenkonsum Reklame betrieben wird, obwohl er den Lungenkrebs stark fördert. Immer neue Wefbeideen für die Zigarette, auch in Staaten, die als Stütze des Budgets ein Tabakmonopol haben. Kein Volksvertreter, gleich welcher Observanz, findet da ein Haar in der Suppe. Keiner! Also kann der Handel mit dem Krebstod doch wohl nicht korrupt sein? Oder?

DIE VERMUTUNG, DASS DIE KORRUPTHEIT durch einen psychischen Virus hervorgerufen wird, liegt nahe, denn ihr epidemisches Auftreten ist offensichtlich. Sie macht vor keinem Lebensbezirk halt. Ob es Werbepreisausschreiben mit Autos und Traumflugreisen als Hauptgewinne sind, wobei dadurch, daß die Preisfragen dem Intelligenzgrad von Kretins angepaßt sind, die Idee der Preiswürdigkeit ehrlicher Anstrengung korrumpiert wird, oder ob ein Teil des Verkehrs zwischen Versicherungsärzten und Patienten so stattfindet, daß letztere ihre Rezeptwunschzettel, Antibiotika, Tranquillizer, Schlaf- und Abführmittel usw. umfassend, bei der Ordinationshilfe abgeben, wobei der Doktor, den Krankenscheinlieferanten nicht zu verlieren, keinen der Wünsche abzulehnen wagt — der Virus ist der gleiche, und überall sucht er sich als System zu etablieren.

Alle Überlegungen hiezu bleiben Stückwerk, solang zu diesem Leiden keine Linnėsche Klassifikation mit ausreichender Nomenklatur erarbeitet sind. Unser Verdacht geht dahin, daß Korruptheit am besten auf dem Boden infektiöser Dummheit gedeiht. So sagen Pädagogen, eine Mutter, die ihr Kind mit Schokolade dorthin lockt, wo sie es haben will, korrumpiere das arme Wesen (und sich) bis in den Kern. Dabei tut die gute Frau einfach praktischen Sinns ohne Überlegung das Zunächstliegende, das Erfolg verspricht. So verhält es sich mit den meisten Dingen, von denen wir oben sprachen. Sie werden als Bastarde der Dummheit und Herzensträgheit geboren. Erstere ist ein Fluch, letztere eine Sünde wider den Geist. Der mächtige Schimpfer Leon Bloy und der zornige Analytiker Karl Kraus haben dazu kraftvolle Aussagen in die Menschheit gerufen. Die Antwort allerdings liegt bei uns (etwa, indem wir die Heftklammern oder Stecknadeln, die wie am Arbeitsplatz mitgehen ließen, getreulich zurücktragen), denn hinter uns kommt niemand als wieder wir selbst: im Spie.

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