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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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ÖSTERREICH IN SCHWARZWEISSROT? Das Aultreten Deutscher im Auslande war im Eingang des Sommers Gegenstand einer Aussprache im Bonner Bundestag. Ein führender Abgeordneter einer Regierungspartei gab anläßlich der Beschwerden, die da erhoben wurden, eine Erklärung ab, die es an Deutlichkeit nicht fehlen ließ. Die Presse in Oesterreich vermerkte damals ausführlich diese Debatte. Inzwischen ist es, lange schon, Zeit geworden, vor der eigenen Türe zu kehren. Das Verhalten von Oesterreichern im Auslande läßt bisweilen zu wünschen übrig, besonders, wenn wir von diesem Verhalten durch ausländische Zeitungsberichte oder auch durch inländische Gerichtssaalnotizen Kenntnis nehmen müssen. In Wien wurde soeben eine Ehrenbeleidigungsklage verhandelt, in der das Verhalten einer Gruppe von Turnern des „Oesterreichischen Turnerbundes" und seiner Funktionäre auf dem Turnerfest in Hamburg im August des Vorjahres Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Ein Funktionär soll dort „einen Erguß über sein nur deutsch fühlendes Herz" vorgetragen haben, eine Turnergruppe soll, nach mehrfachen Zeugenaussagen, an der Spitze eine deutsche Fahne geführt haben. Die Vertreter der Betroffenen, die aber hier als Kläger auftreten, meinen: die Turner hätten auch zwei österreichische Fahnen mitgetragen . .. Beckmessereien? Am Rande des neuen Europa? Kleinliche Schildbürgerstücke? Mitnichten. Wir erinnern uns an jenes Breslauer Turnfest, das einen denkwürdigen Auftakt für die nationalsozialistischen Massenkundgebungen in der „befreiten Ostmark" bot, und uns klingen noch in den Ohren die Kommersreden beim Passauer Studententag vor kaum Jahresfrist, bei dem sehr größsprechende „alte Herren" aus Oesterreich ihr Bekenntnis zur „Schicksalsgemeinschaft" des „einzigen Vaterlandes Deutschland" ablegten. Unsere Grenzen stehen offen. Jedermann kann sie passieren. Wer aber zurückkehrt nach Oesterreich, soll sich klar darüber sein, wessen Brot er ißt, welchen Landes Staatsbürgerschaft er auf sich nimmt. Schlicht deutsch: zu welcher Farbe er sich bekennt.

WARUM EINFACH. WENN ES AUCH KOMPLIZIERT GEHT … Und so ist es denn auch gar nicht einfach, bei einem österreichischen Amt „erforderlichenfalls" nachzuweisen, daß man „Derselbige" ist. Aeltere Semester werden sich' noch" erinnern, daß die ersten „Identitätskarten" nach 1934, gegen gebührende Legitimation versteht sich, ausgegeben wurden. Dann mußten 1938 reichsdeütsche Pässe im vollsten Sinn des Wortes „erstanden" werden. Es folgten ihnen neue „Kennkarten", diese schon luxuriöser ausgestattet als ihre bescheidenen österreichischen Vorgänger — mit Lichtbild und Daumen- abdruck. (Auf diesem Gebiet gibt es immer Fortschritte.) Auch daß man einen „Wehrpaß" haben mußte, wird noch allzu vielen in Erinnerung sein — sein individueller Wert hing ganz von geheimnisvollen Chiffren ab, besonders beliebt war das Zeichen „a. v.". Die Wiederherstellung des österreichischen Staates gab diesem Verwaltungszweig neuen Auftrieb. Man mußte einen roten Ausweis für den Zwischenzonenverkehr, hernach eine viersprachige „Identitätskarte" und natürlich einen neuen österreichischen Reisepaß erwerben, was sich nachträglich recht harmlos anhört. Eine ganz stattliche Leistung für eine einzige Generation. Voraussetzung für die Verleihung eines Reisepasses war die Vorlage eines ganz neu geschaffenen „Auszuges aus der Heimatrolle", der immerhin ein Dokument von eindrucksamem Aussehen war. Am Rande sei vermerkt, daß man bei .allen diesen Opfergängen eine Bestätigung nach dem Verbotsgesetz beibringen mußte, die beileibe nicht zu bejahrt sein durfte, um sich gegen die vermeintlichen Nachteile einer immerhin möglichen Zugehörigkeit zur NSDAP zu schützen. Damit glaubte Herr Oesterreicher für den Staat und sein System der Arbeitsbeschaffung für den Rest seines Lebens genug getan zu haben. Weit gefehlt. Nun sollte — mitten in der Reisezeit — ein neuer Reisepaß nur mehr ausgegeben werden, wenn man vorher einen ganz neuen Nachweis erbringt, für den der stattliche, aber leider kurzlebige Auszug aus der Heimatrolle nicht ausreicht. Denn dieser Auszug besagt ja nur, so erfährt man, daß jemand „am 13. März 1938" österreichischer Staatsbürger war — was allerdings von Anfang an feststand. Und so haben sich die Oesterreicher vor den Amtstüren neuerlich zu Bataillonen formiert, zahlten Stempel und Gebühren, um den 781 ten Ausweis ihres Lebens zu erwerben. In letzter Minute, als sich die Massen vor der Magistratsabteilung 61 stauten, kam Gegenordre: Gnadenfrist bis Ende September. Produktivität, Produktivität…

DER FALL MONTESI hat sich in Jahresfrist zu einem Gerichtsfall entwickelt, der, weit über Italien hinaus, Schwäche und Stärke des europäischen Westens zeigt. Die innere Schwäche führender Gesellschaftskreise des europäischen Westens tritt hier sichtbar ans Tageslicht: eine Korruption, die ihren Ausdruck nicht allein in Orgien, Rauschgiftaffären und schmutzigen Geldgeschäften, sondern vielmehr in dem hemmungslosen Drang nach „Leben" findet. Eine führende Gesellschaftsgruppe, die einen großen Teil der Macht, des Geldes und des Einflusses besitzt, ist nicht mehr bereit, die dazugehörige Verantwortung zu tragen; sie ist zudem käuflich und mit Verrätern aller Art durchsetzt. Das ist eine internationale Erscheinung — keineswegs auf Italien beschränkt, wie die Flucht zweier führender englischer Diplomaten, Angehörige eben dieser Kreise, nach dem Osten vor zwei Jahren bewies. Illusionen über den Wurm im stolzen Schiff Europa sind also nicht mehr gestattet. Und nun die andere Seite. Nur in der freien Welt ist es möglich geworden, daß eine Regierung, wie hier die Regierung Scelba, eine gerichtliche Untersuchung durchführen läßt, die, wie der Fall Montesi, ihre führenden Männer selbst belasten mußte — traf sie auch persönlich keine Schuld, da der Außenminister, ein Mann von hohen sittlichen und fachlichen Qualitäten, nichts mit der möglichen Schuld seines Sohnes zu tun hat, und da der Ministerpräsident Scelba, der zur Zeit der ersten Niederschlagung des Verfahrens Innenminister war, nunmehr als Ministerpräsident alles tut, um den Sumpf aufzudecken. Dieser Mut zur Wahrheit — die immer eine bittere Wahrheit ist — ist ein Aktivum, das der Osten nicht besitzt und das keine „geschlossene Welt" besitzen kann, weil eine solche ihn gar nicht als einen Aktivposten einzuschätzen vermag. Dieser Mut zur Wahrheit ist die Voraussetzung einer gesellschaftlichen und politischen Wiedergeburt in Europa; in diesem Sinne darf der Prozeß Montesi als eines der echtesten Zeichen einer Konsolidierung Europas nach der trüben Nachkriegszeit ab 1945 gesehen werden.

ER WAR KEIN FREUND ALT-ÖSTERREICHS, er war auch uns Katholiken nicht eben zugetan, der Professor Thomas Garrigue Masaryk, schon als er als Abgeordneter der „Realistenpartei" im Parlament der alten Monarchie saß. Aber er war ein Mann, dessen Name weiterleben wird als einer jener, die versuchten, dem platonischen Ideal des „herrschenden Weisen" im zwanzigsten Jahrhundert nahezukommen. In seinem Scheitern angesichts der politischen Chaotik im Donauraum nach 1918, die er als Präsident der demokratischen Tschechoslowakei vergebens zu meistern versuchte, erfüllt sich zugleich eine immer wiederkehrende Tragödie, jene des Intellektuellen, des Philosophen am Schaltbrett der Macht. Der Ausblick auf das Werk und Leben dieses mit siebenundachtzig Jahren verstorbenen Mannes, der knapp vor seinem Tode die Zügel der Regierung in die verhängnisvollen Hände seines langjährigen Mitarbeiters Dr. Benesch gelegt hatte, ist dem heutigen Menschen des Donauraums von allen Seiten durch schier unüberwindlich hohe Berge verstellt. Für die Deutschen heißen diese aufgetürmten Berge: 1918, 1939, 1945. Zwischen ihnen und dem Humanisten auf dem Hradschin, dem letzten Nachfahren böhmisch-mährischer Brüdergemeinden, fließen die Ströme von Blut seit den Schüssen von Kaaden über die Metzelei von Lidice bis zu den Qualen der Austreibung. Man kann von ihnen nicht mehr als eine gemessene, kühle Hochachtung für die untadelige Persönlichkeit dieses großen Tschechen verlangen, der in einer schicksalsschweren Stunde den Mut besaß, um der Wahrheit willen dem aufgeputschten Nationalismus seiner eigenen Landsleute unbeugsam entgegenzutreten, der aber während seiner Regierungsjahre diese Haltung strengster Objektivität auch seinen Freunden gegenüber leider nicht einnahm. Selbst dieser Ausblick aber ist seinen Landsleuten heute durch die offizielle Prager Regierung versperrt. Sein Name darf nicht mehr genannt werden, er wird verantwortlich gemacht, daß sich die Tschechoslowakei von 1918 in ihrer politischen Orientierung dem liberalen Westen und nicht dem allein seligmachenden Mütterchen Rußland zugewendet hat. In geheimen Flugblättern mußten seine Anhänger an seinem jüngsten Todestag zu einer Demonstration des Schweigens und des Boykotts öffentlicher Lustbarkeiten aufrufen… Für jene wenigen aber, die auch im böhmischen Raum Humanisten und Europäer geblieben sind, die sich frei hielten vom Sog und Wirbel des Nationalismus, ist sein Andenken rein und frei von der tagesbedingten Beschmutzung der neueren Geschichte geblieben, als das eines seiner Maxime, „Die Wahrheit siegt", gehorchenden europäischen Geistes, dem sein Eintreten für die Verfolgten einen Ehrenplatz sichert. „Ein Weilchen werd’ ich euch noch zuschauen", hatte der Greis gesagt, als er 1935 zurücktrat. „Vidi, to čumiš!"(„Nicht wahr, da guckst du!"), hatte ein bitterer Spötter in den Jahren der tschechischen Tragödie nach 1939 unter sein Bild gekritzelt.

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