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Ein merkwürdiges Brautgeschenk

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Ganz still und ohne ihren Großmut propagandistisch auszuwerten, hat die Gemeinde Wien vor einiger Zeit begonnen, durch die Standesämter jedem Brautpaar, das zum Aufgebot kommt, ein Buch als Brautgeschenk zu überreichen. „Verheiratet leben — Glücklicher leben. Ein Buch über die Ehe, über Erziehungsund Familienfragen und über die Kunst, in der Liebe glücklich zu sein.“ Als Autoren zeichnen: Dr. F. Fischer, Dr. G. Fischhof, Dr. A. Hitzen-berger, W. A. Oerley. Der Amtsführende Stadtrat Afritsch hat ein Vorwort geschrieben. Wir wollen nicht an der guten Absicht zweifeln. Und wir wollen es auch aussprechen: Es gibt noch gefährlichere Bücher über Liebe und Ehe, auch von einigen Autoren dieses Buches I Wäre es eine private Verlagsproduktion, könnte man es mit Stillschweigen übergehen. Da es aber von der Stadtverwaltung allen Brautleuten in die Hand gegeben wird, muß klar und deutlich gesagt werden: Dieses Buch ist eine unerhörte Provokation!

Oekonomische Fragen kann man vielleicht — wenigstens zum Teil — jenseits der Weltanschauung lösen. Die Probleme der Ehe nicht. Ehe ist nicht bloß eine juridische oder wirtschaftliche Gegebenheit, auch nicht bloß eine biologische Funktion wie die Begattung der Tiere. Sie ruft den ganzen Menschen, mit Seele und Leib, ihre Wurzeln reichen tief ins Metaphysische. Bei ihrer Betrachtung kommt es sehr darauf an, wie man über den Menschen denkt, über seinen Ursprung und sein Ziel, über sittliche Ordnung und sittliche Verantwortung. Ja für den Katholiken ist die Ehe eine zutiefst religiöse, gnadenhafte Wirklichkeit, ein großes Geheimnis in Christus. Wir Katholiken wollen und können es bei der Betrachtung der Ehe nicht billiger geben.

Der Stadtschulrat kann ohne weltanschauliche Hemmungen ein Rechenbuch für seine Schüler herausgeben. Wenn aber die Gemeinde Wien ein Lehrbuch über die Ehe für alle, Atheisten und Katholiken, herausgibt, muß es schiefgehen. Ja es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Gemeinde damit nicht ihre Aufgabe überschreitet. Jedenfalls lehnen wir Katholiken es ab, uns vom Standesamt Belehrungen über die Ehe geben zu lassen. Aber abgesehen von der Frage der Zuständigkeit: dieses Buch jedenfalls weisen wir entschieden zurück!

Die weltanschauliche Grundlage, auf der es aufbaut, ist krasser Materialismus. Nun wäre aber an sich für den Materialisten die höchste Autorität, auf die er sich ständig beruft, die Wissenschaft. Aber was wird hier als Wissenschaft vorgesetzt! Schon über den Ursprung der Ehe werden primitivste evolutionistische Theorien vertreten. Höher entwickelte Lebewesen, heißt es, „mögen es nun Tiere oder Menschen sein“, brauchen für die Aufzucht ihres Nachwuchses lange Zeit, während der sich die Geschlechtspartner aneinander gewöhnen; mit der Zeit wird eine Institution daraus. „Gegebenheit, Gewöhnung, Zweckmäßigkeit haben beim Menschen zu dem geführt, was wir heute Ehe nennen“ (S. 20). „Primitive Völker sehen in der Ausübung des Geschlechtsverkehrs — sei es im Rahmen einer Ehe, sei es außerehelich — bloß etwas Natürliches und nichts Unmoralisches“ (S. 25). Bei den mutterrechtlichen Völkern gibt es überhaupt nur geschlechtliche Promiskuität, die Frau ist jeder sexuellen Treue entbunden, sie hat alle Gewalt über das Kind, weil der Vater „immer ungewiß“ ist! Diese Theorien haben einmal Bachofen (im Jahre 1861!) und Morgan (1869!) aufgestellt, Bebel hat sie dann propagiert (1893!). Aber im Jahre 1955 sie nochmals aufzuwärmen vermag doch nur, wer verschlafen hat, daß inzwischen an Stelle phantasievoller Theorien exakte Forschungen bei den „Primitiven“ gemacht wurden; ihre Ergebnisse sprechen bekanntlich eine ganz andere Sprache.

Aber es geht in dem Buch um weittragende Dinge. Ebenfalls mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit umkleidet, zieht sich ein Axiom durch die Ausführungen: Der Trieb ist heilig! Unterdrückung des Triebes schädigt die Gesundheit! Eine Stelle aus vielen: „Aus der Unterdrückung des natürlichen Geschlechtstriebes entstehen in der Regel seelische Störungen, die unter Umständen die seelische und — in einem fortgeschrittenen Stadium — auch die körperliche Gesundheit schädigen können“ (S. 67). Bs ist reizvoll, dieser Behauptung eine Gegenstimme an die Seite zu stellen, die von derselben Dr. A. Hitzenberger stammt, die als eine Autorin dieses Buches zeichnet; bei der 1951 vom Frauen-Zentralkomitee der SPOe veranstalteten Enquete über Jugendprobleme hat sie wörtlich ausgeführt: „Nun war man in früheren Zeiten der Meinung, daß es besonders für den Knaben gesundheitsschädliche Folgen hätte, wenn er den Trieb ständig unterdrückt.

In der modernen Medizin ist man von dieser Meinung mehr oder weniger abgekommen, und ich stehe nicht an, zu behaupten, daß die Wahrscheinlichkeit schädlicher Folgen eines zu frühzeitigen Geschlechtsverkehrs viel größer sind als die schädlichen Folgen eines unterdrückten Triebes in diesen Jahren.“

In unserem Buch lesen wir, daß die voreheliche Enthaltsamkeit — noch vor fünfzig Jahren eine wichtige Ehevoraussetzung — „heute in vielen Kreisen als Mangel empfunden wird, und dies nicht ganz zu Unrecht. Denn...“ (es folgen eine Reihe Begründungen). „Heutzutage bestehen meist schon vor der Ehe länger-dauernde sexuelle Beziehungen zwischen den Ehepartnern. Dies hat den großen Vorteil, daß Temperamentverschiedenheiten rechtzeitig bekannt werden, usw. usw____“ (S. 151). Daß es vielleicht auch Nachteile haben könnte, wird schamvoll verschwiegen.

Dem Trieb muß man schon beim Kind freien Lauf lassen. „Selbstbefriedigung bei kleinen Kindern und Jugendlichen ist keine Krankheit und benötigt keinerlei Behandlung. Am besten ist es, sich möglichst wenig darum zu kümmern, außer vielleicht gelegentlich auf die relative Harmlosigkeit hinzuweisen, um so das Entstehen von Schuldgefühlen und unnötiger Beunruhigung im Kind bzw. Jugendlichen zu verhindern“ (S. 119).

Das Axiom von der unantastbaren Herrschaft des Triebes gilt auch in der Ehe. Aufbauend auf die Typologie von Gottschalk, wird der ruhige und der unruhige Typ unterschieden, die beide gleich häufig vorkommen. Der unruhige Typ sucht Abwechslung außerhalb der Ehe; er ist ein guter Ehepartner, „vorausgesetzt allerdings, daß man ihm die Möglichkeit sexueller Abwechslung läßt. Denn sonst wird er unruhig, zänkisch und unleidlich“. In einem solchen Fall ist „tolerierte sexuelle Untreue“ besser als der unbefriedigte Drang nach Abwechslung. Wie ein Hohn wird hinzugefügt, daß natürlich die „Vorzugsrechte, die die Gatten gegeneinander haben“, gewahrt bleiben müssen! (S. 147). Was hilft es gegenüber solchen Ausführungen, wenn in anderen Abschnitten gesagt wird, daß damit kein Freibrief für die Untreue gegeben sein soll?

Wir sind keine Manichäer. Wir wissen um die; Realität des Leibes und der Geschlechtlichkeit. Und um ihre positive Bedeutung. Wir wissen auch um die große Not so vieler Menschen in dieser sexualisierten Zeit, um dies vielen und schweren Ehekrisen, um die sexuelle Not auch mancher christlichen Ehe. Aber kann man dieser Not so begegnen? Wenn man in den Damm,der den Strom bändigt, auch nur kleine Breschen schlägt, wird bald das Land überflutet sein. Müßten wir nicht vielmehr alle helfen, wieder eine sittliche Lebensordnung zu verwirklichen, in die sich auch der Geschlechtstrieb einzuordnen hat? Müßte die Forderung nicht gerade dahin gehen, daß Enthaltsamkeit gelernt werden muß, ohne die es in und außer der Ehe nicht geht, Triebbeherrschung, ohne die eine gesunde Jugend und eine gesunde Ehe schlechthin unmöglich ist? Gerade darin besteht doch ein Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier, daß der Mensch über dem Trieb steht. Freilich ist das schwer einzusehen, wenn man den Menschen nicht an eine objektiv gültige, sittliche Norm gebunden sieht, sondern wenn Moral nur ein „menschliches Uebereinkommen“ (S. 115) ist, das allen Wandlungen der Völker und Zeiten unterworfen ist.

Wenn der Trieb nicht unterdrückt werden darf, wie schützt man sich vor unerwünschten Folgen? Das Buch, das sich wiederholt für die kinderreiche Familie ausspricht, preist anderseits als die große Errungenschaft des Menschen gegenüber dem Tier, daß er gelernt hat, den Zeuguugsakt „allein um der Lust willen auszuüben und Mittel und Wege entdeckt hat, die natürlichen Folgen dieser Vereinigung und die Zeugung von Kindern zu vermeiden“ (S. 17). Für die Schwangerschaftsverhütung wird schrankenlos Propaganda gemacht. Gegen die Abtreibung wird Stellung genommen; freilich nicht, weil sie Mord ist, sondern weil sie gesundheitsschädlich und gesetzlich verboten ist.

Nein! So geht es nicht! Das Buch ist, trotz alles Guten, das es aufzuweisen hat, nicht nur ein im Keim mißglückter Versuch. Es ist eine Herausforderung. Nicht bloß für den Katholiken. Hier geht es nicht mehr bloß um das christliche Eheideal. Hier geht es um die Prinzipien der natürlichen Gesellschaftsordnung. Es sei noch einmal gesagt: Wir wollen die gute Absicht nicht anzweifeln. Aber an diesem Buch kommt wieder zum Ausdruck, daß die materialistische Weltanschauung nicht aufbauen, sondern nur weiter zerstören kann. Dieses Buch als Lehrbuch in die Hände sämtlicher Brautleute zu legen, ist unverantwortlich.

Die Katholische Aktion hat vor wenigen Tagen in einer Vorsprache beim Bürgermeister der Stadt Wien ein Protestschreiben überreicht, in dem sie die sofortige Einstellung der Ausgabe durch die Standesämter fordert. Der Bürgermeister hat eine sofortige Ueberprüfung der Sache und eine baldige Stellungnahme zugesagt. Wir warten auf diese Stellungnahme und einen konsequenten Schritt der Stadtverwaltung.

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