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Moral - Zankapfel der Filmbewertung

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Der Verfasser der nachstehenden Ausführungen arbeitet seit Jahren als Autor und Berater in der deutschen Film-, Radio- und Fernsehproduktion mit. Dieser Sachkontakt gibt seiner Betrachtung ihre Konkretheit und macht sie zur anregenden Diskussionsbasis.

WORUM ES IM FOLGENDEN NICHT GEHT: nicht um die moralische Entrüstung über die moralische Entrüstung. Nicht um das hämische Vergnügen darüber, daß auch Experten Schnitzer unterlaufen. Nicht um den sophistischen Spaß, Sittenwächtern aus ihren eigenen Argumenten eine Schlinge zu knüpfen.

Das wirkliche Problem liegt auf einer anderen Ebene. Es wird deutlich in dem Streit, der zum Beispiel um Fellinis „Süßes Leben“, um Bergmans „Jungfrauenquelle“ und Viscontis „Rocco und seine Brüder“ entbrannt ist. Wenn man den kritischen Kommissionen ehrliches und ernstes Bemühen zubilligt, muß es nachdenklich stimmen, daß etwa dem Film „Das süße Leben“ von in und derselben Bewertungsinstanz zunächst jedes Prädikat abgesprochen, dann aber — in der Berufung — das „Besonders wertvoll“ zuerkannt wurde. Oder daß dier Film „Die Jungfrauenquelle“ einerseits wegen Verstoßes gegen die Sittlichkeit angeklagt, anderseits auf einem internationalen Festival als „hervorragender religiöser Film“ ausgezeichnet wurde.

Die Unsicherheit, die hier spürbar wird, ist zweifellos darin begründet, daß sich die angeschnittene Problematik selbst als vielschichtig erweist. Ein Film kann künstlerisch beachtlich und trotzdem unmoralisch, zersetzend sein. Oder er kann, trotz künstlerischer und menschlicher Qualitäten, so verschlüsselt anspruchsvoll sein, daß man im Hinblick auf die Breite des Publikums mit gefährlichen Mißverständnissen rechnen muß. Die Frage der „Altersgrenze“ — so wichtig sie sein mag — soll hier ausgesperrt bleiben. Sie berührt nicht den Kern des Problems. Auch interessiert in unserer Fragestellung nicht der Sonderfall, daß sich hier und da hochqualifizierte Filme „unlauterer Zugeständnisse“ an dien Publikumsgeschmack bedienen, um trotz ihres schweren Stoffes eine Breitenwirkung zu erreichen, die den Film finanziell absichert.

TRENNEN WIR VORLÄUFIG, um sauberer ermitteln zu können, die Frage nach der Moral oder Unmoral des Films „an sich“ von dem anderen Problemkomplex, der sich daraus ergibt, daß der Film ein „Massenmedium“ ist. Fragen wir also zunächst, wann ein Film ,,an sich“ odler „in sich“ unmoralisch ist. Kaum hat man diese Frage gestellt, so merkt man, daß sie so simpel nicht formuliert werden kann. Zumindest muß man drei Aspekte unterscheiden: den Stoff als solchen, die Tendenz der Aussage und die Darstellungsweise.

Es ist offenbar, daß ein Handlungsablauf nicht schon deswegen als verderblich abzulehnen ist, weil er sich mit einem Verbrechen befaßt. Sonst müßte man sogar die Bibel als unmoralische Buch bezeichnen.

Wie steht es mit der „Tendenz der Aussage“? Welche Maßstäbe sind hier anzuwenden? Auch hier ist schon die Formulierung der Frage verfänglich. Denn mit einem gewissen Unbehagen erinnert man sich sogleich an eine gewisse Abart von Pädagogen, die aus jedem Drama am liebsten eine Moralpredigt machen möchten. Damit soll nichts gegen den Sinn und die Notwendigkeit von Moralpredigten gesagt sein! Nur ist es nicht die Aufgabe eines Dramas, die Gesetzlichkeit des Gesetzes zu rechtfertigen. Man baut ja auch keine Kathedrale, um die Stilgesetze der Gotik am Exempel zu beweisen.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Es soll hier nicht dem Standpunkt ,,1'art pour l'art“ das Wort geredet werden. Wenn die Kunst Anteilnahme am lebendigen Leben, Engagement durch Deutung und Verdichtung, wecken will, läßt sich die Moral nicht aus ihrem Bezirk ausklammern. Einfach deshalb, weil sie nichts Aufgeklebtes ist: sondern Heils- und Unheilselement des Lebens selbst. Wer die Realität in den Griff bekommen will, unterstellt mit dem „wahr oder unwahr“, mit dem „richtig oder falsch“ auch in irgendeiner Weise ein „gut oder böse“. Ein „Verismus“, der glaubt, von jeder moralischen Wertung absehen zu können, wäre darum ein Widerspruch in sich selbst. Nur muß man, um der Wahrhaftigkeit willen, zugeben, daß die Moral in der Gestaltung eines dramatischen Stoffes auch dort zu ihrem Recht kommt, wo das schuldhaft oder irrtümlich Falsche sich selbst „ad absurdum“ führt. Auch ein düsteres Stück — ohne Held und ohne Vorbild — kann tief moralisch sein durch eine Art negativer Beweisführung, sofern das Entsetzen läutert und das Gewissen wachruft. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, daß manche „moralische Kritik“ zuweilen vorschnell dlazu neigt, von „nihilistischen Tendenzen“ zu reden, weil ihr nicht bewußt wird, daß auch ein „argumentum ad absurdum“ indirekt ein positives Ergebnis erzielt.

Der dritte moralische Aspekt wäre: die Darstellungsweise. Konkret — um Beispiele zu nennen, an denen sich erst unlängst die Gemüter entzündet haben — die Art, wie etwa eine Vergewaltigung oder ein Mord „ins Bild“ gesetzt wird. Zunächst: Sicher ist jede „isolierte Drastik“ abzulehnen, jede Drastik also, die, ohne vom Ablauf und der Deutung der Handlung ausreichend begründet zu sein, sich verselbständiiigt, exhibitionistisch zur Schau stellt und in Wahrheit die „Verdichtung“ des Stückes sprengt. Aber trotz dieser Einschränkung bleibt das Problem kompliziert. Es gibt Leute, die meinen, es genüge vollauf, sich mit Andeutungen zu begnügen. Man solle sich also jeder Drastik enthalten! Gegen diese Auffassung läßt sich jedoch mancherlei einwenden.

ERSTENS: ANDEUTUNGEN können unter Umständen verderblicher sein als bündige, krasse Klarheit.

Zweitens: Sowenig einer geistigen Disputation gedient ist mit verflachten Objektionen, die einen kaum verstehen lassen, wieso Jemand so einen Blödsinn vertreten kann, sowenig dient es der dramatischen Auseinandersetzung — und der Erkenntnis, die das Drama läutern soll! —, wenn die Versuchung zur Schuld, die Verlockung zum Irrweg, an denen sich die Handlung entflammt, verdummt und verdünnt wird. Es stimmt, daß die Schattenseiten des Lebens optisch und dramatisch leichter ,,etwas hergeben“.Darin hegt die Gefahr, wenn ein Stoff künstlerisch nicht voll bewältigt wird. Wer aber aus Furcht, die Sünde zu attraktiv zu zeigen, in das entgegengesetzte Extrem verfällt und die Versuchung schwindsüchtig macht, verhindert dadurch die „Ge-wissenserforschung“ des Zuschauers.

Drittens: Man kann in der drastischen Schilderung eines Verbrechens zwei wesentlich verschiedene Darstellungsweisen unterscheiden. Einerseits die schlechthin Entsetzen stiftende Drastik, die das Abscheuliche abschreckend deutlich macht. Anderseits jene Drastik, die unterschwellig mit sadistischer Wollust aufgeladen ist.

DIE „MASSE“ STELLT EIN NEUES MORALPROBLEM, weil etwa ein schwerer, dramatischer Stoff, dessen Gestaltung für den einen nicht nur wünschenswert, sondern notwendig wäre, den anderen überfordert, Mißverständnisse hervorruft und zu falschen Konsequenzen Anlaß geben kann. Denn nicht für jeden ist das gleiche nützlich und gut, wie schon jener gewitzte Kapuziner bemerkt hat, der predigte: „Wer nur zwei Maß Bier verträgt, aber drei trinkt, ist unmäßig. Wer vier Maß Bier verträgt, aber fünf trinkt, treibt Völlerei. Wer aber — wie ich! — von Gott die Gnade erhielt, acht Maß zu vertragen, und trotzdem nur sieben trinkt, ist maßvoll und tugendhaft!“ Oder, um einen respektablen Theologen wie Thomas von Aquin zu konsultieren: Das rechte Maß der Vernunft ist in vielen Bereichen nicht am Gegenstand allein abzulesen, sondern nur im klugen Vergleich zwischen dem Objekt und der subjektiven Aufnahmefähigkeit.

Der gute Regisseur wird sagen: „Es ist das Ende des Filmes als Kunstwerk, wenn ich nur solche Stoffe behandeln und gestalten darf, die jedermann süffig durch die Kehle gehen! Falls Lieschen Müllers Einfall zum entscheidenden Maßstab erklärt wird, falls nur erlaubt ist, was von niemandem mißverstanden werden könnte, dann laßt uns zum Kintopp und zur Klamotte zurückkehren! — Oder sollen wir schwere Filme nur in exklusiven Studios aufführen dürfen?'' Auch das wäre indirekter Selbstmord. Denn wie sollen sich solche Filme finanzieren lassen? —

Und der Zuschauer sagt: „Was ist gefährlicher: den Einfältigen zu überfordern oder den Wachen in seinen dringlichen Fragen schmoren zu lassen?“ Wir leben nun einmal in einer Welt, in der schwerste Probleme zum Massenschicksal geworden sind. Die Frage nach Recht und Pflicht zum Widerstand gegen die Autorität ist im Zeitalter der totalitären Staaten und der Kriegsverbrecherprozesse nicht mehr nur der Gewissenskonflikt einer Elite. Die Lebensformen der verengten, industrialisierten Welt werfen in Ehe, Familie und Erziehung Probleme auf, die einfacheren Kulturen fremd gewesen sind. (Die Beispiele ließen sich multiplizieren!) Schwierige Probleme aber können nur bis zu einem gewissen Grad vereinfacht werden. Man kann sie nicht „unmißverständlich“ gestalten. Und vor allem: Sie werden verfälscht, wenn man sie in einer „Schwarzweißmanier'' zu klären versucht. Es ist deswegen nicht nur Neugier und Willkür, wenn der fragende Geist nach den Antworten der großen und schweren Kunst sucht.

GENAUGENOMMEN SIND DIE FRAGEN, die heutzutage die moralische Bewertung eines Filmes aufwirft, nur Randerscheinungen einer Zwangslage, deren Gründe viel tiefer liegen. Es ist die geschichtliche Situation selbst, die mit schweren Problemen „überfordert“. Es ist die überreife und doch unbewältigte Zivilisation — fast wäre man versucht zu sagen: die Frühreife des Säkulums —, die den Menschen immer häufiger in Perplexkonflikte des Gewissens stößt. Es ist der Dschungel der unüberschaubaren Perfektion, der die moderne Kultur immer mehr zu einer Geheimwissenschaft macht und der Breite des Volkes entfremdet. Ein Gesetz, das in der Literatur, der Musik und der Malerei in gleicher Weise zu beobachten ist. — Es nützt wenig, darüber zu klagen. Vor allem aber gibt es kein „Zurück“. Es gibt nur die Flucht nach vorn. Eine Flucht allerdings, die nicht zur Ausflucht entarten darfl

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