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Besuch bei Theodor Heuß

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Der Wagen fährt an zerstörten Häusern und an schönen Neubauten vorbei. Die einen mahnen an die Schrecken des Krieges, die der alten Universitätsstadt Bonn besonders übel mitgespielt haben; die anderen bezeugen die unverwüstliche Kraft eines arbeitsfrohen, tüchtigen Volkes, dem auch die härtesten Prüfungen und die schlimmsten politischen Verirrungen auf die Dauer weder den Wohlstand noch den Wirklichkeitssinn zu rauben vermögen. Wiedergewonnenen Wohlstand atmet die heutige Bundeshauptstadt mit ihren stillen vornehmen Villenvierteln, wie einst Sitz soliden Reichtums, mit ihren Regierungspalästen und mit Geschäften, deren Auslagen Ueberfluß am Notwendigen samt erfreulichem Zusatz an Ueberflüssigem •verraten. Gesunder Wirklichkeitssinn spricht aus den Meinungen, denen man wenigstens bei den Maßgebenden an höchster verantwortlicher Stelle und beim Kleinen Mann von der Straße begegnet. Der böse Zauber, der vordem sein Unwesen getrieben bat, der Deutschland und mit ihm Europa in Not und Leid stürzte, umgarnt nicht mehr die Mächtigen oder die an sich machtlosen Massen, die den schlimmen Hirten ins Verderben folgten. Er hat sich in Verstecke und Hinterhalte zurückgezogen. Die schimmernde Wehr, der Talmiglanz, die falsche Romantik haben ihre Anziehung verloren; kein Rattenfänger, kein Trommler lodet die verführten Kinder einer bösen Zeit in die Wasser des Rheins.

Ruhig gleitet der erhabene Strom dahin. Auf ihn blickt das nüchtern-sachliche Heim der Volksvertretung; er fließt vorbei an der in edler Schlichtheit eindrucksamen Residenz des Bundespräsidenten. Zu ihr lenkt der Weg des Besuchers aus Oesterreich. Die liebenswürdige Einladung zum Mittagessen im engsten Kreise ist vom Gelehrten an den Wissenschafter, vom Schriftsteller an den Berufsgenossen ergangen. Doch der Gast bleibt sich nicht nur der hohen Ehre dankbar bewußt, die für ihn dieses Beisammensein bedeutet, sondern auch der Wichtigkeit, die jeder Aeußerung, die der Person Professor Theodor Heuß’ zukommt; dem eben in seinem Amt bestätigten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik, dem höchsten, dem gültigsten und dem liebenswertesten Repräsentanten des neuen Deutschlands.

Wenn je, so sind der Stil, in dem der deutsche Bundespräsident lebt und waltet, und seine Erscheinung ein Spiegel der heutigen demokratischen, durchgeistigten europäischen Wirklichkeit des großen Nachbarstaates; einer Wirklichkeit, die in manchem Sinne zunächst Postulat und Vorbild günstiges Omen. Theodor Heuß bietet ja weder den Politikern und Diplomaten noch der breiten Oeffentlichkeit ein schwieriges, geheimnisvolles Rätsel. Man kennt ihn aus seinen Schriften, denen des Soziologen, des Historikers und des Publizisten, dann aus seinen zahlreichen Reden, die aus einem

Hetze zu rächenden Befreiungskriegen. Ach, Professor Heuß ist ein gar guter Lehrmeister seines Volkes und vor allem der Jugend!

Da halte ich nun an der Schwelle seines Amtssitzes im Hause Kaiser-Friedrich-Straße Nr. 16. Die Einfahrt zum Ehrenhof hütet darstellt, die jedoch durch ihr bloßes Vorhandensein bereits eine gewaltige Errungenschaft verkörpert. Daß dieser kluge, von bezaubernder Heiterkeit erfüllte Denker und Deuter, daß der schlichte und trotzdem so würdevolle schöne Greis, der an sich der Voraussetzungen zur lärmenden Popularität entbehrte, binnen wenigen Jahren eine allgemeine und unbestrittene Volkstümlichkeit erlangen konnte, ist für Deutschland ein Segen und für Europa, für die Welt ein profunden allseitigen Wissen und aus einem nicht minder tiefen Gewissen schöpfen. Völkerverständigung, Freiheit und Selbstzucht, soziale Gerechtigkeit waren und sind die Leitmotive seines Aufrufes an die deutsche Nation. Am Erbe der Antike und von einem wahrhaft christlichen Ethos genährt, einen jeder überheblichen Angriffslust baren Patriotismus predigend, ist diese Mahnung zum Befreiungsfrieden heilsamer als grimmige ein einziger Schupomann; nichts von Garden oder Sonderformationen ist zu entdecken. Ein Torwart in Zivil weist den Besucher in ein Wartezimmer, und dort begrüßt den Gast nach wenigen Sekunden der getreue Adlatus des Staatsoberhaupts, Ministerialdirigent Bott, ein gemütlicher Alemanne. Von Zeremoniell ist nicht viel zu spüren. Man erscheint im Straßenanzug. Und aus dem Warteraum hat man die Aussicht auf blankweiße Wäsche, die drunten in einem Seitenhof zum Trocknen hängt. Ueber einen freundlichen Gang schreiten wir einem kleinen Zimmer zu, in dem zwei Sekretärinnen fleißig auf der Maschine schreiben. Herr Bott klopft an, und ehe man sich’s versieht, stehe ich dem deutschen Bundespräsidenten in dessen Arbeitskabinett gegenüber. Ein Scherzwort Professor Heuß’ schafft sofort eine zwanglose, anheimelnde Atmosphäre. Nach wenigen Sätzen fordert der Hausherr auf, durch den Garten in seine Privatwohnung zu wandern. Es regnet. Ein Diener, wiederum ohne Livree, bringt zwei Regenschirme, und so hasten wir dem schützenden Dach der „Villa Hammer- schmidt“ zu. Der Aufzug bringt uns in Jen ersten Stock. Hier eine Flucht mit erlesenem Geschmack zumeist modern eingerichteter Räume, von denen aus eine herrliche Fernsicht über den Rhein zu den diesen umhegenden Hügeln schweift. Der Präsident führt uns in sein Bibliothekszimmer. „Das ist noch nicht recht geordnet“, äußert er mit koketter Bescheidenheit denn die Regale machen den Eindruck musterhafter Pflege. „Ich weiß gar nicht, was da alles herumsteht.“ „Nun, Herr Bundespräsident, ich sehe da zum Beispiel die vier Bände des neuen Brockhaus.“ „Ja, da ist mein erstes Konversationslexikon. Früher war ich zu sparsam, mir eines zu kaufen. Jetzt hat man mir dieses vom Verlag geschenkt.“ Professor Heuß ist überhaupt auf seine Behutsamkeit in Gelddingen sehr stolz.

Beim Mittagessen, das in einem hübschen Speisezimmer gereicht wird — von einem Hausmädchen und beileibe nicht von Lakaien —, wimmelt es von Anekdoten, die den Bundespräsidenten teils in Auseinandersetzung mit den leidigen Notwendigkeiten des Protokolls, teils mit den nicht minder heiklen finanziellen Angelegenheiten, doch auch als aufmerksamen Freund und Beobachter der Wissenschaften und der Literatur, als Bekenner eines lebendigen Christentums und als werbenden Hüter der Eintracht zwischen den religiösen Gemeinschaften zeigen. Meist sind mehrere dieser Motive anmutig miteinander verknüpft. „Da schreibt mir eines Tages der Abt von X., den ich einmal besucht hatte, er baue seine Kirche wieder auf und er wolle dabei fünf Glasfenster malen lassen. Diese sollen dem Papst, Nuntius Much, dem Diözesanbischof, Adenauer und… mir gelten. Ich fühle mich sehr geehrt, in so illustrer und frommer Gesellschaft, zumal als Protestant, als einziger meiner Konfession. Doch ich bin vorsichtig und ich sage dem hochwürdigen Herrn: ,Einverstanden, aber was soll das kosten?’. Antwort: Nichts, es ist uns ein Vergnügen. Das kann ich nun wieder nicht annehmen. Glücklicherweise kommt mein siebzigster Geburtstag. Die Herren von der Industrie waren so nett und stellten mir einen Betrag von so und soviel Mark für Zwecke zur Verfügung, die ich auszuwählen hätte. Da habe ich denn dem Abt eine entsprechende Summe überwiesen."

Eine zweite Geschichte. ,.O, mein LehrJahr als Bundespräsident! Anfangs haben es die Herren vom Protokoll mit mir schwer gehabt. Da halte ich eine Gedenkrede auf Ebert; sie wird gedruckt. Ich denke mir, das wird vielleicht Renner interessieren, der damals mein österreichischer Kollege war und der Ebert gut gekannt hatte. Ich stecke also die Rede in ein Kuvert und schicke sie als Drucksache nach Wien durch die Post; Kostenpunkt vier Pfennig. Nach einigen Tagen meldet sich der österreichische Vertreter bei mir zur Audienz. Er drückt mir feierlich in aller Form den Dank des Bundespräsidenten Renner für das diesem übersandte Geschenk aus. Kaum ist der Diplomat weg, bestürmen mich meine Herren mit Fragen, was er wollte. Und da habe ich erfahren, daß sich das gar nicht gehört. Ich hätte die Schrift mit einem schönen offiziellen Brief im Kurialstil auf sehr kompliziertem Weg nach Wien senden müssen. Nun, cs ist auch anders gegangen.“

Eine ähnliche Schwäche wie für katholische Kirchenwürdenträger hegt Professor Heuß auch für Oesterreicher. Eben erst hat er in einer meisterhaften Rede bei einer Gedächtnisfeier für Hofmannsthal dessen Werk gepriesen. Wir haben Ursache, dem feinsinnigen Gelehrten zu danken, daß er auch als Bundespräsident so einfühlsam und so wahr die Gestalt des großen österreichischen Dichters geschildert hat. Dieses Bildnis weitete sich zu dem eines Volkes und seiner Sonderart, seiner europäischen Berufung, seiner geschichtlichen und kulturellen Verbundenheit mit den Sprachgenossen im befreundeten Nachbarstaat.

„War Ihr Botschafter mit meiner Rede zufrieden?“ fragt der deutsche Bundespräsident. Ich kann darauf noch keinen Bescheid geben, denn ich werde den Botschafter erst einige Stunden später treffen; doch ich darf nach meiner aufrichtigen Ueber-zeugung versichern, es wäre ein schlechtes Zeugnis für unsern Vertreter, wäre er nicht voller Bewunderung für jene Worte des Begreifens und des liebevollen Verstehens, deren Kern ich schon in den Zeitungen gelesen hatte. Und Botschafter Rotter hat mir bald darauf sein Entzücken über Heuß’ oratorisches Kunstwerk spontan ausgedrückt. Das Gespräch am Mittagstisch des deutschen Staatsoberhaupts bestätigt den Eindruck, der durch die Rede über Hofmannsthal ausgelöst wird: Professor Fleuß hat aus der klarsten, umfänglichsten Einsicht die rechte Ansicht über Oesterreich und über dessen Verhältnis zu Deutschland, zu Europa geschöpft. Wie vorzüglich kennt er die Literatur unseres Landes. Ob er von Karl Kraus spricht oder von Robert Musil, von Broch oder von Wildgans, immer wieder verblüffen geradezu die Vertrautheit mit allen Einzelheiten, das grundgescheite Urteil.

Sentiment und nicht Ressentiment, Aktion und nicht Reaktion, das wäre etwa als Motto der Gesinnung zu nennen, die Professor Heuß wie im Verhältnis zu Oesterreich, so auch in dem zu allen Nachbarn Deutschlands und zur Politik gegenüber Europa, gegenüber der Welt bekundet. Sentiment und keineswegs bloße, kalte — und darum tödliche — Staatsräson; denn geschichtlich und organisch erwachsene Gefühle lassen sich nicht durch rein wirtschaftliche oder machtpolitische Erwägungen zum Schweigen bringen; Aktion und keine träge Passivität, denn auch im Dasein der Völker fällt dem Untätigen nichts in den Schoß: diese beiden Elemente einer deutschen Außenpolitik scheint der Bundespräsident für ebenso wichtig zu halten wie den Verzicht auf törichte und unbillige Rachegelüste oder wie das Zurückstreben zu durch die Zeit überholten „früheren Verhältnissen“. Die Bestrebungen, zu einer europäischen Einigung zu gelangen, die abendländische, auf antiker und christlicher Grundlage ruhende Gesittung zu bewahren, haben an Professor Heuß einen überzeugten Anhänger und einen auf höchstem Posten diskret wirkenden Sachwalter. Doch er betrachtet es gleichermaßen als erwünscht, nach Osten hin den durch keinerlei Leidenschaft verblendeten Blick zu wenden und hier nach jeder Möglichkeit auszuspähen, die unserem Erdteil und der Welt einen langen Frieden, einen echten und aufrichtigen Frieden bescherte.

Allerdings einen, der einem wiedervereinten Deutschland gestattet, bei sich seinen eigenen Gesetzen, und nur diesen, zu gehorchen; freilich nicht ohne dann und dort, wo es nötig ist, auf Beispiel und guten Rat von außen zu hören. Vielleicht kann da die reizende Geschichte als anwendbares Symbol dienen, die mir der Bundespräsident von seinem sechsjährigen Enkelkind erzählte. Die Kleine sollte, schön demokratisch, in die Volksschule gehen. Tränen und Protest. „Warum willst du denn nicht in die Volksschule?“ „Folgen muß ich ja zu Hause schon; ich möchte aber in eine Lern schule geschickt werden.“ Das Kind, noch unbekannt mit der Rechtschreibung, fürchtete, in eine „Folgschule“ zu kommen… Das neue Deutschland zählt zwar schon neun Jahre, es verspürt indessen wenig Neigung, in eine Folgschule zu gehen. Man soll es davon überzeugen, wie nützlich ihm eine Volksschule, ein gründlicher Unterricht in der Demokratie ist. Zumal, wenn er aufs angenehmste und gewandteste von Lehrmeistern erteilt wird wie Theodor Heuß.

Mit diesen Gedanken verlasse ich das gastliche Präsidentenhaus. Wiederum ohne jedes Zeremoniell. Nur der einsame Schupo sieht freundlich-neugierig dem abrollendcn Auto nach …

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