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Tiefe Wunden der Liebe

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Ist Scheidung eine Lösung? Frage an einen Priester, der sich vorsichtig, nicht nur aufgrund seiner Erfahrung, an die Antwort herantastet.

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Ist Scheidung eine Lösung? Frage an einen Priester, der sich vorsichtig, nicht nur aufgrund seiner Erfahrung, an die Antwort herantastet.

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Regina, Du meldest dich nach der Stunde hier bei mrr”, ruft der Religionsprofessor einer 14jährigen Schülerin zu. Häufiges Ermahnen nutzt nichts. Regina verhält sich auffällig, lenkt ihre Mitschüler ständig ab. Der sonst ruhige Pädagoge weiß keinen anderen Ausweg. Für den Moment ist die Situation gerettet. Regina schweigt, stört in den letzten 15 Minuten nicht mehr. Die Schüler verlassen den Raum, nur Regina steht provokant vor dem Professor:

„Regina, ich habe tausend Gründe, Dir eine Verwarnung auszusprechen und Deinem Klassenvorstand weiterzuleiten. Ich habe hundert Gründe, Dir eine schlechte Note zu verpassen. Kein Heft, kein Buch, negative Wiederholung...”

Der Gesichtsausdruck des Mädchens vermittelt den Eindruck: „Red nur, Du kannst mich mal!”

Der Lehrer setzt fort: „Ich habe einen Grund das nicht zu tun - die Liebe dessen, für den ich in dieser Klasse stehe - Jesus!” Plötzlich entspannt sich die Miene der Schülerin. Sichtlich überrascht, folgt sie den weiteren Äußerungen: „Ich glaube, Du wirst mit vielen Dingen zu Hause nicht fertig, und ...”

Die Schülerin unterbricht: „... da glauben Sie mir helfen zu können! Ich sag' Ihnen, das können sie . nicht.” Der Lehrer erwidert, selbst überrascht und geschockt: „Deshalb sage ich Dir's jetzt fürs Hirn, wenn Du es mit dem Herzen noch nicht glauben kannst. Wenn Du mich brauchst, bin ich da.” Die Unterredung endet, aber es bleibt so etwas wie überraschte Dankbarkeit auf beiden Seiten im Raum stehen.

Raumwechsel in der selben Pause. Der Religionslehrer spricht mit dem Klassenvorstand über Regina. Dieser erklärt, daß hier ein besonders schwieriger Fall vorliegt. Ein außergewöhnlich intelligentes Mädchen bleibt sich selbst überlassen. Eltern geschieden, Mutter berufstätig, ist vom ständigen Streit geprägt, der für die Eltern seinerzeit auf dem Tagesprogramm stand. Alles klar, denkt sich der Religionslehrer oder ...?

Keine Angst, es folgt jetzt keine psychologisch tiefgründige Analyse. Jeder Leser wird ähnliches aus seiner Umgebung zu erzählen wissen und doch am Ende in einer gewissen Resignation enden, „weil da eben nichts mehr zu machen ist”! Damit jedoch gibt sich dieser Artikel nicht zufrieden. Obwohl sich das Thema primär auf zwei Eheleute bezieht, die sich an einem bestimmten Punkt ihres Lebens ein Ja-Wort für ihr ganzes Leben geschenkt haben, betrifft das Ja-Wort oder das zurückgenommene Ja-Wort sekundär immer auch andere.

Häufig gibt es ein Gespräch mit einem katholischen Priester über Fragen der Ehe und Familie. Noch häufiger der Angriff gegen ihn: „Was hast Du schon zu diesem Thema zu sagen, Du bist doch selbst nicht verheiratet?” Der Seelsorger horcht auf und entdeckt hinter dem Angriff eine echte Suche nach Beantwortung der Frage, wie auch heute noch Ehe und Familie lebbar sind. Sein Gesprächspartner zeigt sich überrascht, weil der Seelsorger ihm zunächst nicht tausend Gegenargumente bringt, wie er sie vielleicht aus den klugen Büchern von Theologie und Moral gelernt hat.

Was weiss denn ein Pfarrer

Die Atmosphäre des Gespräches lockert sich, die Zuhörbereitschaft wächst. Die Zeit ist reif, da der Seelsorger anmerken kann, daß sich Ehefrauen und Ehemänner, Mütter und Väter bei ihm ausgeweint haben. Staunendes Anerkennen beim anderen. Weinen auch heute noch Männer und Frauen nicht nur für sich im stillen Kämmerlein, sondern bei einem „Pfarrer in der Kirche”?

Ein wirklicher Gesprächszugang öffnet sich. Der Seelsorger erzählt, ohne das Vertrauens- oder Beichtsiegel zu brechen. Manchmal ein wenig traurig muß er eingestehen, daß erst nach vollendeter Scheidung der eine Ehepartner bei ihm um Bat bittet, obwohl er doch schon früher für ihn dagewesen wäre. Er spricht von den zerbrochenen Kinderherzen, die es bei ihren Eltern hätten lernen können, durch Konfliktlösung zu Hause für ihre Lebensführung und -gestal-tung positiv geprägt zu werden. Stattdessen leben sie jetzt bei der Mutter, die im Scheidungsverfahren das Sorgerecht zugesprochen bekam, bei einem Besuchsrecht des Vaters an zwei Samstagen im Monat. Das macht Vater und Kinder fertig, weil...

Der mittlerweile ganz ruhig gewordene Gesprächspartner vollendet den Satz: „weil sich die Kinder vorkommen wie Besuchsattraktionen im Zoo, nicht wie Kinder, die vom Vater geliebt werden. So erging es mir.” An dieser Stelle bricht das Gespräch ab und es beginnt ein ehrliches Fragen, wie sich denn dieser Jesus und diese Kirche wirklich eine Ehe und Familie vorstellt?

„Ich halte es mit ihm nicht mehr aus, nichts als Schlagen und Schreien!” oder „Wer kann denn da mit ihr noch leben, wenn sie ihren Freund absolut nicht aufgeben will und die Kinder und mich vernachlässigt?” hört der Seelsorger immer

wieder, wenn Konfliktsituationen unter Eheleuten auftauchen. Sehr schnell ergibt sich dann die Forderung nach der Scheidung als einen Vorgang weg von jemandem und weg von einer außerordentlich gespannten Lebensatmosphäre. Dieses Nicht-mehr-Aushaltenkönnen hat viele Ursachen. Der letzten Entscheidung zur Scheidung liegt oft der berühmte Wassertropfen zugrunde, der das Faß zum Überlaufen bringt. Ob das nicht jeder andere, also nicht gerade ein katholischer Seelsorger sagen kann?

Folgt nun doch eine theologische Abhandlung über das Wesen der Ehe und Familie, eine theoretische Überlegung zu einem praktischen Thema? Ob eine wirkliche Besinnung auf das Wesentliche so beschrieben werden kann, bleibt dahingestellt. Aber eine Besinnung tut immer gut. Viel zu schnell wird heute viel zu viel und allzu oberflächlich geredet. Bei einem so schmerzlichen Geschehen, wie es eine Scheidung ist, braucht es aber ein besonnenes und besinnliches Wort, das Frucht inneren Nachdenkens, Abwägens

und auch guten Studiums darstellt.

Wer aus bewußt christlicher Sicht das Wesen von Ehe und Familie betrachtet, dem offenbart sich die wunderbare Schöpfung Gottes. „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie!” So beschreibt der alttestament-liche Schriftsteller im ersten Buch der Bibel dieses Wesen, wenn er mit dem auserwählten Volk Gottes unterdrückt im fremden Land lebt.

Sein Glaube an einen Schöpfer wendet sich ab vom Aberglauben, in dem die Geschöpfe göttliche Stellung einnehmen. Ein weiterer Schriftsteller entfaltet diese Gottebenbildlichkeit des Menschen als Mann und Frau wenn er sagt: „Deshalb verläßt der Mann Vater und Mutter, sie binden sich aneinander und werden ein Fleisch.” Die Gedanken dieses Gottes über die Ehe sind wahrlich keine Ideen von einem, der keine Ahnung hat, sondern der im tiefsten Sinne das Beste und Schönste für den Menschen will.

„Unerreichbares Ideal”, „Völlige Einschränkung meiner persönlichen Freiheit” heißt es oft angesichts der vielen zerbrechenden und zerbrochenen Ehen und des um sich greifenden Egoismus, der sich unter dem Deckmantel Selbstverwirklichung, ja sogar Entfaltung der persönlichen Freiheit kundtut.

Die Kraft bei Gott suchen

Der Christ gibt sich nicht zufrieden mit einer solchen Haltung, er sucht die Stärkungen für sich und seine Ehe zu nutzen, die Christus bereitstellt. Er gibt als menschgewordener Sohn des lebensspendenden Gottes menschliche Antworten. Allerdings trifft er den Nagel auf den Kopf, wenn er davon spricht: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe” (Joh 15,12). Erst dieses Liebesverständnis gibt den Schlüssel für eine vollkommene Freude: „Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die

Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.”

„Liebe ist nicht nur ein Wort, Liebe das sind Worte und Taten” singen die Jugendlichen aus ihrem Liederbuch. Und genau um diese Liebe geht es, die durch Christus in die Welt gekommen ist. Eine Liebe, die zur Freiheit fähig macht und sich in der Bindung manifestiert; eine Liebe, die Leiden und Kreuz nicht flieht, sondern dieses annehmend zu verwandeln vermag; eine Liebe, die zur Vergebung bereit ist und der Versuchung widersteht, bei passender Gelegenheit die „alte Geschichte wieder aufzuwärmen”.

Die Liebesgaben Gottes werden in Taufe und Firmung in unser Herz gelegt und durch die Eucharistie und Sündenvergebung immer neu wachgehalten. So gestärkt läßt sich eine Ehe und Familie auch heute noch leben, sie ist auf dem Glauben gegründet und nicht nur auf den Freundlichkeiten des Partners. Der Glaube wandelt nicht sich, sondern das Leben, die Freundlichkeiten sind dafür anfälliger.

Nur eine Notlösung

Wer von Scheidung spricht, kommt nicht an den Wunden vorbei, die dazu geführt haben. Es sind Wunden der Liebe. Ohne diese Liebe wäre keine Ehe zustandegekommen, ohne diese Liebe hätten Kinder das Licht in der Welt der Ehepartner nicht entdecken und keine Familie entstehen können. Bei katholisch geschlossener Ehe gilt die im Sakrament zugesagte Liebe Gottes immer, bleibt also eine Quelle zum Neuanfang. Staatlich vollzogene Scheidungen vermitteln jedoch oft den Eindruck einer Notlösung. Sie löst aber im tiefsten Sinne die wahren Nöte nicht, so bezeugen viele Betroffene.

Die tiefste Überzeugung des Verfassers geht davon aus, daß wirkliche Lösungen nicht am Ende einer aussichtslos erscheinenden Entwicklung anzusetzen sind. Die Hauptaufgabe liegt in der gründlichen Vorbereitung der Ehe, Liebeszeichen Gottes für die Partner, und der täglichen Erneuerung dieses Bundes. Eine christliche Ehe kennzeichnet sich nicht allein durch den Hochzeitstag, sondern durch jeden Tag, in dem diese Liebe gelebt werden will.

Die eingangs gestellt Frage mit einer anderen Frage abzuschließen bleibt ein Wagnis und bildet doch einen hoffnungsvollen Ausblick: Ob nicht eine Regina trotz der leidvollen Erfahrung zu Hause entdeckt, daß es auch andere Wege der Konfliktlösung gibt als eine Scheidung und diese vielleicht heilender sein könnten? Der Autor ist

Kaplan in St. Rochus in Wien

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