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Stunde Null plus X

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Vor 30 Jahren erhob sich Österreich aus Trümmern und Asche. Aber dieses Österreich, das sich damals, im Frühling 1945, neu konstituierte, sah in mancher Beziehung anders aus, als es sich die jungen Idealisten des Widerstandes gegen Hitler vorgestellt hatten. Zu einer „Bewegung“ wurde der Widerstand ohnehin erst nach dem Krieg ernannt. Solange der Krieg dauerte, operierten die oppositionellen Zirkel ohne Kontakt miteinander, ohne Kenntnis voneinander, und ihr Operationsziel bestand im wesentlichen darin, sich der Zugriff der Geheimen Staatspolizei zu entziehen und für die Stunde der Freiheit bereitzuhalten. In dieser Stunde aber, die nicht ihnen, sondern den alliierten Armeen gehörte, wurden sie oft genug zur Seite geschoben.

Die österreichischen wie auch die deutschen Hitler-Gegner haben mehr passiv gelitten als aktiv geleistet, denn es fehlte ihnen das Einverständnis der Massen. Während sich die Widerstandskämpfer in Ländern wie Frankreich oder Jogoslawien auf die Bevölkerung verlassen konnten und breiteste Unterstützung fanden, konnten sich deutsche und österreichische Widerständler vor allem darauf verlassen, verraten zu werden, sobald sie versuchten, die Isolation im engsten Kreis Gleichgesinnter zu durchbrechen. Breitenwirkung erzielten sie nur durch die Beispielhaftigkeit und Signalwirkung ihres Opfertodes — man denke an die Gruppe der Weißen Rose in München.

Österreichs vielzitierter eigener Beitrag zu seiner Befreiung konnte daher nicht sehr groß sein. Aber er war unzweifelhaft vorhanden. In den ersten zehn Nachkriegs jähren wurde er vom offiziellen Österreich äußerst zwiespältig behandelt Er wurde außenpolitisch hinauf-, innenpolitisch aber heruntergespielt. Letzteres begann bald nach der Euphorie der Befreiten, die sich schnell als eine Euphorie der Davongekommenen erwies.

Österreichs eigener Beitrag zu seiner Befreiung war, oder schien zumindest, von großer Bedeutung für unsere Ausgangspositionen beim Ringen um einen Staatsvertrag zu sein. Unmittelbar nach dem Krieg, als Österreich größten Wert auf den Nachweis legte, es habe den von den Alliierten ausdrücklich geforderten „eigenen Beitrag zu seiner Befreiung“ wirklich geleistet, wurde daher ein offizielles „Rot-weiß-rot-Buch“ herausgegeben, das allerdings nur einen sehr kleinen Teil dessen enthielt, was zu diesem Thema zu sagen wäre. Deshalb prangen auf dem Umschlag in, wie ich mich zu erinnern glaube, roter Schrift die Worte „Erster Teil“. Ein zweiter Teil ist niemals erschienen.

Die Alliierten gerieten einander in die Haare, ehemalige SS- und Gestapoleute waren plötzlich wieder gut zu gebrauchen, und die moralischen Prinzipien, in deren Namen Zehntausende von Österreichern Widerstand gegen Hitler geleistet und Tausende dafür mit dem Leben bezahlt hatten, gerieten mit größter Plötzlichkeit in Vergessenheit. Damit aber verlor auch das offizielle Österreich schlagartig jedes Interesse an den Widerstandskämpfern, und die offizielle, zusammenfassende Darstellung des Widerstandes gegen Hitler in Österreich blieb ungeschrieben.

Heute wissen sogar in Wien viele Leute mehr über die Männer, die Paris oder die Kunstschätze von Monte Casino vor der Zerstörung gerettet haben, als über jene, denen sie es verdanken, daß Wien ausgedehnte Zerstörungen erspart blieben: Szokoll, Käs, Biedermann, Huth, Raschke und so weiter. Aber auch in Westösterreich waren Widerstandskämpfer aktiv und erfolgreich. Der spätere Nationalratsabgeordnete Albrecht Gaiswinkler springt nachts mit dem Fallschirm über seiner Heimat, dem Ausseer Land, aus einem englischen Flugzeug, um den Widerstand in der Endphase des Krieges zu organisieren. Er war für diese Tätigkeit in Großbritannien ausgebildet worden und hatte bei einem Übungsabsprung einige Monate vorher fast das Leben eingebüßt: der Fallschirm öffnete sich zu spät und Gaiswinkler erlitt Verletzungen, die ihn für Wochen ans Bett fesselten. Sein nächtlicher Sprung ins Ungewisse war wesentlich gefährlicher, ging aber glatt. Gaiswinkler landete in der Umgebung von Alt-Aussee und baute dort eine Widerstandsgruppe auf, die nicht nur wunderschöne „echte“ Sonderausweise besaß, die jedem deutschen Offizier Respekt einflößten, sondern seine, Leute erbeuteten sogar einen deutschen Panzerspähwagen und verdeckten das reichsdeutsche Balkenkreuz mit einem rot-weiß-roten Emblem. Es war der einzige Panzerspähwagen und bei weitem die schwerste Waffe, die österreichische Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg besessen haben, und er stiftete in entscheidenden Kampftagen hinter der in Auflösung begriffenen deutschen Front erhebliches Durcheinander.

Auch in Tirol waren, als Wien längst befreit war, österreichische Patrioten noch am Werk; es gelang ihnen beispielsweise, den Innsbruk-ker Sender in die Hand zu bekommen, und in den Stunden vor dem Einrücken der Alliierten der Bevölkerung sowie den Wehrmachtsangehörigen Verhaltensanweisungen zu geben. Man wird in diesem Frühling 1975, dreißig Jahre nachher, in Tirol wohl wenig über diesen, Österreichs eigenen, Beitrag zu seiner Befreiung hören. Der gefürchtete Gauleiter Hofer, der von der geplanten Senderbesetzung Wind bekommen und ahnungslos die bereits von den Widerstandskämpfern übernommene Station angerufen hatte und beruhigt worden war, es sei schon alles in Ordnung, hat noch vor zehn Jahren von sich reden gemacht, als er in der Bundesrepublik erklärte, er sei und er bleibe Nationalsozialist. Tiroler Zeitungen wagen es auch heute noch nicht, eine Todesanzeige, in der einer von jenen, von denen Tirol und Österreich damals befreit wurde, 'als „aufrechter Tiroler“ gerühmt wird, zurückzuweisen ...

Nicht nur Tirol, ganz Österreich verleugnet seine Patrioten. So, wie zwar der erste Teil eines Rot-weiß-rot-Buches erschien, niemals aber ein zweiter, so bastelte Österreich damals bekanntlich auch ein Alibi-Gesetz, das Auszeichnungen für jene vorsah, die sich um unseren eigenen Beitrag zu unserer Befreiung verdient gemacht hatten, vergaß aber auf die notwendigen Ausführungsbestimmungen. Keine österreichische Regierung nahm einen jener „runden“ Gedenktage, nahm das Jahr 1955, nahm den Staatsvertrag oder das Jahr 1965 zum Anlaß, dieses beschämende Versäumnis nachzuholen, so daß es schwerfällt, solches der gegenwärtigen Regierung zum Vorwurf ztf machen. Allerdings muß 1975, drei Jahrzehnte nach dem Ende der blutigsten Despotie, die Menschen je über Menschen errichteten, doch gesagt werden, daß Österreichs jetzige Regierung unsere seit jeher schleichende Vergangenheitsbewältigung mit besonderer Abruptheit beendet hat. iptG

Aber die Tatsache, daß Österreichs Widerstandskämpfer in der Stunde der Befreiung zur Seite geschoben und am Wiederaufbau dieses Staates nur in Ausnahmefällen beteiligt wurden, hat tiefere Gründe als diesen früh zutage tretenden Opportunismus. Es entstand sehr bald nach der Befreiung, schon in den ersten Wochen, ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen „Widerstandskämpfern“ und „KZlern“, zwischen jenen, die ihr Weltbild, ihr Selbstverständnis und 1 ihre politischen Vorstellungen im Krieg und im Widerstand gegen Hitler erworben und jenen, die sie bereits vor dem Krieg in der politischen Arbeit iri^en'^Parteieri''geformt hatten. Die Stunde Null mag die Stunde der Widerstandskämpfer gewesen sein — die Stunde Eins war bereits die Stunde der Politiker, die den Krieg in den Konzentrationslagern oder im Hausarrest überlebt hatten.

Und man kann heute sagen, daß Österreich mit ihnen sehr gut gefahren ist. Dieses Österreich, das sich vor 30 Jahren aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges und der Hitler-Diktatur erhob, sah zwar anders aus, als es sich politisch wenig oder gar nicht erfahrene Idealisten erträumt haben mögen. Aber es sah auch anders und sehr viel besser aus, als zu erwarten war, wenn man bedenkt, daß die politischen Kräfte, die nun diesen Staat übernahmen, noch genau elf Jahre vorher in einem blutigen Bürgerkrieg gegeneinander angetreten waren.

An diesem dreißigsten Geburtstag der Zweiten Republik sollten wir uns darauf besinnen, daß der Österreicher als der geborene Nörgler, der er war, ist und bleiben sollte, in den vergangenen dreißig Jahren vor lauter Nörgeln eigentlich nicht dazu gekommen ist, sich der Positiva seiner Nachkriegsexistenz bewußt zu werden und über das Wunder der österreichischen Existenz zu staunen. Denn Österreich ist eines der wenigen Ländern auf der Welt, die es verstanden haben, aus ihrer Geschichte zu lernen. Als sich unserem Land 1945 die Chance eines Neuanfanges, einer Stunde Null, bot, verstand es, die schwerwiegendsten Fehler der Ersten Republik zu vermeiden — in einer Welt, die ihre schwerwiegendsten Fehler ad infini-tum zu repetieren pflegt.

Der Staat, der 1945 nach sieben Jahren Nichtexistenz wieder gegründet wurde, fand in seiner Geschichte wenig Positives, worauf er in der konkreten Situation, in der er sich befand, zurückgreifen konnte, dafür aber eine ganze Reihe gefährlicher Handikaps.

Österreichs Parlamentarismus hatte bereits vier Jahre vor der Besetzung durch Hitler zu bestehen aufgehört.

In keinem der beiden großen Lager gab es das unangefochtene Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie als Grundlage unserer österreichischen eigenstaatlichen Existenz.

Bis 1938 hatten sich die Österreicher als verlorenes Überbleibsel der Donaumonarchie empfunden. In den Jahren der Ersten Republik gelang es diesem Land nicht, eigenstaatliches Selbstbewußtsein und Vertrauen in seine eigene Lebensfähigkeit zu entwickeln.

Die beiden Großparteien waren durch tiefe Gräben voneinander getrennt. Haß und Mißtrauen kennzeichneten das Verhältnis zwischen Konservativen und Sozialisten bis tief in die Ära des Nationalsozialismus hinein, in manchen Emigrationsländern fast (oder überhaupt) bis Kriegsende. Daran ist ja auch ein substantiellerer Beitrag Österreichs zu seiner eigenen Befreiung gescheitert.

Welchen Faktoren verdanken wir

es, daß Österreich 1945 nicht nur von der deutschen Besetzung befreit und als Staat wieder errichtet wurde, sondern diese Chance auch zu einer Umkehr aus allen Sackgassen seiner kurzen Geschichte als Rumpf-Nationalstaat, zu einem echten Neubeginn, zu nutzen verstand? Welche Lernprozesse schlugen sich plötzlich in einem neuen Verhalten nieder? Woher eigentlich der heute nicht und von keiner Seite mehr anzweifelbare Wille beider Großparteien, zunächst einmal zusammenzuarbeiten und später, in der Phase der Alleinregierungen, strikt die demokratischen Spielregeln oder zumindest doch die Verfassung zu beachten? Ist uns die Vernunft vom Himmel in den Schoß gefallen?

Welches war der Faktor x, der sich in der Stunde Null der Zweiten Republik plötzlich so massiv bemerkbar machte? In unserer Zeitgeschichtsschreibung wurde vielleicht bisher der Frage zuwenig nachgegangen, welche Ansätze es vor 1938 zu dem gab, was seit 1945 realisiert wurde. Wenn es sie gab — wer waren dann die „Träumer der österreichischen Demokratie“ vor 1938? Sie sind unserem Bewußtsein so gründlich entschwunden wie die Widerstandskämpfer.

Ein Punkt, an den heute in beiden Großparteien viele nicht mehr sehr gerne erinnert werden, das ist die Bedeutung der großen Koalitionen für Österreichs innenpolitischen Demokratisierungsprozeß nach 1945. Zwei mächtige Faktoren, welche diese großen Koalitionen begünstigten, ermöglichten, zum Teil erzwangen, sind uns bewußt: Einerseits der Druck der Besatzungsmacht im Osten Österreichs, deren politischen Umgestaltungswünschen wohl nur im engsten Zusammenwirken der beiden großen Parteien begegnet werden konnte. Anderseits die vielbeschworene KZ-Kameradschaft der führenden Politiker, die einander unter dem Druck der dort herrschenden Verhältnisse über alle Trennungen hinweg schätzen und verstehen gelernt hatten. Eine Frage, die zu beantworten wäre: Gab es ein Drittes, gab es verdrängte Vorkriegs-Programmie-rungen in Richtung auf Zusammenarbeit?

Man kann jedenfalls nicht oft genug daran erinnern, welche Bedeutung unsere Nachkriegs-Koali-tionen für unseren Demokratisierungsprozeß hatten — und zwar genau in der Form, in der sie realisiert wurden. Als Josef Klaus seine erste Alleinregierung bildete, wurde dies in beiden Lagern halb als Schock, halb als Erlösung empfunden, und Kreiskys absolute Mehrheit war auch in der ÖVP vielen klugen Köpfen wesentlich lieber als eine Neuauflage der großen Koalition. Denn diese wurde in ihren letzten Jahren nur noch als ein Prokrustesbett empfunden, sie war längst vom notwendigen Übel zur üblen Notwendigkeit und zuletzt nur noch zu einem Übel geworden. Grenzenloser Überdruß an der großen Koalition hat ihre gerechte historische Beurteilung bis heute verhindert.

Langsam aber wird die Zeit reif, zu erkennen: Österreich verdankt die Unangefochtenheit und Sicherheit seiner Demokratie nicht nur der großen Koalition „an sich“, sondern gerade jenen Organisationsformen der großen Koalition, die später am drückendsten empfunden wurden. Nämlich dem Proporz und den Koalitionspakten.

Das mag etwas ungewöhnlich klingen und muß daher genauer erklärt werden. Aber man vergegenwärtige sich doch, welche Richtung die österreichische Innenpolitik zwangsläufig hätte einschlagen müssen, wenn man sich damals auf eine etwas lockerere Form der Koalition geeinigt, wenn man gar schon damals auf heute im Falle einer Neuauflage möglich und geboten erscheinende „koalitionsfreie Räume“ gekommen wäre. Ein neuer Konfrontationskurs wäre dann wohl unvermeidlich gewesen.

Österreichs Lernprozeß in den ersten zehn Nachkriegsjahren läßt sich auf folgende Formel bringen: Der Clinch als politisches System. Zwei Lager, nach wie vor von tiefstem Mißtrauen gegeneinander durchdrungen und auf Grund von Theorie, Tradition und Mentalität verfeindet, ketten sich so eng aneinander, daß kaum Raum für ernsthafte Auseinandersetzungen bleibt. Wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß jeder einzelne Wahlkampf nach 1945 entgleiste, Und wieviel Haß sich in den Wahlkampagnen von 1945, viel mehr aber von 1949 und 1952 Luft machte, erscheinen die Männer, die ihren Parteien dieses Koalitions-Prokrustesbett gezimmert haben, als Propheten, als Männer, die genau wußten, was drohte.

Der Proporz war unter den damaligen Voraussetzungen nichts anderes als ein Mittel relativ friedlicher Terrainabsteckung, die Alternative wären Postenpositionskämpfe im Freistil gewesen. Mindestens ebensoviele oder noch mehr innenpolitische Konflikte und Zerreißproben blieben Österreich aber durch die Koalitionspakte erspart, die jedes kontroversielle Thema, über das kein Kompromiß erzielt werden konnte, auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Dieser Sankt Nimmerleinstag hat mittlerweile stattgefunden. Der Tag, an dem einer allein entscheiden konnte, worüber sich zwei nicht einigen konnten oder wollten, war der Tag, an dem die selbstaufgelegten Ketten gelöst werden -konnten, weil nun jede Großpartei sicher sein konnte, von der anderen auch im Falle überwältigender Wahlsiege nicht mehr aus dem politischen Leben ausgeschaltet zu werden.

Österreichs Weg vom Kampffeld totalitärer Machtansprüche zum demokratischen Mehrparteienstaat ist um so bemerkenswerter, als es dafür kein Modell gab: Die Auseinanderfesselung der Feinde als Mittel des konsequentesten Friedensschlusses wurde vorher (und auch nachher) niemals versucht. Der Vorgang war so einmalig, daß er bislang nicht einmal von uns selbst durchschaut wurde.

Österreich hat demnach vor 30 Jahren eine Lektion versäumt und eine andere Lektion um so gründlicher gelernt. Die versäumte Lektion betrifft tiefe Schichten unserer Identität. Historische Rückblicke bieten nur den mageren Trost, daß es immer so war: Die Leiden der Gemarterten haben noch niemals Menschen erzeugt. Das Lernen der anderen Lektion aber verbessert die Chancen unserer Menschwerdung.

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