Stunde Null - © Foto: picturedesk.com / Aloha / Interfoto

1945: Die „Stunde null“?

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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bei Weitem nicht alle Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Einigen von ihnen ermöglichte der Kalte Krieg neue Karrierechancen.

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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bei Weitem nicht alle Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Einigen von ihnen ermöglichte der Kalte Krieg neue Karrierechancen.

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Zweiter April 1945. Die Rote Armee rückt mit 400.000 Mann nach Wien vor. Die Stadt wird zum „Verteidigungsbereich“ erklärt. Zwanzig Tage, vom 3. bis zum 23. April, dauert die Schlacht um Wien zwischen Roter Armee auf der einen und abgekämpften deutschen Soldaten, rasch angelernten Zivilisten vom Volkssturm und Hitlerjungen auf der anderen Seite. Die Moral ist auf dem Tiefpunkt angelangt, doch einzelne Fanatiker gibt es immer noch. Die SS knüpft die drei Wehrmachtsoffiziere Biedermann, Huth und Raschke öffentlich auf, die Wien den Russen übergeben wollten, um weiteres Unheil abzuwenden.

Als die Sowjets bereits Wien einnehmen, spucken in anderen Teilen Österreichs noch die Gauleiter und andere NS-­Bonzen große Töne, ehe sich viele von ihnen selbst fluchtartig nach Wes ten absetzen, um den Russen zu entkommen. Einige von ihnen flüchten sich in die „Alpenfestung“ nach Tirol und ins Salzkammergut, die indes eine reine Propagandalüge der Nazis ist, um die (westlichen) Alliierten mit der Mär einer angeblich undurchdringlichen Verteidigungsstellung samt sagenhafter Wunderwaffen in den Bergen zu verwirren.

Einzelne führende Nationalsozialisten wie der später als einer der Hauptkriegsverbrecher hingerichtete Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), der Österreicher Ernst Kaltenbrunner, machen sich noch Illusionen, sie könnten mit den Amerikanern über ein Bündnis mit einem NS­geführten Österreich verhandeln und schicken Emissäre zum amerikanischen Geheimdienst in die Schweiz. Auf dieses groteske Angebot werden die USA nicht eingehen, stattdessen aber den einen oder anderen zeitweiligen „Bewohner“ der Alpenfestung wie den Raketentechniker Wernher von Braun in ihre Dienste nehmen.

Nicht schuldig!

„Glauben Sie, dass das ganze österreichische Volk am Krieg mitschuldig ist, weil es eine Regierung an die Macht kommen ließ, welche die Welt in einen Krieg stürzen wollte?“ Auf diese Frage eines US­Meinungsforschungsinstituts antworteten im Dezember 1946 in Österreich vier Prozent mit „Ja“, 15 Prozent mit „teilweise Ja“. 71 Prozent sahen „überhaupt keine“ Mitschuld, zehn Prozent enthielten sich der Meinungsäußerung. Freilich gab es manche Österreicher wie Deutsche, die nach dem Ende des Dritten Reiches der Meinung waren, dass die „Sache selbst“ ja gar nicht so schlecht gewesen wäre, wenn Hitler nur „das mit den Juden weggelassen“ hätte.

Welcher Unsinn das war, musste man ihnen erst erklären, und das ging nicht von heute auf morgen. Den wenigsten Menschen war in den späten 1940er Jahren die Gesamtschau auf das NS­System oder gar die Sicht von außen möglich. Die letzten Jahre hatte man mehr oder weniger folgsam diktatorischen Meinungsmonopolisten gelauscht, deren Wege allesamt ins Verderben geführt hatten. Mochte man sich auch davon befreit fühlen, war man doch ebenso der alliierten Informationspolitik gegenüber misstrauisch.

Dass die Gräuel und der Massenmord in den Konzentrationslagern Realität waren, musste die Bevölkerung erst einmal richtig zur Kenntnis nehmen. Das unvorstellbare Ausmaß der Verbrechen war bis zur Befreiung der Konzentrationslager selbst manchen Nachrichtendienstlern der Alliierten unglaubwürdig erschienen, ja einige hatten sie zu Beginn sogar für Produkte der eigenen Propaganda gehalten.

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