6578295-1951_03_03.jpg
Digital In Arbeit

Karl Renners religiöse Entwicklung

Werbung
Werbung
Werbung

Der folgenden Deutung liegen, was die Tatsachen anbelangt, die Lebenserinnerungen des verstorbenen Bundespräsidenten .An der Wende zweier Zeiten“ zugrunde, die im Danubia-Verlag, Wien 1946, herauskamen.

Renner kommt aus einer frommen und, zur Zeit seines „eisernen“ Großvaters, sehr reichen Bauernfamilie in Unter-Tannowitz bei Nikolsburg. Auch kinderreich war sie. Launig erzählt der Staatsmann, er Wüßte nicht, ob er das 17. oder 18. Kind seiner Eltern war; denn sein Zwillingsbruder starb, die Numerierung geriet in Unordnung und war nicht weiter interessant. Sein Vater übernahm die Großwirtschaft, aber auch den Weinhandel von den weinreichen Ausläufern der Pollauer Berge nach Nordmähren. Er war „zu unstet und leicht, die Mutter zu sanft und gütig“ (26). Die Bauernarbeit überließ er Knechten und Tag-löhnern. Den Ausfall nach dieser „schlampigen Wirtschaft“ schien zunächst der Weinhandel zu ersetzen. Aber das Bauernanwesen ging nieder. Immer mehr. Der Vater kam in Schulden, mußte stückweise verkaufen und Geld aufnehmen. Schließlich verlor die Familie auch das Vaterhaus. Die Eltern endeten im Armenhaus (182).

Niemand verachten Bauern so sehr als den abgewirtschafteten Nachbarn. Karl Renner versteht das. Aber die steigende Mißachtung der ehemals hochangesehenen Bauernfamilie traf den Jüngsten schwer, zumal der allmähliche Abstieg in seine Entwicklungsjahre fiel und ihm eine harte Jugend eintrug.

Das Kind Karl war fromm und gescheit. „Karl, du wirst einmal ein Pfarrer werden“, sagt der Mesner, der alte Morawek, zu ihm und bedauert, daß er das nicht mehr erleben werde (43). Daheim wurde gebetet. Der Vater prüfte sonntags beim Mittagessen, was der Pfarrer gepredigt hatte. Karls kindlicher Ehrgeiz bringt es in der Wiedergabe der Predigten so weit, daß er schließlich auf die Wäscherolle stieg und das in der Kirche Gehörte „schlecht und recht“ den Eltern und Geschwistern vortrug (62). Renner sieht später in der Religion der Bauern eine eminent soziale Macht. Sie führt „die einzelnen und getrennten Familien aus ihrer Isolierung heraus und macht sie zu einer seelischen Gemeinschaft“. Sie „erweckt das menschliche Gemeingefühl und steigert die seelische Erhebung“ (62). Sie zwingt, über alle Trübungen, Verwirrungen und Menschlichkeiten hinweg, Verdruß und altes Unrecht zu vergessen, „gleichsam wieder in den Zustand reiner Kindheit zurückzukehren und als Reiner unter Reinen die Gesellung mit den Mitmenschen wieder aufzunehmen“ (63). „Das ist die soziale Funktion von Beichte und Kommunion.“ Er selbst ging darum auch als armer Student in Nikolsburg — „nicht nur pflichtgemäß, sondern weil ich selbst fromm war“ — zu den Sakramenten und drang auch auf einen Kameraden ein, sich ernst auf die Beichte vorzubereiten, was dieser ihm freilich übel gedankt hat. Er verlor sein Quartier (123 f.). Nachträglich halb erheiternd, aber als Ganzes erschütternd, ist es, wie er sich, plötzlich obdachlos geworden, in eine Höhle des „Heiligen Berges“ von Nikolsburg zurückzog und mangels Tinte und Papier in seinem Studentengebetbuch „Deus lux, laetitia et salus mea“ am Beichtspiegel mit dem Saft grüner Grashalme die Sünden anstrich, die ihn betrafen.

Woher kam nun die Krise seiner Religiosität?

Sie kam nicht vom Ortspfarrer Pei-gerle, der ein tüchtiger, handfester Seelsorger und Wirtschafter war, wenn er auch bis genau um Mitternacht mit den Dorfgrößen im Gasthaus Karten spielte und jeden möglichen Einwand gegen sein Leben mit dem drastischen Worte umlegte: „Geliebte in Christo! Richtet euch nicht nach meinen Taten, sondern nach meinen Worten, denn das Wort ist von Gott, wir aber sind alle bloß sündige Menschen“ (61). Renner nimmt ihm nachträglich auch ein Wort nicht übel, das ihn im Augenblick schwer getroffen hat. Als er mit seinem Vater vor der Aufnahmsprüfung am Tor des Gymnasiums wartete, fuhr unverhofft der Pfarrer auf einem eleganten Zeugl mit sieben Söhnen reicher Tannöwitzer Bauern vor und rief erstaunt aus: „Was will denn dem Renner-Matz seiner da?“ (79.) Zuerst tief verletzt, auch um seines verarmten Vaters willen, entschuldigt er den Pfarrer damit, daß seine Verwunderung lediglich aus der Sorge kam, woher der Bub des abgehausten Bauern das Geld zum Studium hernehmen werde (80).

Auch seinem Religionslehrer, dem Piaristen P. Paul, widmet er Worte der Pietät. Mit Kameraden, die später Priester wurden, darunter Professor Doktor Wolfgang Pauker (Klosterneuburg), scheint er zeitlebens in Fühlung geblieben zu sein (155, 174). Das üppige Leben einer Nikolsburger Bürgerfamilie, mit der er als Hauslehrer ihres Tunichtguts zu Tische saß, empfand er, der oft Hunger litt und das Schicksal seiner Brüder vor sich sah, als „Sünde“ (139).

Ja selbst die Unsicherheit, die ihn durch seinen verehrten Physiklehrer, einem begeisterten Darwinisten, überkam und die kühne und eben darum dem Jungen richtig imponierende Behauptung se'ines Lehrers der philosophischen Propädeutik — es war der später bekannte Universitätsprofessor Wilhelm Jerusalem — der die Seele als nicht erwiesen und problematisch hinstellte (152), hätte er wohl überstanden, zumal sein verehrter P. Paul „viel zu anständig war, um (die Kollegen) zu denunzieren“ und sich redlich bemühte, in den Religionsstunden des Obergymnasiums das Kirchendogma gegen die Widerstände aus profanen Fächern durchzusetzen (153).

Woher kam also die Krise?

Es ist Gemeingut der Jugendpsychologen, daß um das 17. oder 18. Lebensjahr alle ungelösten und unlösbaren Fragen der Reifejahre sich zu einer Stärke steigern können, die eine, wenigstens vorläufige Entscheidung erzwingt. Die Zweifel, die Renner aus dem Unterricht seiner verehrtesten Lehrer kamen, dazu — das hat nach allem den entscheidenden Anstoß gegeben — das hartnäckige Bestehen eines Beichtvaters auf einer ausführlichen Vollständigkeit des Bekenntnisses in Sachen des sechsten Gebotes, eines Bekenntnisses, das er „reuig und zerknirscht“ abgelegt hatte (158), stießen ihn in Grübeleien über die Richtigkeit seines Glaubens. Es ist bezeichnend für den späteren Soziologen, daß ihm die Kirche „als moralische Anstalt“ nicht fraglich wurde, aber ihr Wesen ging ihm nicht auf. So folgert er: „Wenn alle kirchlichen Gebräuche nur Mittel sind, Unwissende zu lenken, Schwache zu stützen, Gefallene aufzurichten, Widerstrebende zu beugen und so die Gesellschaft in Zucht und Ordnung zu halten, was bleibt übrig von dem, was hinter diesem Äußerlichen steckt, von dem Gottesglauben selbst?“ (159.) Diese Frage hätte ihn ebenso in die Tiefe führen können, wie sie ihn auf eine falsche Fährte geführt hat. Vielleicht darf man dazu auch sagen, daß diese Frage wohl einen jungen Zweifler überfällt, daß aber die vorhergehenden Konzessionen dem späteren Staatsmanne mehr zu Gesichte stehen als einem jungen Menschen, der immer Individualist ist. Dem im Schwärm für seine Lehrer Befangenen sieht es schon eher gleich, daß er, nachdem er die schmalen Leitfäden des Gymnasiums berochen hat, fragt: „Gibt es ein höchstes Wesen? Warum offenbart es sich den Menschen nicht in reineren Formen (!), warum benützt es nicht die Stimme der Wissenschaft als Mittel der Offenbarung,'warum setzt es sich zu ihr in Widerspruch?“ (159.) Und er will sich unter dem Eindruck von Lessings „Nathan“ aus allen Religionen eine geläuterte bilden, in der die Formen nur Symbole des ewig Unbegreiflichen sind und in der die Kluft zwischen Wissenschaft und Religion überbrückt ist. In der die drei Ringe Nathans zu einem verschmolzen sind. Er wird fast krank vor Grübelei. Kameraden, die ihre Pubeszenz leichter nahmen, rissen ihn wieder ins nüchterne Leben. So will er die Stiftung dieser neuen Religion auf spätere Lebensjahre vertagen (160). Aber die religiösen Fragen wichen bald — philologischen (!) Interessen (174).

Das religiöse Erbe aus seiner Familie hätte sich sicher gegen alle Krisen durchgesetzt. Aber gerade das Schicksal seiner Familie stürzte ihn in ein Dunkel, aus dem er religiös aufs tiefste verwundet herausstieg: „Das kann nicht gerecht sein! Kann das alles ein gütiger Vater im Himmel zulassen? Wie haben das meine Brüder und Schwestern, wie haben das meine Eltern verdient? War nicht der Vater ein frommer, ehrlicher Mann, bei aller Fahrigkeit eifrig, klug und weiterfahren? War nicht meine Mutter ein Engel, ein wahrer Engel an Herzensgute, e'ne Dulderin, deren Mutterherz mehr als sieben Schwerter durchbohrt haben?“ (147 f.)

So wurde dem jungen Menschen gerade der Gedanke an den Glauben seines Vaterhauses zum zentralen Glaubenszweifel, um so verhängnisvoller, weil er seine Eltern verehrte und liebte und weil er, das unschuldige Opfer, diesen Niederbruch jahrelang durchlitt.

Man wundert sich zunächst über die Primitivität dieser Fragen und Zweifel. Renner ist sicher nicht allein schuld, daß seine Religion nur in der paganen Vorstellung eines Vaters im Himmel stecken blieb, zu dem man betet, daß er uns zu Willen sei und den man verläßt, wenn das Gebet unerhört bleibt. Diese Religiosität und ihr Gottesbild genügt Ungezählten und zerbricht nicht immer so gründlich und eigentlich selbstverständlich wie in unserem Falle. Die Unter- und Hintergründe des Christentums: Sünde, Buße, Erlösung, Sinn des Leides und das wehe- und doch allein erlösende Bruder-tum mit dem, der am Kreuz für uns gestorben ist, bleiben dieser Religiosität verborgen. Jedenfalls scheint niemand dem ehrlich ringenden Karl zur Seite auf, der ihn aus der platten Befangenheit seines jungen Herzens herausriß.

Von außen besehen, ist die Sachlage ja höchst einfach und hat mit Religion so gut wie nichts zu tun: Sein Vater übernahm ein großes Anwesen, eines der größten im Dorf. Durch seine verfehlte Wirtschaft und durch Schicksalsschläge, die auch andere trafen und die s i e überstanden hatten, ging das Erbe des .eisernen“ Großvaters zugrunde. Daß Karl Renner, der seine Eltem tief liebte, nach Gründen für ihr Unglück sucht, ehrt ihn. Aber auch nach seiner Schilderung ist es klar, wo die Ursachen des Zusammenbruchs lagen; sie wurden schon genannt. Ja, Renner hat noch Bauernblut genug, um sich zur bäuerlichen Moral zu bekennen, die nüchtern ist wie der ganze Stand, dem man, was Haus und Hof anbelangt, nichts vormachen kann. „Diese Vernachlässigung des Ackerbaues (durch seinen Vater, der sich auf den Weinhandel verlegt hatte) wurde von allen Nachbarn, zumal sie ja vom Handel wenig verstanden und Handelsgewinne ebensosehr mieden als verachteten, mißbilligt. Es gibt kein La-

ster, das unser Bauer so hart verurteilt hätte als schlampige Wirtschaft in Haus und Feld, keine Tugend, die er so hoch schätzen würde als Fleiß und Ordnung im Hause.“ (26.) Der Konjunktiv dieses Bekenntnisses ist nicht nur stilistisch, er ist auch sachlich nicht am Platz. Da liegt es. Aber die Verarmung und die steigende Mißachtung und Geringschätzung seiner Familie war für Renner ein qualvoll durchlebtes, jahrelanges Leid und nicht eine kühle Zurkenntnisnahme wirtschaftlicher Gesetzlichkeiten.

Nichts spricht für die Echtheit seiner religiösen Unsicherheiten so sehr wie die Angst, die ihn befiel, als er merkte, er sei nicht mehr so gläubig, wie er es als Kind gewesen, da er betend auf dem täglichen Schulweg von Tannowitz nach dem eine Stunde entfernten Nikolsburg regelmäßig einem betenden jüdischen Hausierer begegnete, der durch Handel mit altem Kram und Hasenfellen seine fünf Kinder ernähren mußte. „Mit einem Male wurde mir bewußt, daß ich den Kinderglauben verloren hatte, daß eine ganze geistige Welt in mir versunken war. und eine unendliche Bangigkeit bemächtigte sich meines Herzens, das von-nun an in dem Wirrsal der auf meine Jugend einstürmenden Ideen, in der bevorstehenden Drangsal des Lebens die tröstende Zuflucht eines persönlichen Gottes nicht mehr haben sollte, welche mir bisher über viele schwierige Stunden . hinweggeholfen hatte.“ (159.) In der Angst, die nach der Maturafeier den Einsamen überfiel (175), stand er vor dem „Nichts“, das mehr war als das Ausgestoßensein aus seinem Dorf und Vaterhaus.

Der gefeierte Musterschüler und Maturant wurde sich auf einmal klar, daß sein humanistischer Bildungsgang das bisherige Leben wie in einen Traum gehüllt hatte. Er bricht in eine Anklage gegen die gymnasiale Bildung aus (184 f.), die er später wieder zurücknimmt (208). Das Leben, sagte er sich, ist anders. Das ist Hunger, ist Arbeit, ist Wirtschaft, das Wissen schien ihm auf einmal allein wichtig, das der wirtschaftlichen Sicherung des Lebens diente. Mit diesem Traum und als ein Teil dieser Jugend versank allmählich auch seine wie er meinte, lebensfremde Welt der Religiosität in das Wesenlose. Auch ihre sittlichen Forderungen. Das wundert zunächst, da Renner zeitlebens als Soziologe einen gesunden Sinn für die Notwendigkeit der geselligen Ordnung hatte. Angewidert, wie er berichtet, durch das liederliche Treiben seiner Kameraden an der Universität, der „studierenden Bour-geo'siesöhnchen“, und ihr Luderleben — „Libertinismus und Promiskuität“ — und im Gegensatz zu ihnen, wollte wenigstens er, der Zwanzigjährige, seiner Luise die Treue halten, erklärte sie vor seinen Kommilitonen als seine Frau und die „staatskirchliche Zeremonie der Eheschließung als Farce“ (213). Erst 1896 trägt er die kirchliche Trauung in der Pfarre Unter den Weißgerbern“ (Wien, 3. Bezirk) nach, wie er selber erzählt, unter dem Druck des bürgerlichen Mar . kels und, um ein Hindernis für sein Fortkommen zu beseitigen, „ohne alle Form und Festlichkeit, auch ohne sonderliche Seelenbewegung“ (295), „als eine Selbstverständlichkeit, die eben bei der ersten schicklichen Gelegenheit zu erledigen war“l Der Akt hatte für ihn keine sakramentale Bedeutung, war die Sicherung der bürgerlichen Achtung. Weiter nichts.

Entscheidend für seine weitere Entwicklung, und nicht nur die religiöse, war die Freundschaft mit Rohrauer, dem Gründer der „Naturfreunde“. Rohrauers Leben und seine Bewegung standen „gegen das sogenannte Lumpenproletariat“ auf, das den kargen Wochenlohn am Sonntag versoff. Sozialismus müßte Sache der anständigen und tüchtigen Arbeiter werden. „Gott muß man suchen auf den Gipfeln der Berge, draußen in der weiten Natur unter dem Himmelsdom, in seinem Äther und nicht hinter Weihrauchwolken.“ (248.) Mit diesem Freunde tastet sich Renner vorsichtig in die Arbeiterschaft und an die Sozialdemokratie heran. Auch dafür war das Schicksal seiner Familie, vor allem seiner deklassierten Brüder mitbestimmend. Eine Auseinandersetzung mit dem weltanschaulichen Marxismus wird nicht genannt. Von dem Standort des jungen Sozialisten fehlten dazu wohl auch die Voraussetzungen. In die Geschichte ist Renner eingegangen als ein Sozialist von überlegter, sachlicher Haltung gegenüber allem, was wert und wirklich ist. Dazu zählte er zweifellos auch die Religion. Macht in seinem Leben war sie ihm nicht.

Die Hetze vieler seiner Parteifreunde gegen Religion und Kirche machte er nicht mit. Wie weit er sie ablehnte, wissen wir nicht. Obgleich seine politische Tätigkeit in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fiel, blieb er weltanschaulich durch seine bürgerlichen Lehrer dem 19. Jahrhundert verpflichtet. Religion war ihm in dieser Zeit „Privatsache“, von der man am besten keinen Gebrauch macht.

Daß die Religion an den Sozialismus selbst eine Frage hat, ja die entscheidende Existenzfrage haben wird, ist ihm augenscheinlich nie aufgegangen. Ist das zu verwundern, wo Sozialisten, die halb so alt sind wie Renner, das noch nicht ahnen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung