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Das Familienproblem unserer Tage

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Novemberabend. Die Geschäfte sind eben geschlossen. Durch Nebel - und Dämmerung hasten die Menschen nach Hause. An einer Straßenüberquerung stehen ein paar junge Mädchen.. „Ich geh' jetzt schnell heim, dann komm' ich wieder.“ „Fein du, dann treffen wir uns beim. ..“ (Name eines Vergnügungslokals). Wieder die erste: „Daheim ist es so langweilig, brr!“ Die zweite: „Ich geh' überhaupt nur noch zum Essen und zum Schlafen heim.“ Da gibt der Schutzmann die Straßenüberquerung frei, sie eilen davon.

„Nur zum Essen und Schlafen.“ Familie ist hier nur noch Konsumtivgemeinschaft. Es ist immerhin bequem, wenn man an einem bestimmten Ort essen und schlafen kann. Beides ist heute nicht mehr selbstverständlich. Aber Familie ist nicht mehr Lebensgemeinschaft. Sie umfaßt nicht mehr mit seelischen Banden alle ihre Glieder. Und darum ist sie in Gefahr zu zerbrechen.

Im Sprechzimmer eines Seelsorgers. Eine junge Dame kommt, kaum 20 Jahre alt. „Hochwürden, Sie sollen mir eine Auskunft geben. Ich liebe einen Mann. Er ist zwar sdion verheiratet, aber seine Frau versteht ihn nicht. Er zerbricht einfach in dieser Ehe. Ist da die Kirche wirklich so hart, die Ehe zu verbieten?“ Durch einige Zwischenfragen wird festgestellt, daß eine kirchliche Heirat vorliegt. Der Wunsch kann nicht erfüllt werden. Der Priester sagt: „Gnädiges Fräulein, ich kenne Ihre Mutter. Sie haben eine gute Mutter. Haben Sie noch hie mit ihr darüber gesprochen?“ „Nein, das tu' ich auch nicht. Unsere Mutter hat uns überhaupt nie ein Wort darüber gesagt, wie man vom Mäddien zur Frau wird. Wir sind uns entfremdet. Da kann ich doch mit ihr darüber nicht reden.“

Die Familie ist nicht mehr Erziehungsgemeinschaft. In unseren alten Familien gab es ein traditionelles Wissen um Erziehung. Die Mutter vererbte es auf die Tochter. Es war ein einfaches Wissen, ja, es war vervollkommnungsfähig, aber doch im ganzen gut. Dann kamen neue Erziehungstheorien. Sie wurden verkündet, ehe sie erprobt waren. Sie machten, daß man das Alte vergaß. Und über das Neue war man sich unsicher, man kannte es noch nicht. Das Ergebnis ist: Man besitzt weder die Erbweisheit, noch das Neue; man kann nicht mehr erziehen. Eine Mutter sagte mir: „Ich fürchte mich vor meinen Kindern. Ich weiß nicht, wie ich sie erziehen soll.“ Die Erziehungsgemeinschaft ist aufgehoben.

Ein junger Musiker erzählt: „Bei uns zu Hause wird abends immer der Radioapparat eingeschaltet. Jede Familiengeselligkeit ist zugrunde gegangen. Dafür, daß ich mit der Violine abends spielen könnte, hat man kein Interesse. ,Mach doch kein Theater*, heißt es dann. ,Man kann doch einschalten.' So beherrschen Zeitung und Radio den abendlichen Familienraum. Wenn ich in alten Büchern lese, wie das im 19. Jahrhundert ganz anders war: Geselligkeit, Musik, Freunde, und alles das zu Hause, dann weiß ich, wie sehr wir verarmt sind.“

Was uns in diesem Bericht mit Wehmut erfüllt, ist: Die Familie hat also auch aufgehört, Kulturgemeinschaft 2u sein. Was gebildete, junge Mensch-n sehr an ihrer Familie hängen macht, ist mit dieses: Es herrscht in der Familie eine feine Atmosphäre, es ist alles von Anmut Übergossen, Licht, Bilder und Einrichtung sind aufeinander gestimmt, Geselligkeit und Heiterkeit, Musik und Spiel machen das Ganze zu einem Heim, zü dem der junge Mensch sich mit inniger Liebe hingezogen fühlt. Die Liebe, die er empfindet, drückt aus, daß dieses Lebensmilieu für ihn Vorbild charakter hat und so eine Seele zutiefst formt. Aber auch das ist uns also verlorengegangen. Familie als Kulturgemeinschaft besteht fast nicht mehr.

Ein Seelsorger berichtet, mir: „Ich habe mich vergangene Weihnachten bemüht, daß bei der Weihnachtsbescherung in den Familien das Weihnachtsevangelium gelesen und ein Weihnachtslied gesungen werde. Dabei kam ich darauf, daß es in meiner Stadtpfarre drei Familien gab, die dies sdion übten, drei! Das hat mich tief beeindruckt. Darauf versuchte ich festzustellen, in wieviel Familien die Eltern mit den Kindern zum Tisch des Herrn gingen. Das tat regelmäßig überhaupt keine; an solchen, die es hin und wieder taten, fanden sich etwa acht.“ Nach einer Pause: „Die Familie hat aufgehört, Glaubensgemeinschaft zu sein.“

Familie ist nicht mehr religiöse Gemeinschaft. Das bedeutet eine weitere Verarmung. Es gibt wohl ziemlich viele Familien, in denen die Eltern die Kinder anleiten, den Gottesdienst zu besuchen und zum Tisch des Herrn zu gehen. Aber das wird von den Kindern weithin mit Unlust aufgenommen. Der natürliche und selbstverständliche Zusammenhang aus der religiösen Lebensatmosphäre der Familie ist nicht mehr da. Diese religiöse Lebensatmosphäre ist eben selbst gesdiwunden. Und zudem wurden die Jugendlichen in den vergangenen Jahren angehalten, gegen alles Christliche in der Familie mißtrauisch und zurückhaltend zu sein.

Auf diese Weise sind wir den Weg abwärts gegangen: Familie sollte volle Lebensgemeinschaft sein, also Konsumtivgemeinschaft, Produktivgemeinschaft (wie auf dem Lande noch heute), Erziehungsgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, religiöse Gemeinschaft. Und übriggeblieben ist noch die Konsumtivgemeinschaft, da möblierte Zimmer mit Verpflegung. Das ist bitter. Und ausweglos zugleich. Denn m dieser Verfallsebene ist eine Besserung nicht möglich. Unter und hinter dieser sichtbaren Verfallslinie liegt nämlich eine unsichtbare, die die letzte Ursache der sichtbaren ist.

Welches ist nun diese tiefere und unsichtbare Verfallsebene? Ach, meine Freunde, die liegt darin, daß wir moderne Menschen getrennt haben Lost und Verantwortung, Gabe und Aufgabe, Guthaben und G u t s e i n. Und daß wir getrennt haben Entfalten und B e-schneiden, Lebensrecht und Lebenspflicht, Lebenshaltung und Lebensinhalt. Hier, in dieser durchaus metaphysischen Ebene ist der Zerfall vor sich gegangen und hat in der physischen Ebene die Zerstörung hervorgerufen. Eine Heilung kann nur bringen, wer die metaphysischen Ansatzpunkte zurechtrückt.

Wer Lust und Verantwortung in der Ehegemeinschaft trennt, Gabe und Aufgabe, der kann eine Familiengemeinschaft nicht mehr aufbauen, denn er hat den Vorbildcharakter verloren, den jeder Erzieher braucht: Eine Erziehungsgemeinschaft, eine religiöse Gemeinschaft läßt sich hierauf nicht mehr gründen. Und wer Entfalten und Besdineiden, Lebensrecht und Lebenspflicht trennt, der kann eine Kulturgemeinschaft nicht aufbauen. Kultur setzt Kraft des Wortes, Pflege voraus; ein einseitiges Entfesseln ist aber das Gegenteil von Pflege

Daß ich hierüber ein Wort setze, das •genannt werden muß: Individualismus, was ist er? Burckhardt definiert aus seiner großen Überschau geschichtlicher Dinge: Individualismus ist die Entfesselung aller Kräfte, auch der verderblichen. In dieser Begriffsumsdircibung kann einem beispielhaft klar werden, was gemeint ist. Und wie das Auseinanderfallen vor sich geht: Der Mensch soll sich entfalten, ja; seine Kräfte sollen frei werden, ja; aber kein Mensch ist ganz' gesund: Soll auch das Kranke entfaltet, das Verderbliche entfesselt werden? Hier, in dieser metaphysischen Hintergründigkeit beginnt der Zerfall. Den rechten Ansatzpunkt zum Aufbau hat nur der, der von vornherein sagt, kein Mensch ist ganz gesund, von außen bis innen und bis zum innersten.

Aus dieser Erkenntnis sind die Folgerungen zu ziehen. Die sittliche Aufgabe des Menschen ist dreifach: Entfalten, Bekämpfen, Verklären.

Zu entfalten ist jede gute Anlage; zu bekämpfen ist alles Ungesunde und Maßlose; aber durch Entfaltung und Kampf ist noch keine Harmonie entwickelt. So bleibt noch die dritte Aufgabe, die Harmonie herzustellen, dadurch dann die Gesamtpersönlichkeit eine Reife erhält, die von innen her ein Verklärungslicht über sie ergießt. Daß diese Verklärung ein Geschenk von oben, christlich ausgedrückt, Gnade sei, haben die besten Geister der Menschheit immer geglaubt.

Diese so gezeichnete sittliche Aufgabe muß der junge Mensch im Entwicklungsalter als Ziel ergreifen, das zu erreichen er mit besten Kräften sich bemüht. Hat er es in den Jahren der Reife auch nur halbwegs erreicht, dann sieht er in jedem Guthaben eine Verpflichtung, zuerst gut zu sein, in jeder Gabe sieht er hellsichtig die Aufgabe, und Lust kann er von Verantwortung nicht mehr trennen Er kennt das Naturgesetz, das in dem Wort ausgesprochen ist: Wer im Herbst will Früchte ernten, darf nicht im Frühjahr Blüten pflücken, um sie zu Kränzen zu winden. Die hintergründige Aufgabe ist gelöst, er kann die vordergründige in der Familie nun ebenfalls lösen.

Tritt ein so gezeichneter Mensch in die Ehe ein, so wird als innerstes Geheimnis der ehelichen Liebe die Ehrfurcht geweckt. Die Ehe ist hohe Aufgabe, das Kind bedeutet beglückende Verantwortung. Und nun kann die Erziehungsgemeinschaft wieder aufgebaut werden: Die Eltern haben für das Kind Vorbild-charakter und wecken in ihm die verehrende Liebe Die verehrende Liebe • aber ist entscheidend für erziehliche Beeinflussung, (n.jedem jungen Menschen wohnt ein Entfaltungsdrang. Wohin aber der Weg der Entfaltung geht, das weiß der junge Mensch selbst noch nicht genau. Tritt ihm ein verwirklichtes Vorbild seiner Anlagen und Entfaltungsmöglichkeiten vor Augen, dann ist ihm plötzlich lebendig und spontan, nicht aber reflex,* klar: Dahin geht mein Weg. In sein Herz kommt die verehrende Liebe zu dem anderen Menschen, der des Jugendlichen unbewußtes Ideal bereits verwirklicht hat. Und dieser andere Mensch kann nun den jungen Menschen erziehen, weil die verehrende Liebe des jüngeren alles als richtig empfindet, was der reife sagt, tut und ist. So wird von selbst die Erziehungsgemeinschaft wieder aufgebaut.

Und nicht minder gelingt es, die religiöse Gemeinschaft wieder herzustellen. Die verehrende Liebe schließt sich dem reifen, überlegenen Menschen eben schledit-hin auf. Daher sich die junge Seele auch auf dem Gebiet des Religiösen öffnet. Vorher war sie mit Mißtrauen erfüllt, hatte Beeinflussung und Aufsicht gewittert, hatte sich daher verschlossen. Nun aber hat die verehrende Liebe Schloß und Riegel der Herzenstüren gesprengt, unbewußt bildet sich die junge Seele nach dem Vorbild. Und wenn sich der reife Mensch zu ihr niederneigt und Worte der Klarheit und Lenkung spricht, so spürt sie: Der will mein angelegtes Bild entfalten, und folgt ihm willig und bewußt.

Aber auch die Kulturgemeinschaft wird wieder hergestellt. Ein Mensch, der sich selbst von innen nach außen aus der großen ethischen Grundidee geformt hat, hat sogar eine Strahlkraft auf die leblosen Dinge seiner Umgebung. Die Dinge um, ihn sind sauber geordnet. Die Dinge um ihn sind, wenn auch einfach, so doch gewählt. Er verwechselt nicht Kitsch mit Kunst. Er verwechselt nicht Technik mit Kultur. Er hat eben die, fast möchte ich sagen, traumhafte Sicherheit des harmonischen Menschen, die aus der im metaphysischen Raum gewonnenen Klarheit und Sicherheit von selbst erfließt, und, ist sie auf diesem hintergründigen Raum nicht gewonnen, mit keinem Mittel im vordergründigen Bereich gesichert werden kann. So schafft der gereifte Mensch um sich einen Raum der Kultur, in den er dann wieder jeden, der ihm in verehrender Liebe ergeben ist, hineinzieht.

Aber die Produktivgemeinschaft? Läßt sich auch die herstellen? Nun, das ist Sache der staatlichen Lenkung. Je mehr in städtischen Siedlungen die Wohnbauten aufgelockert und mit Gärten versehen würden, desto mehr würde wenigstens ein Teil der Produktivgemeinschaft wieder hergestellt. Daß dies bedeutungsvoll wäre, daran ist kein Zweifel. Unser Bestreben muß daher sein, die äußeren Ordnungen in dieser Richtung zu beeinflussen.

Somit ergibt sich: Die Auflösung der vollen Lebensgemeinschaft unserer Familien in eine bloße Konsumtivgemeinschaft kann aufgehalten werden. Sie kann dies, wenn auf dem hintergründigen Gebiet des personalen Seins zuerst die ethischen Grundaufgaben des Menschen gelöst werden. Geschieht dies, so läßt sich auf der vordergründigen sichtbaren Ebene fast die volle Lebensgemeinschaft der Familie wiederherstellen. Zur Komsumtivgemeinschaft tritt wieder Erziehungsgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, religiöse Gemeinschaft Und damit wird das Familienleben so reich, daß es wieder beglückend ist für Eltern und Kinder.

Aber, meine Freunde, vergeßt nicht: Z u-erst müssen wir Menschen sein, die die Fragen des innersten Sinnbereiches gelöst haben. Drum, wenn in diesen Tagen die Weih-naditsbotschaft wieder verkündet wird, dann frage dich, mein Bruder, hast du diese Fragen auf deinem Lebensgrund gelöst? Wenn ja, dann wird dir in zunehmendem Maße auch die Lösung aller an-* deren Fragen gelingen.

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