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Sex und Politik

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Als ich einem unserer klügsten Kommentatoren sagte, daß ich über Sex und Politik schreiben wolle, warf er hin: „Wieso denn, das ist doch das gleiche...“ Nun, er liebt die Abkürzungen. Hier müssen wir doch noch etwas eingehender von dem Zusammenhang zwischen der Sexwelle und der Politik sprechen. Die Sexwelle hat inzwischen jeder zur Kenntnis genommen. Man kann die Augen wirklich nicht vor ihr schließen — daran hindert uns schon die Plakatsäule an der nächsten Straßenecke. So beschäftigt man sich denn auch mit dieser Welle in allen Tonarten. Seltsamerweise fragen sich aber die wenigsten, was dieser Tabu-Dammbruch politisch bedeutet. Daß er mit der Politik zu tun hat — darauf sollte eigentlich schon der zeitliche Ablauf hinweisen. Die Sexwelle läuft nämlich parallel mit dem Ausverkauf des bisher angesammelten politischen Potentials. Und da die Sexwelle ein Phänomen der gesamten westlichen Welt ist, muß man sagen, sie läuft parallel mit dem politischen Unsicherwerden des Westens.

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Als ich einem unserer klügsten Kommentatoren sagte, daß ich über Sex und Politik schreiben wolle, warf er hin: „Wieso denn, das ist doch das gleiche...“ Nun, er liebt die Abkürzungen. Hier müssen wir doch noch etwas eingehender von dem Zusammenhang zwischen der Sexwelle und der Politik sprechen. Die Sexwelle hat inzwischen jeder zur Kenntnis genommen. Man kann die Augen wirklich nicht vor ihr schließen — daran hindert uns schon die Plakatsäule an der nächsten Straßenecke. So beschäftigt man sich denn auch mit dieser Welle in allen Tonarten. Seltsamerweise fragen sich aber die wenigsten, was dieser Tabu-Dammbruch politisch bedeutet. Daß er mit der Politik zu tun hat — darauf sollte eigentlich schon der zeitliche Ablauf hinweisen. Die Sexwelle läuft nämlich parallel mit dem Ausverkauf des bisher angesammelten politischen Potentials. Und da die Sexwelle ein Phänomen der gesamten westlichen Welt ist, muß man sagen, sie läuft parallel mit dem politischen Unsicherwerden des Westens.

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In der deutschen Bundesrepublik setzte die Welle offiziell mit dem Schwedenfilm „Das Schweigen“ ein. Das klingt heute schon recht historisch, denn wegen der berühmten drei Szenen im „Schweigen“ würde sich heute niemand mehr ins Kino bemühen — die wirken jetzt geradezu keusch neben dem ersten vollausgeleuchteten Farbfilm-Koitus, den Kolle den Deutschen beschert hat. Für Kulturkritiker, die auf die sechziger Jahre zurückblicken, ist es ein beliebter Gag, zu zitieren, was vor einem Jahrzehnt noch unweigerlich den Staatsanwalt in Bewegung gesetzt hätte, heute aber bloß noch müdes Gähnen hervorruft. 1962 setzte in der deutschen Politik der erste Vorstoß der Kräfte ein, die sich den Ausverkauf der deutschen Politik zum Ziel gesetzt haben: Am Ende jenes Jahres erpreßte die FDP Adenauers Rücktrittsversprechen, dem der Steuermann ein Jahr später nachkommen mußte. Und nun setzte bei jenen Kräften nicht etwa der Versuch ein, der neuen Weltlage entsprechend zu reagieren — nein, sie bereiteten den Abmarsch aus der Realität in Utopie und Illusion vor, der dann 1969 in breiter Front vollzogen wurde.

Sex-Eskalation

Man kann dieses Parallellaufen von sexuellem Tabu-Abbau und politischem Realitätsverlust einen Zufall nennen. Daß es kein Zufall ist, daß die Sexwelle durchaus ein politisches Phänomen ist, erkennt man an der je nach Art des Regimes verschiedenen Ausformung der Sexwelle innerhalb der westlichen Welt. Als Tabu-Brecher liegen da bekanntlich sowohl quantitativ wie qualitativ skandinavische Länder, wie Dänemark und Schweden, an der Spitze — also Staaten, die de facto aus der Politik allenfalls noch durch sachfremde, nämlich nur moralische Stellungnahmen zu außenpolitischen Problemen auffallen. Daß die Länder des Sowjetblocks sich, am heutigen Status der westlichen Welt gemessen, wirklich puritanisch verhalten, ist bekannt. Sex ist dort gerade noch eine Waffe zur Korrumpierung von Besuchern aus dem Westen. Was der Bevölkerung an Sex offiziell zugestanden wird, in Publikationen und Veranstaltungen, würde bei uns nicht einmal mehr das Interesse eines Volksschülers wek-ken.

Die „permissive society“

Das in der Sexwelle vorgeschlagene Gesellschaftsmodell ist das der „permissive society“ — also der Gesellschaft, in der alles erlaubt ist. Das ist allerdings nur blumig-bildlich gemeint. In Wirklichkeit sind die Erlaubtheiten eng auf die Sexualsphäre begrenzt (womit man schon mitten in der Problematik einer solchen „permissiven Gesellschaft“ ist). Weder darf ich bei Rotlicht über die Straße gehen noch darf lieh sagen, daß ich Eskimos nicht leiden kann. Ich darf bloß nackt die Straße überqueren (vorausgesetzt, daß es „Kunst“ ist und die Ampel auf Grün steht).

Was hat es mit dieser roten Rübe der

„permissive society“ auf sich, die man dem westlichen Esel zwanzig Zentimeter vor die Nase hängt, damit er brav den Koexistenz-Karren zieht und sich nicht mehr zu politischen Reaktionen hinreißen läßt? Nun — alle Mittel der Meinungsbeeinflus-sung (die bekanntlich schon recht hübsch entwickelt sind) werden aufgeboten, damit der Zeitgenosse nicht merken soll, welch aufgelegter Schwindel die angebliche „Befreiung durch den Sex“ oder, bescheidener, „Befreiung des Sex“ ist.

Wer in der Politik die Fragestellung des Gegners übernimmt, ist schon halb verloren. Es gehört zur revolutionären Taktik, das noch nicht ganz hypnotisierte Kaninchen in Alternativen einzusperren, die gar keine sind.

Wer sich auf diese Alternativen einläßt, hat etwas recht Fragwürdiges zugestanden: daß man nämlich „frei“ sei, wenn man mit offenem Hosentürl rumläuft. Der Schreibende glaubt nicht prüde zu sein und über durchaus normale sexuelle Reaktionen zu verfügen. Er wendet sich gegen die Sexwelle nicht etwa aus Entrüstung oder weil er das Geschlechtliche für etwas Minderwertiges hielte. Im Gegenteil: in einer Zeit, in der uns die totale Organisation der industriellen Zivilisation immer lückenloser umspannt, ist die geschlechtliche Begegnung zweier Menschen eine der letzten Situationen, in denen der Mensch sich nicht genormt, nicht überwacht und nicht vorprogrammiert fühlt — kurz: in der er das Bewußtsein der Freiheit hat.

Sterilisierung des Sex

Das Pathos der „Befreiung“ ist es denn auch, das der Sexwelle ihren Schwung gibt. Man weiß jedoch aus anderen Lebensgebieten, wie sehr Vorsicht geboten ist, wenn man uns besonders eindringlich „Befreiung“ verspricht: Das ist oft der Auftakt zu noch größerer Versklavung. So ist auch die Sexwelle ein Großangriff auf einen der letzten Bereiche, in denen der Mensch noch frei ist. In der Sexwelle wird das Geschlecht sterilisiert und abgetötet. Diese Sterilisierung geht auf zwei Wegen vor sich. Zunächst einmal durch Abstraktion. Von allen Plakatwänden und Leinwänden, aus Bilderbüchern und Illustrierten strahlen uns mit allen technischen Mitteln zubereitete Paradestücke des anderen Geschlechts entgegen, die es in dieser Vollkommenheit in Wirklichkeit gar nicht gibt. Diese Abstraktionen rauben uns den Zugang zum Nächsten. Das ist nicht in dem tappig-materiellen Sinne gemeint, daß wir ihn nicht nur im Abbild haben, sondern ihn greifen können. Nichts gegen das Greifen: Ich halte nichts von denen, die mit verdrehten Augen „Eros“ vom „Sexus“ trennen und nicht sehen, daß es keinen Eros ohne Sexus gibt. Allerdings gibt es auch keinen Sexus ohne Eros. Der Nächste ist als Person für mich als Person da. In der Quantifizierung, die das so Qualitative und Persönliche des Geschlechts durch jene Abstraktionen erfährt, steckt etwas tief

Entwürdigendes. Ein Filmregisseur, der seine Frau möglichst ausgezogen zur Schau stellt (und zwar nicht nur auf der Leinwand, sondern auch privat), ist keineswegs ein „freier Mann“, sondern gar kein Mann.

Sind Tabus überflüssig?

„Jede ist für jeden da“ — damit ist nämlich auch schon der andere Weg der Sterilisierung des Geschlechtes genannt: das Geschlecht wird zur verfügbaren Ware erniedrigt — mit beigegebener Gebrauchsanweisung von Dr. Kolle. Die Gebrauchsanweisung möchte uns überzeugen, daß es nur der richtigen Technik bedürfe, um die Ware mit maximalem Genuß konsumieren zu können. Aber da <st es wie mit der Pornographie: sie wird bald fade. Das Geschlechtliche ist nun einmal nichts quantitativ Meßbares, das der Technik zugänglich wäre. Oder genauer: Das in der Geschlechtssphäre, das der Technik zugänglich ist, ist bloß das Substrat — lebendig wird es erst durch das Un meßbare, das hinzukommt. Und dieses Unmeßbare ist bisher durch die Tabus geschützt worden.

Ich will nicht verallgemeinernd das Lob der Tabus singen; es gibt manche, die man gern entbehrt. Aber im Verlauf der paar Jahrtausende menschlicher Kultur hat sich doch ein gewisser Grundbestand an wenig sich wandelnden Sexualtabus (die Wandlungen betrafen Äußerlich-lichkeiten) herausgebildet Und dieser Bestand hat die Menschen nicht, wie uns heute die professionellen Tabu-Verletzer glauben machen wollen, der Lust beraubt — sie haben diese Lust vielmehr geschützt und erhöht. Das sieht man ja schon an den Produkten des Sexualtabu-Bruchs in Serien, dem wir beiwohnen.

Es fängt schon bei der „Pille“ an. Bekanntlich soll sie die geschlechtliche Begegnung „von der Angst befreien“. Mehr und mehr Psychologen kommen aber zur Uberzeugung, daß sie schwere seelische Schäden verursacht und teüweise auch die rein physiologischen Funktionen beeinträchtigt. Das Endprodukt dieser

„Befreiung“ ist dann der Revolutionär, der am Mikrophon über seine sexuellen Schwierigkeiten jammert. Jean Cau, wohl der hellsichtigste jüngere französische Schriftsteller, hat diesen tc ialitären Zug in der Sexwelle genau gesehen. Er hat darüber in den „Nouvelles Litteraires“ einen aufsehenerregenden Essay: „Der pornographische Terror“, geschrieben. Als Motto setzte er über diesen Text: „Pornographen aller Länder, ich sage euch: wenn ihr im Menschen bloß das Tier weckt, so ist Auschwitz nicht ferne.“ Cau schreibt: „Unsere Städte sind Schlachterläden voll Frauenfleisch geworden. Das ist nicht einmal mehr chair — es ist viande. Und die Blicke konsumieren es...“

Was dahintersteckt

Eine sehr einseitige Politologie hat versucht, uns so zu dressieren, daß wir nur den für totalitär halten, der unter einer SA-Mütze daherkommt. Wie groß der Anteil dieser Demagogen unter den offiziellen Politologen ist, zeigt gerade die derzeitige Totalitarismus-Diskussion in den einschlägigen Fachzeitschriften.

Die Mehrheit der Herren schlägt vor, dieses böse Wort doch nicht mehr für den Kommunismus zu verwenden, sondern es für die Faschisten zu reservieren. Wir schlagen vor, den Begriff sogar auf den „weißen“ Bolschewismus auszudehnen, der durch unsere Konsumgesellschaft schleicht und auch hinter der Sexwelle steckt. Man soll nicht überall Verschwörungen wittern. Auch in diesem Falle ist es wohl so, daß Verschwörungen immer da sind, daß es aber darauf ankommt, ob sie beim vorgesehenen Opfer Ansatzpunkte finden. Die Ideologie, die hinter der Sexwelle steckt, ist schon seit vielen Jahrzehnten ein Bestandteil der linksradikalen Bewegung. Nach dieser Ideologie entsteht alle menschliche Unterdrük-kung aus dem Stau sexueller Leidenschaften, die sich nicht „ausleben“ können. Der „freie Mensch“ ist nach dieser Ideologie derjenige, der seine sexuellen Wünsche möglichst lük-kenlos befriedigt.

Falsche Freiheit

Wie sehr Sex und Politik zusammenhängen, mußten Gründerväter der deutschen Bundesrepublik schon bald nach 1945 feststellen, als von jener Ideologie befallene Dienststellen der amerikanischen Besatzungsmacht ihnen unter anderem die Frage stellten, in welchem Alter sie mit dem Geschlechtsverkehr begonnen hätten. Der bekannte bayrische Politiker, der eine solche Frage entrüstet als Eingriff in seine Privatsphäre zurückwies, wußte damals noch nicht, daß das als „Test“ für seine „demokratische“ Gesinnung gemeint war. Heute wird zwar viel von „Dialektik“ grredet, - wenige wagen auf die besondere Dialektik der Freiheit hinzuweisen, die darin besteht, daß auch kleinste Stückchen Freiheit mit einer Verpflichtung aufgewogen und gesichert werden muß. Wir lassen uns durch das Propagandagerede vom „repressiven“ Charakter unserer Gesellschaft verwirren. Es ist nun aber einmal kein Zusammenleben von Menschen ohne ein gewisses Maß an „Repression“, nämlich an Einschränkung der Willkür des einzelnen, möglich. Schon das Baby erleidet „Repression“, wenn ihm beigebracht wird, daß man nicht mitten in die Stube A-ä macht. Auf das Gebiet des Sexus angewendet: Eine Gesellschaft, die „nicht toleriert“, daß der Geschlechtsakt auf der Straße vollzogen wird, unterdrückt damit keineswegs das Geschlechtliche, sondern bewahrt es vor der Verschleuderung und Verekelung. Der Zeitgenosse tut gut daran, sich das besondere Verhalten der totalitären Regime gegenüber dem Sexus vor Augen zu halten: erst verwenden sie ihn in verfälschter Form als Angriffswaffe, nach ihrem Sieg würgen sie ihn bis zur Reduktion auf die bloßen biologischen Funktionen ab. Der Wohlstandsbürger, der sich — weniger aus Lust als aus Pflichtgefühl dem „Zeitgeist“ gegenüber — in die Sexwelle stürzt, befindet sich in einem der letzten Vorstadien zur blauen Ameise.

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