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Kapitalismus mit Schmutzkübeln

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108.207 Österreicher haben 1968 mit einem österreichischen Gericht als Verurteilte Bekanntschaft gemacht. Alle von ihnen auf Grund eines Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1852, auf dem auch die strafgesetzlichen Nebengesetze basieren. Manche dieser Österreicher wurden auf Grund von Paragraphen verurteilt, die nur deshalb noch im Strafgesetzbuch stehen, weil der Gesetzgeber zwar in Österreich seit 90 Jahren das Strafrecht reformieren will, sich aber dennoch nie zu einer Generalbereindgung durchringen konnte. Denn viele Tatbestände sind längst überholt, sind von gewandelten gesellschaftlichen Verhaltensweisen ad absurdum geführt, oder haben einfach ihre Berechtigung verloren.

Der neue Justizminister Dr. Broda will — so hat er angekündigt — einen Teil dieses Strafgeseitzes reformieren: jene Bestimmungen vor allem, die ihm, Dr. Broda, besonders unzeitgemäß erscheinen. So soll die Strafbarkeit der Homosexualität fallen. Dr. Broda kann sich dabei auf eine Reihe von ausländischen Beispielen berufen, zuletzt auch auf die Bundesrepublik, die erst kürzlich die Homosexualität für straffrei erklärte. Der Justizminister kann darüber hinaus auf zahlreiche Gutachten von Medizinern verweisen, die in der sexuellen Ab-artigkeit nicht eine kriminelle Neigung,, sondern einfach einen angeborenen Defekt erblicken, der den Homosexuellen vom Durchschnitt der Menschen unterscheidet. Der Justizminister hat vor, den Tatbestand des Ehebruchs nicht mehr unter eine Strafrechtssanktion zu stellen. Und auch hier kann er sich darauf berufen, daß eigentlich nur noch das österreichische Strafrecht diesen Tatbestand kennt. Auch meinen namhafte Juristen, daß der Strafrichter der letzte wäre, der die aus einem Ehebruch entstehenden Konsequenzen zu exekutieren hätte. Die im Gesetz vorgesehene Strafe von einem bis sechs Monaten wird einerseits eine Ehe nicht mehr sanieren, anderseits auch wieder die Menschen des Jahres 1970 nicht davon abhalten, mit diesem Paragraphen des Strafgesetzes in Konflikt zu kommen.

Der Justizminister will überdies — und für alle diese Vorhaben soll nach seiner Vorstellung der Klubzwang aufgehoben werden — einen Entwurf zur Erleichterung der Pornographie einbringen.

Nun wird es von einer oberflächlichen Presse geradezu als eiri Akt nachvollzogener Aufklärung betrachtet, dem Geschäft des Voyeurismus das Wort zu reden. Und wer trotzdem nicht nach der Pfeife dieser sich liberal gebärdenden Neomoral tanzt, wird als Hinterwäldler, Mucker und verklemmter Spießer abgestempelt. Freilich: was weiß der einfache Leser und Schreiber denn tatsächlich vom Tatbestand des Pornographiegesetzes in Österreich? Und warum soll strafbar sein, was anscheinend allgemein gefällt? Es ist keine Frage mehr: der Sex als neue Schau-Lust ist heute ein kulturgeschichtliches Phänomen, das nicht wegzuleugnen ist.

In New York vollziehen in einem der größten Broadway-Häuser, während des Musicals „Oh, Calcutta“, die Schauspieler den Beischlaf auf offener Bühne — und ernten zum Teil exzellente Kritiken für einen „ästhetischen Genuß des Intimen“ („Newsweek“); in Cannes wird bei den offiziellen Filmfestspielen in Breitwand und Technicolor ein Film gezeigt (und gelobt), durch den „der Liebesakt endlich salonfähig“ gemacht wurde (so eine Wiener Tageszeitung in ihrem Korrespondentenbericht); in den Bestsellern der letzten Jahre, etwa in Jen „Unersättlichen“, den „Playboys“, im „Tal der Puppen“ ergehen sich Berichte über den Geschlechtsakt in Worten, die weiland nur an Toilettenwänden standen. Und in einem auf uns noch zurollenden Bestseller aus Englang, „Mein geheimes Leben“ werden auf 2359 Seiten insgesamt 1200 Liebesakte beschrieben („Times“). Eine geschäftstüchtige Illustriertenpresse konfrontiert an jedem Zeitungsstand unsere Kinder mit dem nackten weiblichen (und auch männlichen) Körper. Das Nachtlokal hat seine Funktion verloren; denn auch das Fernsehen liefert in Spätabend-programmen bereits Strip-tease in jedes Haus.

Nun mag jedermann über diese Entwicklung seine persönliche Meinung haben: Geschichte und Wissenschaft liefern uns Beweise dafür, daß das eigentliche Sexualverhalten trotz allem normal blieb. Verhaltensforschungen haben schlüssig ergeben, daß die Sexflut nur Symptom eines Mangels an wahrer Befriedigung ist, die in „voyeuristische und exhibitionistische Pseudohypersexualität“ flüchtet, wie es Prof. Horst Richter, Leiter der Psychosomatischen Klinik an der Universität Gießen, bezeichnete.

Eine jahrhundertelange Tradition hat vor dem Intimbereich Tabus aufgestellt, die heute zu schwinden beginnen. Diese Kulturtradition entwickelte sich in Wellen: auf das eher strenge Mittelalter folgte die freizügige Renaissance, auf die Trostlosigkeit des harten 17. Jahrhunderts folgte eine freizügige, üppige Barockkultur, die das Spiel von Liebe und Sex mit Esp'rit zu spielen wußte. Und nach der Liberalität im Empire wurde das 19. Jahrhundert zu einer Zeit der ängstlichen Verhüllung, der „Verdrängung“, wie Sigmund Freud es später nannte.

So war es ziemlich klar, was Österreichs Strafgesetzbuch von anno 1852 in seinem 516 unter „unzüchtiger Handlung“ verstand. Klar freilich nur für den Zeitgenossen, unklar schon für die reiche juridische Literatur der späteren Zeit. Man versuchte, zwischen einer relativen und einer absoluten Unzüchtigkeit zü unterscheiden, Kunst und Wissenschaft auszunehmen und dem Gewohnheitsrecht einen breiten Spielraum zu lassen. Aber durchwegs haben die Urteile nach diesem Tatbestand wegen des weiten Ermessenspielraums, der dem Richter offenstand, Unbehagen ausgelöst; denn „unzüchtig“, so meint noch Österreichs Lehrbuch des Strafrechts (Prof. Rittler), sind eben auch Ovids „Ars amandi“, Boccaccios „Deca-merone“ und Egon Schieies meisterhafte Dirnenbilder. Nach dem zweiten Weltkrieg allerdings veranlaßte eine zunehmende Flut ausländischer Geschäftlichkeit das Parlament zur Verabschiedung des Pornographiegesetzes vom 31. März 1950. Und dieses Gesetz ist seither auch immer wieder Gegenstand der Polemik. Aber dieses Gesetz richtet sich nicht gegen den Voyeur, der sich zu Hause selbstgemachte pornographische Filme vor-Fortsetzunc; auf Seite 2

führt — es bedroht nur Händler, Verkäufer und Erzeuger solchen Schunds, die daraus Kapital schlagen.

Und darum geht es: soll derjenige, der mit dem wohl schmutzigsten Handel Geschäft macht, straffrei werden? Wird gerade eine sozialistische Regierung einem unkontrollierten Schmutzkübelkapitalismus Tür und Tor öffnen?

Eine wahre Industrie ergießt ihre Produkte über Europa, seit skandinavische Länder keine Pornographie-bestimmungen mehr kennen. Der Däne Jensen erzielt mehr Umsatz als jeder Buchverlag und exportiert für 105 Millionen Schilling. Leo Madsen, Eigentümer der „Scandinavian Pic-ture-Corporation“, verdient allein im Versand jährlioh rund 52 Millionen Schüling. Ein Pornoheft kostet ihn und seinesgleichen in der Herstellung rund 17 Schilling — verkauft wird es um 150 Schilling. In Deutschland wurden nach Behördenschätzungen im letzten Jahr Por-nograpbica um umgerechnet 3,5 Milliarden Schilling umgesetzt. Der in der Bundesrepublik dafür zuständige Staatsanwalt Dürr bezeichnet denn auch Pornographie als das „Geschäft des Jahrhunderts“. Die Pornozeitung „St. Pauli-Nachrichten“ startete vor einem Jahr mit einer Auflage von 25.000 Stück — heute verkauft der Eigentümer Helmut Rosenberg 495.000 Stück. Dem US-Verleger der pornographischen Wochenzeitung „Screw“ bringt sein Blatt im Jahr rund 25 Millionen Schilling. Und das Schmutzgewerbe, an dem sich Unter-weltsflguren ebenso satt verdienen wie skrupellose Banden, bewegt sich in den USA auf einem Umsatz von 5 Milliarden Schilling zu. Was eine Änderung der Pornographiebestimmungen im beabsichtigten Sinn also vor allem bedeuten würde, wäre nichts anderes als eine Legalisierung der schmutzigsten Publizistik und eines Milliardengeschäfts mit den niederen Instinkten.

Das heißt freilich nicht, daß das Pornographiegesetz nicht reformbedürftig ist: denn die Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet ist evident. Staatsanwälte schreiten ein, wenn in einem politischen Wochenmagazin ein nackter Busen erscheint, während die Illustrierten zur gleichen Zeit das gleiche oder mehr zeigen dürfen; ein Gericht muß einschreiten, wenn ein Fernsehfeuületon Ausschnitte aus Filmen bringt, die in jedem Kino zur Gänze gesehen werden können. Und Polizisten besetzen eine Ausstellung von halb-abstrakten Bildern, während gleichzeitig im „Theatron ero-ticon“ jede denkbare Freizügigkeit geboten wird.

Was müßte eine Reform also bringen?

• Endlich ein Ende der Rechtsunsicherheit: eine verständliche Klarstellung, wann ein Gericht wo einschreiten kann;

• eine Anpassung an das kulturelle Bewußtsein des Jahres 1970, das nicht mehr hinter jedem weggelegten Feigenblatt den Sturz in die Amoral zu sehen glaubt;

• Schutz aller jener, die Obszönitäten eben nicht sehen wollen — und vor allem der Kinder, bei denen nur zu leicht Fehlvorstellungen von Liebe und Ehe entstehen könnten;

• aber energische und rücksichtslose Maßnahmen gegen all jene, dir nur verdienen wollen, die mit Schund spekulieren und den Sexus — auf den niemand verzichten will — um Millionen verschachern.

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